"Oh, mein Gott !" Ein AfD-Politiker hat wieder den Mund aufgemacht und etwas gesagt, in diesem Fall Alexander Gauland.
Aus meiner Sicht hat er irgendwie recht und auch nicht.
Er hat insofern unrecht, als die deutsche Geschichte nicht immer erfolgreich war. Die Niederlage im ersten Weltkrieg war kein Erfolg; die Niederlage im zweiten auch nicht. Das Scheitern der deutschen Kolonialpolitik auch nicht. Die Auslöschung der Herero auch nicht.
Aber auf der anderen Seite sollte man nicht wegen Hitler und wegen des Holocaust Bismarck, Hegel, Weber, etc. totalverdammen.
Man kann die Gauland-These ja auch als Gegenthese dazu verstehen, dass die Deutschen (und die Österreicher) ein Volk von notorischen oder genetischen Nazis und Wiederbetätigern seien.
Rein von der Optik ähnelt Gaulands "Vogelschiss"-Sager dem Sager "Ich stelle mir mehrere Fragen. Ich behaupte nicht, es habe die Gaskammern nie gegeben. Ich habe mich mit dieser Frage nie ausführlich auseinandergesetzt. Aber ich glaube, dass es nur ein Detail in der Geschichte des Zweiten Weltkrieges ist." von Jean-Marie Le Pen, dem früheren Chef des früheren Front National, der durch seine Tochter Marine Le Pen umbenannt wurde in "Rassemblement National", im Zuge dessen, was die Linke in Frankreich die "de-diabolisation" des Front National nennt. Man könnte natürlich auch "normalisation" sagen, aber das ist wahrscheinlich zuwenig dämonisierend.
Wie auch immer: es geht vielleicht nicht um die Aussage als solche, sondern um die Motive und Hintergründe und Absichten, die dahinter stehen.
Ich als Österreicher und Konsument österreichischer Medien bin ja die frühere Aussage gewohnt, die Wahlerfolge der FPÖ würden damit zusammenhängen, dass das politisch unkorrekte Österreich eine mangelhafte Vergangenheitsbewältigung betrieben habe, im Unterschied zum früher politisch-korrekten Deutschland.
Umso erstaunter war ich, dass das in Deutschland oft die umgekehrte These vertreten wird, nämlich dass wir Österreicher froh sein sollten, dass wir nur sechs Jahre Nationalsozialismus hatten, während die Deutschen 12 davon hatten.
Im Vergleich zum Sowjetkommunismus (von 1917-1991, somit 74 Jahre) sind 6 bzw. 12 Jahre Nationalsozialismus tatsächlich kurz.
Aber es gibt eine andere Aussage von Le Pen, mit der ich vielleicht sogar mehr Probleme habe: "Der Aufstieg an die Macht Adolf Hitlers und der nationalsozialistischen Partei war gekennzeichnet von einer mächtigen Massenbewegung, alles in allem populär und demokratisch, weil sie aufgrund regulärer Wahlen siegte; ein Umstand, der im Allgemeinen vergessen wird." (Bei Gauland gibt es nach meiner ersten Eindruck keinen vergleichbaren Spruch)
Die ganze Weimarer Republik stand ähnlich wie die erste Republik in Österreich unter derart irregulären Umständen, dass man von "regulären Wahlen" oder von "populär und demokratisch" gar nicht sprechen kann.
Stalins Herrschaft in der Sowjetunion war eine Irregularität der Geschichte, der erste Weltkrieg war eine Irregularität der Geschichte gewesen, und auch der Versailles-Vertrag, den man durchaus als Diktat bezeichnen kann, war eine Irregularität gewesen.
Theodor W. Adornos Spruch "Es gibt kein richtiges leben im falschen" könnte man abwandeln zu "Es gibt keine regulären Wahlen bei irregulären aussenpolitischen Umständen".
Es kann prinzipiell völlig verschiedene Motive geben, "Vogelschiss"- oder "Detail der Geschichte"-Sprüche von sich zu geben.
Die Absicht, den Nationalsozialismus zu relativieren, kann eine davon sein.
Die Absicht, gegen eine übertriebene Gedenkkultur zu protestieren, eine andere.
Am Bibliotheksgang der Uni Wien läuft gerade eine Ausstellung mit dem Titel "Shoah - wie war es menschlich möglich ?", die eine aus meiner Sicht problematische Vermischung von Gedenken einerseits und Wissenschaft andererseits darstellt.
