Die Theorien und Vermutungen von westlichen Politikern und Medien darüber, was das Kriegsziel von Putin sein könnte, sind ja durchaus unterschiedlich:
erstens einmal die Vermutung, Putin wolle die Sowjetunion wiederherstellen, was hiesse, die Ukraine komplett erobern zu wollen, auch die drei baltischen Staaten (wohl ein Grund, warum das sehr pro-estnische Finnland einen NATO-Beitritt anstrebt).
zweitens die Vermutung, Putin wolle den Ostblock wiederherstellen, also auch Polen, Ostdeutschland, Ungarn, etc. erobern
drittens gibt es die Vermutung, Putin wolle alle größeren ethnisch-russischen Minderheiten außerhalb Russlands in ein militärisch erweitertes Russland integrieren, also insbesondere in der Ukraine, aber auch im Baltikum.
viertens die Vermutung, Putin wolle alle größeren ethnisch russischen Minderheiten außerhalb Russlands in ein militärisch erweitertes Russland integrieren, insbesondere wenn sie benachteiligt und diskriminiert sind, und insbesondere, wenn es relativ gefahrlos möglich erscheint, also zum Beispiel bei Nicht-NATO-Staaten, insbesondere der Ukraine.
Diese Vermutung vier könnte also auch darauf hinauslaufen, dass die jetzt bevorstehende russische Offensive in der Ostukraine die letzte ist, vielleicht verbunden mit einem Rückzug der russischen Truppen aus der Umgebung von Kiew.
Apropos russische Offensive: dass der westchristlich-katholische Papst Franziskus immer nur dann zu einer Waffenruhe aufruft, wenn eine russische Offensive bevorsteht, aber nie dann, wenn eine (west-)ukrainische Offensive bevorsteht, kann man als Zeichen der Parteilichkeit der katholischen Kirche werten, ebenso wie man die Segnungen kroatischer Waffen durch katholische Priester im serbisch-kroatischen Krieg der 1990er Jahre als Zeichen der Parteilichkeit sehen konnte oder musste, dazu mehr später.
Die Eskalationslogik unserer westlicher Medien läuft ja oft darauf hinaus, sich gegenseitig in Vermutungen oder apodiktischen Behauptungen darüber zu übertreffen, wie monströs Putin oder irgendein anderes tagesaktuelles Wirklich-Oder-Angeblich-Monster sei. Was als die Medienfreiheit (zur Desinformation oder zur Irreführung durch verkaufsfördernde Falschvermutungen oder Falschbehauptungen) positiv gesehen werden kann, kann auch als Erschwerung von Friedensverhandlungen negativ gesehen werden. Womit sich die Frage stellt, ob ein von verfälschenden Medien dominierter Staat überhaupt friedensfähig sein könne.
Damit zusammen hängen auch Vermutungen darüber, was Putin eigentlich sei.
Auch hier gibt es ein weites Vermutungs-Spektrum, bzw. Propaganda-Spektrum in den West-Medien, bzw. in der West-Politik, reichend von
erstens) Putin sei ein irrsinniges, gewalttätiges und irrationales Monster (diese Vermutung sichert hohe Verkaufszahlen und hohe Einschaltquoten in den Westmedien, und ist daher besonders beliebt), ebenso wie West-Medien durch Putin-Dämonisierung (wie der frühere US-Aussenminister Kissinger das nannte) von eigenen Problemen im eigenen Land ablenken können. Die Frage, ob Putin ein Kriegsverbrecher sei, könnte aus verschiedenen Gründen wenig bedeutend sein: es wird möglicherweise schwer, ihn zu verhaften. Es wird möglicherweise schwer, ihm nachzuweisen, dass er an Kriegsverbrechen beteiligt war, in dem Sinne, dass er einen Befehl erteilte, der bei Befolgung auf absichtliche Tötung von Zivilisten hinausläuft. Es sei daran erinnert, dass gegen den früheren serbischen Präsidenten Milosevic jahrelang ermittelt wurde, und der Prozess dann im Nichts endete, indem Milosevic eines vermutlich natürliches Todes in Haft in Den Haag starb. In einem Urteil in Zusammenhang mit Serbenführer Karadzic wurde behauptet, dass Milosevic keine Verwicklung in Kriegsverbrechen in Bosnien-Herzegowina nachgewiesen werden könne, was natürlich nicht bedeutet, dass totale Unschuld, inbesondere in Zusammenhang mit den anderen jugoslawischen Kriegen, in die Serbien verwickelt war, vorliegt.
