Die heutigen deutschen Umfragen, laut denen die Grünen stimmenstärkste Partei in Deutschland sind, rufen ein altes Zitat von Edmund Stoiber in Erinnerung, der 2002 bei seiner Kanzlerkandidatur gemeint hatte: "Die große Koalition zwischen CDU und SPD führt zum Aufstieg der Extreme und zum Untergang der Mitte".

Dieser Trend, dass große Koalitionen zu einem (teilweise rasanten) Niedergang der beiden ehemaligen Großparteien führen, kann aus österreichischer Sicht absolut bestätigt werden: wenn eine große Koalition zur Wahl antrat, dann waren die kumulierten Verluste oft gigantisch, oft zwischen 10 und 20% der gesamten Wählerschaft.

Wobei es unterschiedlich ist, wer mehr verliert: mal verlor die ÖVP mehr (1990 mit -9.2%), mal die SPÖ mehr (1994 mit -7.9%; damals stellte die SPÖ den Kanzler; so gesehen ein Widerlegung der Kanzlerbonus-Theorie).

Mal verloren beide ungefähr gleich stark: 2008 SPÖ -6.1%, ÖVP -8.4%

1999 verlor die SPÖ 4.9%, die ÖVP 1.4%.

Hingegen konnten die Großparteien Gewinne erzielen, wenn sie die große Koalition sprengten:

1995 gewann die SPÖ nach Neuwahlbeschluss 3.1%, die ÖVP 0.6%.

CC / Bayrische Staatskanzlei https://de.wikipedia.org/wiki/Edmund_Stoiber#/media/Datei:DrEdmundStoiber.jpg

Hatte CDU/CSU-Politiker Stoiber recht, dass große Koalitionen zum Aufstieg der Extreme und zum Untergang der Mitte (also von CDU/CSU und SPD) führen ?

Anders als viele Blogger behaupten, sind es nicht die Personen oder die Politik, die darüber entscheiden, ob Parteien gewinnen oder verlieren; sondern es sind die Koalitionen, die sie eingehen: insbesondere die Große Koalition hat sich als besonders verlustträchtige Konstellation erwiesen.

Besonders absurd wird diese Verlustträchtigkeit der großen Koalitionen, wenn durch einen sogenannten "antifaschistischen Grundkonsens" bzw. dessen Mißinterpretation, z.B. geäußert durch den SPÖ-Bundesparteitagsbeschluss, auf keiner Ebene mit der FPÖ zu koalieren, die große Koalition zum Dauerzustand verbeamtet und verewigt wird und damit auch der Untergang der Großparteien und der Aufstieg der "faschistischen" Parteien.

Frei nach Karl Kraus könnte "Die Psychoanalyse ist die Krankheit, für deren Heilung sie sich hält" könnte man auch sagen: "Die große Koalition ist die Krankheit, für deren heilung sie sich hält".

cc / anonym https://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Kraus#/media/Datei:Karl_Kraus.jpg

Gilt Kraus´ Sager von der "Krankheit, für deren Heilung sie sich hält", auch für große Koalitionen ?

Aus Sicht vieler Wähler ist eine große Koalition eine Parteienfusion, mit der die Ränder der beiden Parteien besonders unzufrieden sind und abwandern. Während nur das Feindbild der jeweils anderen Großpartei die beiden Großparteien zusammenhielt.

Die These von Stoiber kann auch gesehen werden als Bestätigung der William H. Riker-These von den Minimum-Winning-Coalitions, die er 1962 in seinem Buch "The Theory of Political Coalitions" (Yale University Press) vorstellte.

https://en.wikipedia.org/wiki/William_H._Riker

Folgt man der These, könnte es auch ziemlich egal sein, ob Nahles zurücktritt oder nicht, wer ihr nachfolgt oder auch nicht, (genauso wie es ziemlich gleichgültig ist, ob Merkel oder AKK oder sonstwer Kanzler/in einer GroKo ist), weil das Hauptproblem die große Koalition ist, die andererseits heute bei weitem nicht mehr so groß ist wie früher: wird die große Koalition durch Schrumpfung zur kleinen mit knapper Mehrheit, wird sie also selber zur Minimum-Winning-Coalition, so hat sie unter Umständen bessere Chancen auf Stabilität der Wahlenden als große Koalitionen mit großer Mehrheit.

Das gilt allerdings nicht für den Fall, dass sich die beiden Koalitionäre in der Frage, ob AfD bzw. FPÖ regierungsfähig seien, zerkrachen.

Auf jeden Fall wirft die Verlustträchtigkeit großer Koalitionen zahlreiche Fragen auf:

1.) Soll man große Koalitionen überhaupt machen ?

2.) Soll man das Verhältniswahlrecht abschaffen und eine Form des Mehrheitswahlrechts einführen, um große Koalitionen zu vermeiden und die damit zusammenhängenden Umbrüche in der Parteienlandschaft ?

3.) Sind solche Ideen wie "Grundkonsens" oder "Konsensdemokratie" überhaupt anstrebenswert oder führen sie über die große Koalition zum Untergang eben des Konsenses, den die bewahren wollen ?

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