Betrifft: Henryk Broder, „Ich bin für ein modernes Drei-Klassen-Wahlrecht“, Welt, 2.8.2017

Henryk Broder hat Sinn für Humor. Muss er vielleicht auch. Sein Vorschlag für ein modernes Drei-Klassen-Wahlrecht ist in mehrerlei Hinsicht problematisch: erstens dürfte die Unterscheidung der Wähler in drei Klassen, abgesehen davon, dass sie gegen das gleiche Wahlrecht verstößt und somit verfassungswidrig ist, inpraktikabel sein, weil sie zu zahlreichen Abgrenzungsproblemen führt: wenn jemand die Hälfte seiner Wege mit dem Fahrrad erledigt, die andere Hälfte mit dem Benzingetriebenen Auto, in welche Klasse gehört er dann ? Die Radfahrerklasse oder die Autofahrerklasse ?

Auch bei der Unterscheidung nach Alter (dreifaches Stimmrecht im Alter von 18 bis 35, doppeltes Stimmrecht im Alter von 36 bis 60, einfaches Stimmrecht im Alter über 60) könnte problematisch sein. Der Grund ist die Unerfahrenheit der Jugend:

In ihrer Arbeit aus dem Jahr 1999 „Unable and unaware of it“ („Unfähig und sich dessen unbewusst“) beschäftigen sich die Psychologen Dunning und Kruger mit Phänomenen wie Selbstüberschätzung, sie vertreten die These, dass Inkompetenz und diesbezügliche Fehleinschätzung Hand in Hand gehen. Auch wenn es zu verschiedenen Anlässen, z.B. anlässlich der IGNOBEL-Preisverleihung hieß, die Arbeit von Dunning und Kruger sei anwendungslos, so könnte es bei Erst- und Jungwählern (vielleicht sogar insbesondere den männlichen) das Phänomen geben, dass diejenigen Erst- und Jungwähler (eher die männlichen), die ihre Erfahrung und Kompetenz überschätzen, mit Begeisterung und Überzeugung wählen, während diejenigen, die eine eher realistische Einschätzung ihrer Erfahrung haben (vielleicht eher die weiblichen Jungwähler) zum Nichtwählen tendieren. Dunning/Kruger eröffnen ihren Text mit der Beschreibung eines Bankräubers, der glaubte, auf Videokameras unerkennbar zu sein, wenn er sein Gesicht mit Zitronensaft einschmiert.

Die dahinterstehende Frage ist: wenn Jung- und Erstwähler ihre Unerfahrenheit erkennen und nicht wählen, verbessert sich dann die Abstimmungsergebnisqualität ?

Gerade die männlich-dominierte Piratenpartei, selbsternanntes Paradebeispiel der liquiden Demokratie, galt der innerparteilichen Intelligentsia als Beweis für den Dunning-Kruger-Effekt: die vielen Jungwähler, die Anträgen blind folgten, die Delegationsleichen, die Machtkonzentration auf einige wenige Superdelegierte, all das sind Phänomene, warum Abstimmung ohne Debatte einen Widerspruch aus innerem Erfolg und Zuspruch und äußerem Misserfolg verursachen kann.

In Österreich mag dieses Problem besonders dramatisch sein, weil Österreich das Wahlalter auf 16 Jahre senkte, was der frühere ORF-Generaldirektor Gerd Bacher die „Infantilisierung der Demokratie“ nannte. Aber auch außerhalb Österreichs gibt es derartige Phänomene. Dass zum Beispiel sowohl Barack Obama als auch Angela Merkel Anleihen bei der Kleinkindersendung „Bob, the Builder“ („Bob, der Baumeister“) machten und dessen an kleine Kinder gerichtete Slogans „Yes, we can“ („Wir schaffen das“) kopierten, kann auch als Phänomen der Infantilisierung der Demokratie betrachtet werden. Als Motiv für die Senkung des Wahlalters wurde angegeben, dass die Jugend sich stärker um ferne Zukunftsfragen kümmern würde, wie zum Beispiel der Nachhaltigkeit des Pensionssystems, eine Hoffnung, die sich nicht erfüllte. Möglicherweise war insbesondere für die SPÖ ausschlaggebender, dass die Jugend anfälliger für Faschismushysterie ist.