Die Zweitens-Vermutung, Putin sei ein sehr oder relativ rationaler Politiker, der eben entsprechend der russischen Geschichte und Kultur weniger friedensorientiert und weniger demokratisch-gewaltenteilig sei, ist heute im Westen kaum vertreten, bzw. darf kaum mehr geäußert werden, ohne stigmatisiert zu werden, als "Putin-Arschkriecher", als "Landesverräter", als "Feind", etc. So gesehen ist der Westen eben durch den Ukraine-Krieg ähnlich totalitär geworden, wie er das dem Putinismus vorwirft, könnte man polemisch sagen. Dass sogar der verstorbene deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt, der einerseits die NATO-Nachrüstung (Beschaffung von Kurzstreckenatomwaffen) gegen die Sowjetunion angestossen und durchgezogen hatte und andererseits die 30%-Obergrenze für Gas- und Öllieferungen durch einen einzigen Erzeugerstaat (was Russland schaden würde, bzw. geschadet hätte, im Vergleich zu den heutigen 50%, die Deutschland an Gasabhängigkeit von Russland hat, und 80% bei Österreich) vorgeschlagen hatte, in den heutigen Medien als eine Art Putin-Troll und Sowjet-Agent dargestellt wird, passt zu der Kriegslogik und Kriegsrhetorik, die auch in den Westmedien immer mehr dominiert und Falschnachrichten erzeugt.
Ein Abzielen auf Regime-Change in Russland, den man als Konstante des Mainstreams der westlichen Politik der letzten Jahrzehnte vermuten kann, könnte im Resultat sehr blutig und sehr schädlich und auch mit sehr unsicherem Ausgang sein.
Auch die These des "Wandel durch Handel", also die Idee, dass Handel (mit Russland) auch Personenkontakte und Kulturkontakte mit sich bringe, und daher Kulturgrenzen überwinden könne und Kulturen wandeln könne, darf heute im Westen praktisch nicht mehr vertreten werden und ist kaum mehr zu finden. In Österreich scheint der letzte verbliebene Vertreter der "Wandel durch Handel"-These der frühere Wirtschaftskammerpräsident Leitl (ÖVP) zu sein, der für diese Position allerdings in den Medien massiv kritisiert wird. Eine ähnliche heute als extrem pro-russisch kritisierte Position vertrat der frühere deutsche Aussenminister Steinmeier (SPD), und für diese Position wird er heute von konservativen Medien wie der FAZ und von der ukrainischen Regierung scharf kritisiert. Verschwiegen wird dabei oft, dass die SPD nie Kanzlerpartei war seit 2003, dass sie daher nie die Richtlinienkompetenz (die hatte CDU-Kanzlerin Merkel) hatte, und dass gerade diese Kooperationsbereitschaft der deutschen Regierung mit Russland ein Gegenargument gegen die Putin-Propaganda ist, die NATO sei Russland-feindlich gesinnt gewesen. Wenn der Ukraine-Krieg mißbraucht werden kann und auch wird für parteipolitische Spielchen, wenn von Medien der Eindruck erweckt wird, Steinmeier sei der größere Dämon als Putin, dann wird damit der falsche Eindruck erweckt, der Ukrainekrieg sei eigentlich doch kein so vorrangiges und wichtiges Thema. Steinmeier hat sicher Fehler gemacht, aber sich dafür entschuldigt, und die Art und Weise der Kritik an ihn kann durchaus manchmal überzogen erscheinen.
Nun einmal zu einem Phänomen der heutigen Zeit, der starken Betonung der Kriegsverbrechen, wie zum Beispiel vermutlicher Kriegsverbrechen durch die russische Armee, bzw. laut Medienberichten einer burjatischen Einheit in Butscha:
im Journalismus sind Kriegsverbrechen z.B. "Tötung von Zivilisten im Krieg", in der Juristerei wäre die Entsprechung eher die "absichtliche Tötung von Zivilisten im Krieg".
Einige Experten schlagen auch vor, sich auf die Führungsverbrechen zu konzentrieren, also den Aggressionskrieg, bzw. dessen Einleitung. Man könnte in diesem Sinne auch vorschlagen, die Verwicklung einfacher Soldaten oder niedriger Kommandanten in Kriegsverbrechen vielfach in gewissen Umständen milder zu behandeln, um den Widerstand der einfachen Soldaten gegen einen Regime Change zu verringern.
Die Absicht, Zivilisten zu töten, muss bei etwaigen Prozessen auch nachgewiesen werden, also die Medienvermutung oder Medienbehauptung, es handle sich um Kriegsverbrechen und die Existenz getöteter Zivilisten, reicht in den Prozessen nicht aus.