Totengedenken beruht auf dem Prinzip "De mortuis nihil nisi bene " ("Über die Toten soll man nur Gutes sagen" ). Die Wissenschaft, insbesondere die Geschichtswissenschaft, beruht, bzw. sollte beruhen auf genau dem gegenteiligen Prinzip: "Man muss die Wahrheit sagen, oder zumindest eine plausible Theorie, wenn schon die absolute Wahrheit unmöglich ist, auch dann, wenn sie ein schlechtes licht auf den einen oder anderen Toten wirft".
Und daher finde ich diese Verquickung von Jad Vashem, von Universität, von Institut für Zeitgeschichte so problematisch.
Eine Stärke vieler Frauen ist ja, dass sie gewisse Dinge besser zugeben können: als Beispiel dafür möchte ich zwei völlig entgegengesetzte Beispiele nennen: die aus einem nazinahen Milieu stammende Elisabeth Noelle-Neumann, mit ihrer Schweigespirale, und die Jüdin Hannah Arendt, die in einem Interview mit Günther Gaus aus dem Jahr 1964 meinte, mit dem Holocaust sei etwas passiert, womit wir alle nicht fertigwerden können.
Bei 41:30 sagt Hannah Arendt: "Hier ist irgendetwas passiert, womit wir alle nicht fertig werden".
Bei 56:35 sagt Arendt: "Fiat veritas, pereat mundus". Das ist genau die auf Spitze gebrachte wissenschaftliche Methode: Man muss die Wahrheit sagen, selbst wenn die Welt deswegen zugrunde geht, selbst wenn Leute sich verletzt und irritiert fühlen.
Wenn man davon ausgeht, dass sie mit "Wir" "Wir Juden" meint, so kann man diese Aussage so interpretieren, dass der Holocaust zahlreiche - ansonsten nüchterne - intellektuelle Juden überforderte.
Hannah Arendt ist ja in vielerlei Hinsicht eine sehr coole Frau, die sich auch wegen ihrer Coolness viel Kritik einhandelte: ihre Aussage, Adolf Eichmann verkörpere die Banalität des Bösen, brachte ihr insbesondere in der jüdischen Community viel Kritik ein.
Und diese Sicht dürfte auch heute noch eine Minderheitenposition sein.
Jedenfalls unterschied sich Arendt mit ihrer Coolness und mit ihrem Sager in "Wir"-Form, von dem gar nicht klar ist, ob sie nicht eigentlich "Viele Juden und Jüdinnen, aber nicht ich" meinte, eindeutig von Leuten wie Daniel Goldhagen, der mit seinem Buch "Hitlers willige Vollstrecker" aus welchen Gründen auch immer (Ernstgemeintheit, tramatische Überforderung, etc.) in eine Art von umgekehrten Rassismus schlitterte.
Apropos Stalin und Holocaust: der Holocaust hatte und hat eine gewisse sprachliche Ähnlichkeit zum Holodomor, zur absichtlich durch Stalin verursachten Hungersnot in der Westukriane, die auch das Verhältnis zwischen Ukraine (insbesondere Westukraine) und Russland nachhaltig belastete und belastet.
Die Verflechtung von ukrainischer und russischer Geschichte macht es auch eigentlich unmöglich, so etwas zu sagen wie Armin Wolf im Putin-Interview: "Ich will über russische Politik sprechen, nicht über ukrainische".
Die Fokussierung auf den Holocaust läuft auch Gefahr, andere Völkermorde aus der Geschichte und aus dem Bewusstsein zu verdrängen, z.B. den Holodomor oder den Völkermord an den Armeniern, und auch das kann man als Verletzung der Gefühle der Angehörigen betrachten.
Der Vogelschiss-Sager ähnelt in gewisser Weise auch dem Spruch des Anschluss-Befürworters Karl Renner aus dem Jahr 1938: "Die Hitlers kommen und gehen - Deutschland bleibt."
Renner - selbst aus den Industriegebieten des Sudetenlands und daher naheliegender Weise in der Nähe deutsch-österreichischem Denkens - übte auch heftige kritik an dem Pariser Vororteverträgen (Versailles, St Germain, Trianon), die mit ihren Reparationsforderungen und mit ihren einseitigen Schuldzuweisungen den Weg zum Aufstieg des Nationalsoialismus und zum zweiten Weltkrieg bereiteten.