Das BREXIT-Referendum, bei dem den Umfragen zufolge ein vergleichsweise hoher Anteil an Jung- und Erstwählern sich der Stimme enthielt, was laut Theorien den Ausgang entschied, sollte nicht automatisch dazu verleiten, das Stimmrecht der Jungwähler zu erhöhen: das Ergebnis war relativ knapp (52%), und der Streit zwischen Premierminister Cameron und Finanzminister Osborne um die Frage, wie ob Steuern bei einem „Nein“-Ausgang erhöht werden müssen oder nicht, könnte die knapp drei Prozent zum Daheimbleiben bewegt haben, die letztlich abstimmungsentscheidend waren.

Das führt uns zur Problematik der sogenannten Zufallswahlen, bei denen nicht das Thema entscheidet, um das es eigentlich geht, sondern Themen, die mit dem eigentlichen Thema nur am Rande zu tun haben.

Auch wenn sich Broder über Familienwahlrecht und Ähnliches, mit dessen Hilfe unter 18-Jährige Einfluss auf Wahlen bekommen, lustig macht, so waren bzw. sind diese bereits Aktualität: in Österreich erfolgt die Zuweisung der Mandate an die Wahlkreise anhand des Bürgerzahlprinzips, d.h. jeder Wahlkreis erhält soviele Mandate, wie seiner Staatsbürgerzahl (inklusive Kindern und Kleinkindern) entspricht, was dazu führt, dass in kinderreichen Wahlkreisen Mandate „billiger“ sind, in dem Sinne, dass die Parteien weniger Stimmen für ein einzelnes Mandat „bezahlen“ müssen als in kinderärmeren Wahlkreisen.

Ich persönlich vertrete ja die These, dass das Bürgerzahlprinzip von der Absicht der Verfassungsgeber her einen reinen Verhinderungs-Aspekt gehabt haben könnte und Phänomene wie das 1907er Wahlrecht verhindern sollte, bei dem sehr ungleiches Wahlrecht vorlag durch Zuweisung der Mandate an die Wahlkreise. Der Verfassungsgerichtshof machte dann (entgegen der Absicht der Verfassungsgeber?) aus dem Bürgerzahlprinzip ein Instrument zur Überbewertung der kinderreichen Wahlkreise, was damals der ÖVP nutzte (denn diese hatte ihre Hochburgen am Land, wo es damals hohe Kinderzahlen gab). Die Benachteiligung der SPÖ und Begünstigung der ÖVP durch die VfGH-Interpretation des Bürgerzahlprinzips mag eine entscheidende Rolle dabei gespielt haben, dass die SPÖ die Einführung des Mehrheitswahlrechts ablehnte.

Rein theoretisch: wenn man schon eine Unterscheidung in diese drei Altersklassen vornähme, dann erschiene es mir auf Gründen der Kombination aus Erfahrung und Kompetenz naheliegender, der mittleren Klasse doppeltes Stimmrecht zu geben, und den anderen beiden Klassen einfaches.

Bob, the Builder "Yes, we can", die Kleinkinderparole, die Obama verwendete

Bob, der Baumeister mit "Wir schaffen das", deutsche Version der Kleinkinderparole, die "Mutti" Merkel verwendete.

https://www.welt.de/debatte/kommentare/article167290388/Ich-bin-fuer-ein-modernes-Drei-Klassen-Wahlrecht.html

https://de.wikipedia.org/wiki/Dunning-Kruger-Effekt

Zitat: "Als Dunning-Kruger-Effekt wird eine kognitive Verzerrung bezeichnet, bei der relativ inkompetente Menschen die Tendenz haben, das eigene Können zu überschätzen und die Kompetenz anderer zu unterschätzen."

Zitat: „Wenn jemand inkompetent ist, dann kann er nicht wissen, dass er inkompetent ist. […] Die Fähigkeiten, die man braucht, um eine richtige Lösung zu finden, [sind] genau jene Fähigkeiten, die man braucht, um eine Lösung als richtig zu erkennen.“

http://citeseerx.ist.psu.edu/viewdoc/download?doi=10.1.1.64.2655&rep=rep1&type=pdf

http://derstandard.at/2000064604372/Erstwaehler-Studie-Junge-Frauen-sind-politisch-weniger-interessiert

Und das wäre auch eine alternative Erklärung für diese vom angeblichen Qualitätsmedium "Standard" publizierte Studie.

Erstwählerinnen sind nicht politisch desinteressierter als Erstwähler, sondern sie wissen besser bescheid über die eigene Unerfahrenheit als männliche Erstwähler.

https://de.wikipedia.org/wiki/Gerd_Bacher

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Margaretha G

Margaretha G bewertete diesen Eintrag 04.10.2017 23:13:53

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