Und auch wenn man dem Kommandanten der entsprechenden Einheit eine Absicht zur Tötung von Zivilisten nachweisen können sollte, so hiesse das noch lange nicht, dass man diese Absicht auch Putin nachweisen könne. Im Gegensatz zur These einer Absicht von Putin steht vielleicht z.B. die Behauptung von Putin in seiner kriegseröffnenden Rede, die Ukrainer seien ein Brudervolk, bzw. mit den Russen ein Einheitsvolk, ein Aspekt, der in den Westmedien und in den Westpolitreden nicht vorkommt. Seltsam ist auch, dass die Kriegsverbrechen von Butscha durch russische Truppen, vielleicht provoziert durch Entscheidung der Kiew-Regierung, nur wenige Tage nach einer Rede von US-Präsident Biden erfolgten, in der er Putin einen "Butcher", also einen Schlächter nannte, eine krass undiplomatische Formulierung, die in der Regel auf totalen Krieg hinausläuft, nicht auf diplomatische Lösung, deren Möglichkeit in den Westmedien von praktisch niemandem mehr vertreten wird. Dass Biden sagte "Dieser Mann (gemeint: Putin) kann nicht an der Macht bleiben", und das sieht so aus, als wäre es vielleicht seit vielen Jahrzehnten Politik der USA, Putin zu stürzen, und die Eskalation der Ukrainekrise der letzten 30 Jahre nur ein Mittel zu diesem Zweck für die USA.
Selbst der westchristlich-katholische Papst Franziskus betonte in seinen Reden die "Freiheit", bedient also ein Narrativ der Kiew-Kriegspropaganda in Kritik am freiheitsfeindlichen Putinismus. Papst Franziskus sagte zwar nicht explizit, dass man die Freiheit der Westukrainer, vielleicht auch die Freiheit der Westukrainer, die orthodoxen, pro-russischen, bzw. russisch-sprachigen Ostukrainer zu diskriminieren, mit Waffengewalt erkämpfen müsse, aber er sagte auch nicht das Gegenteil, dass der Frieden manchmal erfordere, auf Aspekte der Freiheit zu verzichten.
Allerdings gibt auch westchristlich-pseudopazifistische Rhetorik, die für Russland bzw. Putin Stellung bezieht. So gesehen kann man die katholische Einseitigkeit auch als Ausgleich für den Pro-Putin-Religions-Pseudopazifismus betrachten.
In diesem Sinne auch problematisch war der Besuch des österreichischen Kanzlers Nehammer und seiner Frau mit seiner laut Medienberichten starken Betonung des "Kriegsverbrechen"-Aspekts, die die diplomatische Krise zwischen Österreich und Russland verschärfte (die auch mit einem Abdrehen des Gashahns und einer Wirtschaftskrise in Österreich hätte enden können), und vom Kreml als Erpressungsversuch von seiten Nehammer, Putin oder die russische Armee ständig mit dem Kriegsverbrechervorwurf einzudecken, verstanden oder dargestellt wurde. Die Aussage der FPÖ-Abgeordneten Berlakowitsch, man müsse sich auf eine solche Moskau-Reise besser vorbereiten, ist zwar isoliert betrachtet auf ersten Blick zustimmungsfähig, aber mir wäre kein Politiker bekannt, der auch nur entfernt die Kenntnis in Sachen Osteuropageschichte und Kriegsgeschichte hätte, die in diesem Zusammenhang nötig wäre. Und eine Politikerin schon gar nicht, weil das Interesse von Frauen an Kriegsgeschichte um Dimensionen kleiner ist, als das von Männern; in diesem Sinne hat die Begleitung von Katharina Nehammer bei dieser Rede auch potenziell eine Ausrede-Funktion: ihr könne man als Frau keinen Vorwurf machen, keine Ahnung von Kriegsgeschichte zu haben, und Kanzler Nehammer könne man als Mann keinen Vorwurf machen, mit dem Schwanz zu denken, und schlechte Ratschläge seiner Frau nur aus Geilheit oder Ehegründen anzunehmen. So gesehen ein ähnlicher Tefloneffekt wie der Welpeneffekt des ehemaligen Kanzlers Kurz, der mit der "Ihr müsst mir alle Fehler verzeihen, weil ich noch so jung und unerfahren bin"-Taktik jahrelang mit fast allen Fehlern durchkam, bis dann ein Fehler auftauchte, der zu groß war, um durch den Welpeneffekt vertuscht zu werden, die Umfragemanipulation auf Steuerzahlerkosten in der Frage der ÖVP-Obmannschaft und der Kanzlerkandidatur. Nehammer wäre nicht der erste ÖVP-Spitzenpolitiker, der mit dem Schwanz denkt, und damit die Republik ins Unheil stürzt: ein noch krasserer war derjenige des früheren Bundespräsidenten Klestil, der in seinem ersten Wahlkampf mit seiner ersten Frau Edith die FPÖ für koalitionsfähig erklärt hatte, hingegen in seinem zweiten Wahlkampf mit seiner zweiten Frau und wohl auf Verlangen seiner zweiten Frau Margot Löffler die FPÖ für koalitionsunfähig. Ob Klestils sanktionsentscheidendes Versprechen im Telefonat mit dem französischen Präsidenten Chirac auf Druck seiner Ehefrau Löffler erfolgte, dass Schwarz-Blau verhindert würde, wenn Frankreich Sanktionen verhängen sollte, ist unbekannt, würde aber ins Schema passen. Auf jeden Fall führten die Sanktionen nicht zur Beendigung der schwarz-blauen Koalition, weshalb Chirac auf Klestil (nicht auf Österreich, wie zahlreiche Medien fälschlicherweise behaupten) böse war. Damals in früherer Zeit war die ÖVP noch eine demokratisch-pluralistische Partei, in der bedeutende Amtsträger bzw. Parteigranden wie Neisser von einem "beschädigten Präsidenten" sprechen konnten - bei der ähnlich gelagerten Nehammers-Reise ist kein vergleichbarer Fall bekannt.
