Die Behauptung des türkischen Präsidenten Erdogan, die deutsche Kanzlerin Merkel verwende Nazi-Methoden, führt zu heftigen Protesten und wurde von Merkel und anderen zurückgewiesen. Erdogan führte nicht aus, was er meine, aber es könnte was Wahres dran sein an seiner Behauptung.
Angela Merkel verwendete des Öfteren die Formulierung, ihre Politik sei alternativlos, beispielsweise bei der sogenannten Griechenland-Rettung, beispielsweise beim Afghanistan-Einsatz, auch noch bei weiteren Gelegenheiten.
Und diese Behauptung, es gebe keine Alternative, die man wählen könne, obwohl ja doch die Demokratie darauf beruhe, dass man wählen kann, hat in der Tat etwas Totalitäres, etwas Nazi-Ähnliches.
Zitat: "Gesetz zur HRE-Enteignung alternativlos"
https://web.archive.org/web/20091212083408/http://www.netzeitung.de/politik/deutschland/1393659.html
Zitat: "Strategie und Ziel des Nato-Einsatzes seien ohne vernünftige Alternative."
(Schäuble ist Merkels Finanzminister)
"Die Rettungspakete für die verschuldeten Staaten bezeichnete Brüderle als alternativlos."
(Brüderles FDP war damals Koalitionspartner von Merkels CDU)
Es gab heftige Kritik an der häufigen Verwendung des Wortes "Alternativlos" durch Merkel und ihre Kollegen.
Auch Thierse und der Merkel-nahe Politologe Herfried Münkler, der Merkel durchaus zustimmend als "Defensivkünstlerin" bezeichnet hatte, bezeichneten die Formulierung "alternativlos" als problematisch. Das Wort "totalitär" oder "totalitarismus-nahe" verwendeten sie aber nicht.
Aber andererseits ist die totalitarismusnahe Redeweise, die nahelegt, es gebe keine demokratische Alternative, daher brauche man auch gar nicht demokratisch zu diskutieren, keine Erfindung von Angela Merkel.
Auch Gerhard Schröder (SPD) hatte die Formulierung in Zusammenhang mit der "Agenda 2010" gebraucht.
Und auch bekannt ist "TINA", die Abkürzung für "There is no alternative", das die britische Premierministerin der 1980er Jahre, Margaret Thatcher, immer wieder gebraucht hatte. Dazu ein alter Artikel aus dem Jahr 1981:
http://www.zeit.de/1981/43/alle-scharen-sich-um-tina
Der Soziologe Helmut Dubiel sah in der Formulierung "alternativlos" ein "technokratisches Weltbild".
https://de.wikipedia.org/wiki/Helmut_Dubiel
Die Globalisierungskritierin Susan George hat dem TINA-Prinzip das TATA-Prinzip gegenübergestellt ("There are thousands of alternatives" ).
https://de.wikipedia.org/wiki/Susan_George_(Politikwissenschaftlerin)
Möglicherweise hat die totalitarismusnahe Formulierung des "Alternativlosen" eine gewisse Neigung dazu, von Regierenden oder Mächtigen verwendet zu werden, hingegen von Oppositionellen, insbesondere von Radikal-Oppositionellen abgelehnt zu werden.
Vielleicht bin ich als Österreicher durch die vielen Nazi-Vergleiche und Hitler-Vergleiche (Haider sei Hitler, Putin sei Hitler, etc.) und die vielen Faschismuskeulen schon derart abgestumpft oder derart cool, dass es mich gar nicht mehr besonders wundert oder ärgert.
Und vielleicht ist das kleine Österreich (achja, Waldheim sei natürlich auch Hitler gewesen) als eine Art idealer Prügelknabe in Sachen Hitler-Vergleich und Nazi-Vergleich und als Staat, in dem Hitler geboren wurde, das ideale und wehrlose Ziel für derartige Hitler-Vergleiche und Nazi-Vergleiche.
https://de.wikipedia.org/wiki/Kurt_Waldheim
(Der ehemalige UNO-Generalsekretär und österreichische Bundespräsident Kurt Waldheim; nach Nazi-Vorwürfen und Kriegsverbrechervorwürfen gewann er zwar die laufende Präsidentenwahl, verzichtete aber auf eine Wiederkandidatur; vielleicht war das das Ziel der Nazi-Vorwürfe)
Und vielleicht ist der Hitler-Vergleich und die Faschismushysterie ja oft nur dazu da, um von den eigenen Fehlern abzulenken.
Allerdings führen diese geschichtsbeladenen Vorwürfe dazu, dass viel Zeit verschwendet wird, viel Emotion hochgefahren wird, die man viel besser gebrauchen könnte für die Lösung von Problemen.
Und vielleicht ist das ja absichtliches Agenda Setting: vielleicht ist die Ablenkung das Ziel dieser Nazi-Vorwürfe.
Auf jeden Fall ist es kurios, dass ich als mögliches Opfer von von Erdogan möglicherweise rhetorisch verursachter Gewalt ihn auf einmal in diesem Punkt verteidige.
Vielleicht sollten Alle etwas cooler sein .... vielleicht laufen sich die Nazi-Vergleiche irgendwann einmal durch eine Art inflationäre Entwertung zu Tode ....
Noch mal Schäuble, der ansonsten durchaus seine Qualitäten hat:
Und einmal Hillary Clinton:
Die Russen würden auf der Krim wie Nazis handeln.
Von den "Hühner-KZ"-Vergleichen, die viele Tierschützer verwenden, gar nicht zu reden.
http://www.mmnews.de/index.php/etc/16884-us-huehner-kz
http://www.gruene-datteln.de/frames/gruenzeug/2-99/huhn.html
Weitere Politiker, die oft mit Hitler oder den Nazis verglichen wurden:
Slobodan Milosevic:
Saddam Hussein:
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13487378.html
Erdogan verglich Netanjahu mit Hitler:
Und Erdogan wurde selbst mit Hitler verglichen:
Vielleicht sollte man sich den Hitler-Vergleich wirklich vorbehalten für Fälle, in denen ein militärischer Regime Change unmittelbar bevorsteht.
In vielen anderen Fällen, in denen ein militärischer Regime Change weit entfernt ist, könnten Hitler-Vergleiche mehr Schaden als Nutzen anrichten, mehr Gesprächsbasis zerstören als Positives bringen.
Ich habe übrigens auch schon Nazi-Vergleiche verwendet, allerdings völlig ohne Bezug auf irgendeine konkrete Person, so gesehen auf Ideologie-Vergleichs-Ebene, nicht auf Personen-Vergleichs-Ebene:
Das Wort "alternativlos" wurde auch zum "Unwort des Jahres" gewählt. Und zwar 2011.