Den Vogelschiss-Sager kann man allerdings auch sehen als Kritik an der angelsächsisch dominierten Geschichtsschreibung: der Mainstream unter den Historikern ist, dass Deutschland als Verbündeter des osmanischen Reichs einer der Hauptschuldigen des Völkermords an den Armeniern ist. Dass die Armenier-Frage von Großbritannien und Frankreich auch immer wieder als Hebel benutzt wurde, um die Türkei zu spalten oder zu schwächen, was man als Mitverantwortung dieser Staaten am Völkermord an den Armeniern sehen kann, bleibt im Großen und Ganzen unerwähnt. Sowohl der Völkermord an den Armeniern als auch der Holodomor in der Ostukraine können in gewisser Weise als graduelle Widerlegung der Ausstellungstehse gesehen werden, dass der Holocaust (völlig) präzedenzlos gewesen sei.
Zurück zur Ausstellung an der Uni Wien, die nun auch nicht mehr lange läuft (von 11. April bis 30. Juni):
eine der Schwachstellen ist, dass der erste Weltkrieg und die Vororteverträge völlig ausgeblendet werden. Sowohl John Maynard Keynes als auch der US-Kongress, der die Vororteverträge nie ratifizierte, obwohl US-Präsident Woodrow Wilson sie ca. 10 mal vorlegte, übten scharfe Kritik an diesen Verträgen. Wohl zu Recht, weil sie mit ihren überharten Bedingungen den Aufstieg des Nationalsozialismus beflügelten.
Formulierungen in Ausstellung und Folder verbergen mehr als sie enthüllen: "Zugleich schwächte die Schaffung ethnischer Nationalstaaten den Status einiger europäischer Minderheiten".
Fällt irgendwem was auf an der Formulierung ? Es bleibt völlig offen, wer die Grenzen zog und wer die Staaten schuf, nämlich die Siegermächte des ersten Weltkriegs, insbesondere Großbritannien und Frankreich, weniger die USA, die erst spät eintraten, und denen nach der Version Wilson zahlreiche Geheimverträge von Großbritannien und Frankreich verschwiegen wurden, beispielsweise die Überlassung Südtirols an Italien für den Kriegseintritt.
Was in krassem Widerspruch zum Selbstbestimmungsrecht der Völker stand, das US-Präsident Wilson betont hatte und das auch Eingang in die spätere UNO-Charta fand.
GB und Frankreich waren durch die Schulden schwer belastet, die sie zur Führung des Krieges hatten aufbringen müssen; der erste Weltkrieg machte die lange (bis 1917) vom Krieg verschonten USA zum Hauptgeldgeber.
Ein Ausfall der Kriegsschulden hätte zu zahlreichen Bankkonkursen in GB, F und USA geführt; auch zahlreiche im Besitz von Juden stehende Banken wären davon betroffen gewesen. Die Idee, Deutschland solle alles finanzieren, erschien naheliegend, aber in Anbetracht der Höhe war die Fortsetzung der bisher nach Kriegen gelegentlich geübten Praxis, die Verlierer zahlen zu lassen, eine extrem riskante Sache.
Aber die Ausstellung ist wenigstens so korrekt, Ungarn aus der "Geographie des Mordens von 1942" auszusparen. Im Unterschied zu manchen angeblich oder wirklich Intellektuellen, die in Miklos Horthy einen Nazi-Klon sehen und verschweigen, dass Horthy sich von 1935 bis 1944 weigerte, Juden zu deportieren.
Auch die Fragestellung "Wie war es menschlich möglich ?", ohne eine Antwort zu geben, wie es menschlich möglich gewesen sein könnte, legt die Erklärung nahe, die Deutschen und Österreicher (und vielleicht auch ihre Nachfahren) seien keine Menschen, sondern eine Art genetische Unmenschen und erbliche Nazis.
Diese Rhetorik passt eins-zu-eins zur SPÖ-Wahlkampflinie der letzten Wien-Wahl "Gegen Unmenschlichkeit", die pardoxerweise oder logischerweise nichts anderes zur Folge hatte als die größte schwarz-blaue Mehrheit bei Nationalratswahlen in der Geschichte Österreichs.
In einem Beiblatt zur Ausstellung wird Karl Lueger thematisiert, ohne das Karl Renner thematisiert wird. Was man als durchaus problamtisch finden kann, schliesslich passt es auch zur Politik der SPÖ- bzw. SPÖ-Grün-Stadtregierung, den Lueger-Ring umzubenennen, den Renner-Ring hingegen nicht.