Generell muss man sagen, dass in heutigen Kriegen die Kriegsverbrechensfrage medial einen viel höheren Stellenwert hat als in früheren Jahrzehnten und Jahrhunderten, was die Funktionalität und die Abläufe in diesem Zusammenhang völlig ändert. Und vielleicht auch Anpassungen des Kriegsrechts nach sich ziehen müsste.
Ähnlich wie in der Quantenphysik laut Heisenberg´scher Unschärferelation die Beobachtung das Objekt der Beobachtung verändert, ist das auch in der Frage der Kriegsverbrechen: wenn diese eine medial derart hohe Bedeutung bekommen, dann kommen völlig andere Aspekte ins Spiel, die die Schöpfer des Kriegsrechts, bzw. des Völkerrechts teilweise gar nicht kannten, und gar nicht in ihren Definitionen berücksichtigten, zum Beispiel die Provokation von Kriegsverbrechen der einen Seite durch die andere Seite, zum Beispiel die Wahrscheinlichermachung von Kriegsverbrechen durch eine interne Dissidentengruppe in der Absicht auf Regimesturz oder Kriegsbeendigung.
Wenn zum Beispiel die ukrainische Regierung, die Kiew-Regierung entscheidet, bzw. ankündigt, Zivilisten, bzw. Ausländer zu bewaffnen, sie aber nicht durch Uniformen zu kennzeichnen, oder die Veröffentlichung dieser Uniformierung unterlässt, dann kann die Absicht dahinter stehen, damit Kriegsverbrechen der russischen Truppen zu provozieren, weil alle Truppen der Welt dann aus Gründen der Eigensicherung gegen optische Zivilisten (also Leute, die auf den ersten Blick wie Zivilisten aussehen, aber nicht unbedingt unbewaffnet sein müssen) härter vorgehen, bis hin zum Kriegsverbrechen, wenn sie triftige Gründe haben, zu fürchten, diese optischen Zivilisten seien bewaffnet. Die Kiewer Entscheidung oder Ankündigung, die im Kriegsrecht vorgesehene strikte Grenze und Unterscheidung von Zivilisten und Kombattanten (also uniform-gekennzeichneten regulären Mitgliedern einer regulären Armee) durch uniformlose Bewaffnung von Zivilisten zu unterlaufen, wäre kriegsrechtlich äußerst bedenklich und möglicherweise eine Art Beitragstäterschaft der Kiew-Regierung zu den Kriegsverbrechen in Butscha. Gerade im Geneva Statement on Ukraine verpflichteten sich alle Parteien, auf Provokationen zu verzichten. Dass Selenskyj damals noch nicht im Amt war, entbindet die Ukraine nicht von den Verpflichtungen des Geneva Statements. So gesehen stellt sich auch im Falle der Ukraine, bzw. der ukrainischen Regierung wegen der Provokationen die Frage der Mitschuld an Kriegsverbrechen der russischen Armee ebenso wie die Frage des Verstosses gegen das Geneva Statement und damit einem etwaigen Völkerrechtsbruch.
Ebenso kann bei der heutigen medial hohen Bedeutung von Kriegsverbrechen rein theoretisch ein mittlerer russischer Entscheidungsträger, also irgendwo zwischen Präsident Putin und dem einfachen Soldaten, der dann am Ende das Sturmgewehr abfeuert, dies in der Absicht tun, damit den Krieg einzuhegen und eigenen Präsidenten zu konterkarieren.
