Die sogenannten "EU-Qualitätsmedien" schreiben von einem "Wunderwuzzi" Kurz, von einem "Sensationssieg" der ÖVP, oder ähnlichem.
Aber das ist in vielerlei Hinsicht falsch:
1.) Die ÖVP erreicht 31% und damit eines der schlechtesten Wahlergebnisse ihrer Geschichte.
Der Wahlsieg der ÖVP 2002 von Wolfgang Schüssel lag bei 42% und damit um gewaltige 11% höher. Von absoluten Mehrheiten der ÖVP in früheren Jahrzehnten ganz zu schweigen.
2.) Die ÖVP liegt auch im internationalen Vergleich schlecht, niedriger als die Schwesterpartei CDU/CSU heuer und viel schlechter als CDU/CSU vor fünf Jahren.
3.) Die ÖVP hätte meiner Einschätzung nach bei der schweren Krise bei SPÖ und Grünen diesmal auch Chancen auf 35% oder 38% oder 40% gehabt, aber die ÖVP hat es verabsäumt, die maximale Möglichkeit auszuschöpfen.
4.) Die sogenannten "Experten" in Medien und Politikwissenschaft sprechen von einem genialen, neuen, innovativen Wahlkampf. Aber da ist viel Übertreibung dabei und viel Fehleinschätzung. Der ÖVP-Wahlkampf mit "Veränderung" und "Bewegung" war in vielerlei Hinsicht eine 1:1-Kopie des ersten Obama-Wahlkampfs mit "Change". Beides war unpräzise und liess vieles offen.
Die Obama-Ära, die mit einem Kurz-Wahlkampf-ähnlichen Wahlsieg bei Präsidentschaftswahlen begann, war aber insgesamt betrachtet eine schwere Krise für die Demokratische Partei, der Obama angehört: die Demokraten verloren in der Ära Obama viele Regionalwahlen und Wahlkreise, viele Senatoren und Repräsentanten.
Ähnliches könnte der ÖVP in der Ära Kurz bevorstehen.
Der in vielerlei Hinsicht nichtssagende ÖVP-Wahlkampf, der nur von "Veränderung" und "Bewegung" sprach, ohne zu sagen, wohin, ist eben auch das nicht, was zahlreiche sogenannte "Experten" in Medien und Wissenschaft behaupten: nämlich ein eindeutiges Mandat.
5.) Kurz hat im Moment gute Karten im Regierungsbildungsspiel, aber nur deswegen, weil SPÖ und Grüne ziemlich vertrottelt agiert haben in völlig realitätsfremder Hoffnung auf rot-grüne Mehrheit oder rot-grün-Neos-Mehrheit, während in Wirklichkeit die rot-grüne Summe meilenweit vom Mehrheitsfähigkeit entfernt ist.
Und Kurz hat auch hervorragend gute Karten im Spiel um das Kanzleramt, weil die SPÖ so blöd war, den ziemlich verrückten und für völlig andere Konstellationen, bzw. nur für Wiener Ebene gedachten SPÖ-Bundesparteitagsbeschluss, auf keiner Ebene mit der FPÖ zu koalieren, nicht aufzuheben, wobei Kanzler und SPÖ-Bundesparteivorsitzender Kern eine diesbezügliche Aufhebung beabsichtigt hatte, woran er aber vermutlich insbesondere am Wiener Bürgermeister Häupl und Teilen der Wiener SPÖ gescheitert war.
Mit diesem ziemlich idiotischen SPÖ-Bundesparteitagsbeschluss hat sich die SPÖ auch der Möglichkeit beraubt, es der ÖVP mit gleicher Münze heimzuzahlen und als zweit- oder drittstärkste Partei den Kanzler zu stellen, so wie Wolfgang Schüssel im Jahr 2000. Das heuer wäre ohne diesen Bundesparteitagsbeschluss eine wunderbare Gelegenheit gewesen, sich für Wolfgang Schüssel´s Coup von 2000 zu revanchieren.
Aber die SPÖ setzte auf Druck vermutlich von Häupl und Teilen der Wiener SPÖ auf antifaschistische Hysterie, die weit weniger Zugkraft hatte als erhofft und das rot-grüne Wahldebakel, unter die Drittelminderheit (zumindest auf Parlamentsebene, wenn die Prognosen halten) zu fallen, nicht verhinderte.
Dass die FPÖ sich nun auf den Standpunkt stellt, mit der SPÖ auf keinen Fall koalieren zu wollen, solange der SPÖ-Bundesparteitagsbeschluss, nicht mit der FPÖ zu koalieren, aufrecht ist, ist verständlich und logisch, weil eine konstruktive koalitionäre Zusammenarbeit insbesondere in einer rot-blauen Koalition bei diesem Bundesparteitagsbeschluss gar nicht möglich ist und weil auch fraglich ist, ob die rot-blaue Mehrheit im Parlament überhaupt tragfähig wäre (unter Berufung auf diesen Bundesparteitagsbeschluss könnten SPÖ-Mandatare gegen die eigene Regierung stimmen).
6.) Die ÖVP hat genauso zwei Koalitionsoptionen wie SPÖ oder FPÖ. Die ÖVP hat (im Unterschied zu 2002) heute (wenn die Prognosen bzgl. Mandatsverteilung halten) keine einzige Koalitionsoption mehr als die anderen beiden Mittelparteien.
Die Situation mit drei gleichberechtigten Mittelparteien mit gleichguten Koalitionsoptionen ist genau dieselbe wie vor der Wahl. So gesehen war es gar kein ÖVP-Wahlsieg.
P.S.: ich entschuldige mich für die teilweise undiplomatische Rhetorik. Aber mich ärgern viele Mißstände bei SPÖ und Grünen, die in dieser Wahl voll zum Durchbruch gekommen sind, schon seit vielen Jahrzehnten; und da wird man grantig (für unsere bundesdeutschen LeserInnen:zornig) und die Rhetorik aggressiv und polemisch, vielleicht eher, wenn man(n) ein Mann ist.
P.S.2: Die Linke, also SPÖ und Grüne, wurde vom gigantischen Rechtsruck, der vorhersehbar war, offensichtlich völlig auf dem falschen Fuss erwischt.
Es gibt erstmals in der Geschichte eine schwarz-blau-Neos-Zweidrittelmehrheit auf Parlamentsebene, wenn die Prognosen halten. Das ist die einzige wirkliche Überraschung für mich bei dieser Wahl.