Ebenso kann hinter Kriegsverbrechen eine Drohabsicht stehen, also die Absicht, die Bereitschaft zur Grausamkeit zu zeigen, um damit die andere kompromißbereiter zu machen, in irgendwelchen Verhandlungsfragen, wobei die Ziele dieser Drohabsicht durchaus legitim sein können, aber auch illegitim sein können.
Damit wären wir auch schon bei der Frage der Doppelmoral: während bei der "Shock&Awe"-Strategie der "Koalition der Willigen" im Irakkrieg 2003 weitgehend unhinterfragt blieb, mit wievielen toten Zivilisten, bzw. wievielen absichtlich getöteten Zivilisten dies einherging, wird genau diese Frage heute extrem genau durchleuchtet, was auch damit zusammenhängt, dass die USA ein exzellentes Satellitenüberwachungssystem haben, mit denen sie ihnen ins Konzept passende Kriegsverbrechen von Nicht-NATO-Streitkräften hochspielen können, während niemand sonst auf der Welt ein gleichwertiges Satellitenüberwachungssystem hätte, mit dem er etwaige US-Kriegsverbrechen durchleuchten kann - eine Frage der Parteilichkeit und der Vorurteilsgeladenheit der Weltmedien und der Weltöffentlichkeit. Übrigens ist auch Österreich insoferne kein neutrales Land, als es trotz Neutralität, trotz starker Abhängigkeit von russischem Öl und Gas stark geprägt ist von US-Kultur, in Filmen, Musik, etc., und auch diese starke US-Prägung ist eigentlich ein Anzeichen dafür, dass Österreich, wie eben auch die Huntington´sche Mitgliedschaft in der katholisch-protestantisch-westchristlichen Kultur eine potenzielle Feindschaft zur ostchristlichen Kultur zumindest nahelegt, nicht neutral ist, sondern Kriegspartei. So gesehen war der gescheiterte Auftritt der Nehammers in Moskau eben eine mehr oder weniger logische Folge des Zusammenprallens verschiedener Kulturen, und wegen der Verwicklung des Boulevard-Journalisten Diekmann mit seiner starken Tendenz zur Vereinfachung, Übertreibung, Verfälschung und Skandalisierung aus Profitmaximierungsgründen eben stark scheiternsgefährdet. Aber das völlige Scheitern des Nehammer-Besuch wegen dieser skandalisierenden Polit- und Medienlogik kann auch gesehen werden als Hoffnung für Besserung, obwohl schon der frühere FPÖ-Parteiobmann Jörg Haider von einer quasi unüberbrückbaren Kluft zwischen öffenlicher Meinung und veröffentlichten Meinung ausging, und eine fast völlige Unbelehrbarkeit von Journalisten und Journalistinnen vermutete, indem er auf die Frage, was er seinen Gegnern (auch in den Medien) ins Stammbuch schreiben würde, antwortete: "Gar nix, weil die lernen´s sowieso nie .... oder doch: bleibt so, wie Ihr seid, Ihr habt uns genutzt, danke Euer Jörg"
Aber zurück zu Putin und dem Ukrainekrieg: die durch den jetzigen Westmedien-Kriegszustand beendete frühere Meinungsvielfalt bestand auch darin, dass es Debatten darüber gab, ob Putin ein Vertreter der begrenzten, nicht a priori eindeutig unberechtigten Eskalation sei, oder ein Vertreter der unbegrenzten Eskalation.
Die Frage wird dadurch verkompliziert, dass es in der Politik, insbesondere in Zusammenhang mit dem Krieg, manchmal relativ vernünftig sein kann, eine Madman-Strategie zu betreiben - Putin unterscheidet sich in diesem Punkt vielleicht nicht wesentlich vom früheren US-Präsidenten Nixon, der versuchte, mit einer Madman-Strategie den Vietnamkrieg zu beenden. Madman-Strategie bedeutet in der Politik, dass man der anderen Seite das Gefühl vermittelt, ziemlich verrückt und fast zum Äußersten bereit zu sein, und nur schwer zu besänftigen zu sein.
Und der Ukrainekonflikt schwelt ja schon seit langem, seit vielen Jahrhunderten ist die Ukraine eine westchristlich-ostchristliche Kulturgrenze mit den damit verbundenen Spannungen, die durch Stalins Holodomor, einer wahrscheinlich erzwungenen, wahrscheinlich beabsichtigten Hungersnot in der Westkraine in den 1930er Jahren, von dem unter Historikern strittig ist, ob es ein Völkermord war oder nicht, stark belastet. Eben diese tiefe historische Belastung der Beziehungen zwischen (West-)Ukrainern und pro-russischen Ostukrainern ist auch ein Argument dafür, dass Anerkennung der Gesamt-Ukraine ein Fehler war bzw. wegen fehlender Erfüllung der Anerkennungskriterien (kein einheitliches Staatsvolk) gewesen sein könnte, und ein Argument für eine Teilung der Ukraine. Der Frontverlauf in der Süd- bzw. Ost-Ukraine hat übrigens eine gewisse Ähnlichkeit mit dem, was sich vielleicht ergeben hätte, wenn man eine Teilung anhand des Reziprozitätsprinzips vorgenommen hätte.
Auch parteilich ist natürlich, dass in den Medien immer nur über die Motive Putins vermutet werden darf, während Vermutungen über die Motive des Westens, bzw. mancher Westmotive verpönt sind. So laufen zahlreiche Aussagen von West-Politikern darauf hinaus, dass es eigentlich um Regime-Change in Moskau gehe, und gar nicht um irgendwelche Ukrainefragen, und zwar schon seit langem, nicht erst seit dem erweiterten Ukrainekrieg beginnend mit 24.2.2022.
Auch strittig ist die Frage der Kriegsrechtfertigung allgemein: während in den Westmedien und den Aussagen von Westpolitiker haufenweise Aussagen auftauchen, die darauf hinauslaufen, es handle sich beim russischen Angriff um einen völlig unprovozierten, völlig unberechtigten Angriffskrieg, sind andere Meinungen diktaturähnlich nicht zu finden, beispielsweise die Meinung, es handle sich um eine Überreaktion auf antirussische Diskriminierungen durch die Kiew-Regierung.
Damit zusammenhängend ist auch die Frage der Auslegung der UNO-Charta und des Völkerrechts: während im Kosovokrieg 1999 und im Irakkrieg 2003 in vielen Westmedien und Westpolitstatements und Westvölkerrechtlerstatements die Position stark vertreten war, es gäbe in der UNO-Charta kein allgemeines Gewaltverbot und der Schutz der Menschenrechte rechtfertige eben auch manchmal Kriege im Rahmen der Responsibility to Protect (der Verpflichtung, zu schützen), ist heute in den Westmedien und Westpolitstatements und Westvölkerrechtlerstatements die Position absolut dominant, das Gewaltverbot in der UNO-Charta sei ein absolutes, ausnahmsloses, vielleicht abgesehen von Selbstverteidigung.
Allerdings stellt sich die Frage, inwieweit Putin selbst für diese Doppelmoral im Westen mitverantwortlich ist. Denn auch Putin handelte problematisch, z.B., indem er die Amtszeitbegrenzung der früheren Verfassung der russländischen Föderation erst umging durch Zwischenschaltung einer Medwedew-Periode, und dann völlig aufhob.
Weitere potenzielle erreichte Kriegsziele Putins/Russlands bei einem Offensivenstopp jetzt wären:
.) der höhere Ölpreis bzw. höhere Gaspreis, der Putin/Russland vielleicht in Zukunft noch nutzen kann.
.) bessere Chancen für Putin-freundliche Parteien im Westen
.) der Westen hat sich im Zuge des Ukrainekrieges stark entpluralisiert und stark in Richtung Diktatur entwickelt, was man auch als Normalisierung für den Putinismus sehen kann.
Ein Überziehen der Forderungen durch Russland/Putin würde auch Gefahr laufen, erzielte Erfolge zu verspielen. Auch die derzeit erzielten Erfolge im Südosten der Ukraine, die an der äußersten Grenze des völkerrechtlich vielleicht gerade noch legitimen sind, könnten ohne Kompromißbereitschaft Russlands/Putins mit einem langen und unangenehmen Abnützungskrieg des Westens, bzw. der Ukraine beantwortet werden.
Die sich abzeichnende russische Strategie für den beabsichtigten "Lückenschluss" in der Ostukraine wird scheinbar auf dem massiven Einsatz der Artillerie als Ouvertüre beruhen.
Das mag militärisch kurzfristig sinnvoll sein, es kann aber eine große Zahl von Revanchegelüsten erzeugen, zu einem PR-Nachteil für Putin und Russland werden, und es kann auch Friedensverhandlungen erschweren.
Putin dürfte keine oder wenig Ahnung von den Theorien des Militärstrategen Clausewitz haben, der eine ausgefeilte Theorie mit Kulminationspunkt und Wendepunkt für den zeitmäßig idealen Übergang von Kriegshandlungen zu Friedensverhandlungen hatte.
Zudem wird die bevorstehende Offensive vermutlich im Unterschied zu vorangegangenen äußerst vereinzelten Kriegsverbrechen, die laut Medieneindruck keine Systematik hatten, eine größere Systematik haben, und daher relevanter in Bezug auf die Frage sein, ob Putin selbst kriegsverbrecherisch handelte bzw. handeln wird.
Und es drohen allgemein die bereits erzielten Geländegewinne in der Ostukraine verspielt zu werden, bzw. verspielt werden zu können.
Die Frage der darüber hinausgehenden Strategie ist offen. Ob die russischen Streitkräfte nach der "Lückenschliessung" in der Ostukraine erneut einen Angriff auf Kiew versuchen, ist aus derzeitiger Sicht offen.
Für verschiedene Ziele, wie zum Beispiel einen Abschluss von Friedensverhandlungen und eine Landesteilung, die gemäß dem Reziprozitätsprinzip durchaus eine gewisse Legitimität hätte, wäre ein Ausbleiben eines erneuten Ansturms auf Kiew günstiger.
Putin könnte sich dem Westen gegenüber glaubhafter als friedensorientiert und teilungsorientiert präsentieren, wenn er offen sagen würde, dass eine durch Stalins Holodomor anti-russisch gewordene westukrainische Bevölkerung für die russische Armee schwer zu beherrschen ist. Aber das will er scheinbar nicht, vielleicht um seine eigene Herkunft aus dem KGB herunterzuspielen, vielleicht um das in Russland vorherrschende Narrativ vom angeblich edlen "Antifaschisten und Landesretter Stalin" nicht zu gefährden.
Diese Haltung von Putin lässt auch ein Abzielen auf eine Unterwerfung der gesamten Ukraine möglich erscheinen, so kompliziert diese auch wäre.
Es mag aus friedensverhandlungstechnischer Sicht ein Fehler von Papst Franziskus gewesen sein, das Vorgehen der russischen Armee als "Massaker" zu bezeichnen (er relativierte dies allerdings, indem er sagte, er sei kein Politiker, sondern nur ein Kleriker, was in Anbetracht seiner Medienpräsenz und seiner weltweiten Strahlkraft schon eine Nähe zur Lüge hat, und nebenbei ist Franziskus auch kein Experte für Südosteuropageschichte und Militärgeschichte); es mag ein Fehler von Papst Franziskus gewesen sein, zwar einen Vorschlag zum österlichen Waffenstillstand, der mehr ist als eine Reparatur-, Nachlade und Erholungsphase für den nächsten Kampf, zu machen, aber diesen nicht zu betonen, indem er selbst nach Moskau fährt, und diesen Putin vorschlägt - das sieht ziemlich unglaubwürdig und unernst gemeint aus, nur für die home consumption, den internen Gebrauch, und ohne Konsequenz und Moskau-Fahrt ist dieser Vorschlag auch eher nur Putin-Dämonisierung, und eben Kriegsrhetorik. Die katholische Kirche ist eben wie alle Organisationen primär an Selbsterhalt interessiert, und der Einsatz für den Weltfrieden hat im Vergleich dazu vielleicht eine niedrigere Priorität, insbesondere wenn die Erfolgschancen für eine Friedensinitiative schlecht sind, wenn die Wahrscheinlichkeit, zu scheitern und Mitglieder zu verlieren, größer ist als die Wahrscheinlichkeit, Putin zu einem Frieden bzw. Waffenstillstand zu überzeugen. Jesus sagte zwar "Deine Rede sei jaja, oder neinnein", aber er konnte eben als charismatischer Chefideologe einer kleinen und sehr geschlossenen religiösen Gruppe in einer Radikalität konsequent sein, wie das einem Papst wohl unmöglich ist, dessen weltweites "Gefolge" in einer Kriegslogik gesteuert von Kriegsmedien ist. So gesehen trifft der Viktor-Adler-Spruch "Besser mit den Massen irren, als gegen sie recht zu behalten" wohl auch auf die katholische Kirche zu.
Es mag ebenso ein Fehler von Kanzler Nehammer bzw. seiner Frau (gerade Frauen lehnen den Machismus Putins oft scharf und radikal ab) gewesen sein, in Moskau Putin keine Exit-Option vorgeschlagen zu haben. Es mag weiters ein schwerer Fehler der Beiden gewesen sein, in Moskau Putin nicht vorzuschlagen, dass Österreich in klassisch-österreichischer Manier Blauhelme im Rahmen einer UNO-Mission zur Verfügung stellen wird, um die beiden Konfliktparteien zu trennen, falls Putin sich dazu entscheidet, Frieden zu machen und die vermutlich bevorstehende Offensive zu unterlassen. Es mag ein Fehler der Nehammers gewesen sein, die zweideutige und widersprüchliche Botschaft von Brückenbau und Kriegsverbrechensvorwürfen zu vertreten.
Aber es dürfte der größere Fehler sein, dass Putin den österlichen Waffenstillstandsvorschlag des Papstes zu ignorieren scheint, und nicht als vielleicht letzte Chance zur Selbstneuerfindung und Wiederauferstehung und zum Frieden zu sehen scheint, die mit Ostern durchaus verbunden ist. Vielleicht hat Putin den Unterschied zwischen dem Syrienkrieg und dem Ukrainekrieg nicht verstanden: im Syrienkrieg spielte eine wesentliche Rolle für den russischen Sieg, dass der Westen sich völlig zurückzog, nachdem die vom Westen favorisierten Sekularen von den islamischen Fundamentalisten an die Wand gedrängt wurden. Im (erweiterten) Ukrainekrieg 2022 hingegen engagiert sich der Westen massiver als in allen Vorgängerkriegen, wie Tschetschenienkrieg 2000, Georgienkrieg 2008, erster Ukrainekrieg 2014, Syrienkrieg 2015.
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Das Osterei symbolisiert Wiederauferstehung und Neubeginn und Kursänderung. Eine Symbolik mit einer Friedenschance, die Putin zu versäumen scheint.
Manche Vertreter der russischen Opposition halten es für am wahrscheinlichsten, dass ein führungsgruppen-interner Streit zur Ablöse von Putin führt, und dass dann hinterher Systemlockerungen kommen.
Das könnte dann so gesehen die Wiederauferstehung der Demokratie sein, die Russland in den 1990er Jahren schon einmal hatte, also auch ein österliches Ereignis. Und vielleicht auch in der kurzen Kerenski-Phase 1917, die schon sehr lange her ist.
Medwedew, der schon einmal Präsident war, scheint ein möglicher Kandidat für eine Übergangsphase zwischen Putin und etwas Anderem zu sein.
Das in der westlichen Kriegspropaganda so wichtige Budapester Memorandum von 1994 sah keine Sicherheitsgarantien, sondern nur "Sicherheitszusagen" im Gegenzug dazu vor, dass die Ukraine ihre Atomwaffen aus Sowjetbeständen an Russland übergibt. Die anderen Zusagenmächte waren Großbritannien und USA. Frankreich war aus dem Verhandlungsprozess ausgestiegen, vielleicht, weil die französische Übersetzung falsch war und als einzige von "Sicherheitsgarantien" sprach, nicht von "Sicherheitszusagen".
"Sicherheitszusagen" war ein völlig vager und neuer Begriff, von dem niemand wusste, was er bedeuten soll, während der Begriff der "Sicherheitsgarantie" ein lange Tradition hat, und so gesehen gut definiert ist.
Auch stellt sich die Frage, ob man nicht die clausula rebus sic stantibus anwenden sollte.
Dass spätere westukrainische Politiker Stalins Holodomor so hochspielen würden, und damit das Zusammenleben zwischen (West-)Ukrainern und pro-russischen/russischen Ostukrainern so erschweren würden, war damals 1994 nicht absehbar und vorhersehbar.
So gesehen stellt sich die Frage, ob das Budapester Memorandum überhaupt gilt, oder ob ihm durch das Hochspielen des Holodomor durch die betreffenden (west-)ukrainischen Politiker nicht die Vertragsgrundlage entzogen wurde, weshalb es obsolet geworden sein könnte.
Die clausula rebus sic stantibus (Klausel, dass alles so bleibt) im Vertragrecht hätte bedeuten müssen, dass die westukrainische Politiker den Holodomor nach Memo-Abschluss genausowenig thematisieren, wie das vorher der Fall war.
Da sie das nicht taten, ist fraglich, ob das Budapester Memorandum, das in der westlichen Kriegspropaganda ein so große Rolle spielte, überhaupt Gültigkeit hat. Ebenfalls fraglich aus Sicht mancher Experten ist die völkerrechtliche Bindungskraft, weil es eben "nur" ein Memo ist, und kein "richtiger" Vertrag.
Es ist ein Fehler der Mediendemokratie, dass sie immer dann aufmerksam wird, wenn ein Konflikt die Schwelle zum Militärischen, zum Krieg überschreitet, dass aber das Vorfeld und der Vor-Kriegs-Konflikt (wie hier das Aufgreifen und spaltende Thematisieren des Holodomor durch westukrainische Politiker) meist krass unterbeleuchtet bleibt.
(copyright D. Knoflach)