Ein Sprachwissenschaftler hat den Vorschlag gemacht, man solle lügende Politiker bestrafen.
Dabei stellen sich verschiedene Fragen:
1.) Soll man jede Lüge bestrafen ? Die Notlüge genauso wie die böse Lüge ? Die verständliche Lüge genauso wie die unverständliche Lüge ? Die Lüge, um eine Massenpanik zu vermeiden, genauso wie die Lüge, um ein Volk auszuplündern ?
2.) Sind Lügen notwendig in der Politik, um Positives zu bewirken ? Der Sturz eines üblen Diktators wie beispielsweise Saddam Hussein, der zahlreiche Menschen ermorden liess und zahlreiche Kriege begann, kann man durchaus als gute Tat betrachten. Aber was ist, wenn sein Sturz nur durch die Lüge, er würde aktuell Massenvernichtungswaffen besitzen, durchsetzbar ist ? Und müsste man dann nicht auch die Politiker der Aliierten bestrafen, weil auch ihre Kriegspropaganda Lügen enthielt, die notwendig waren, um die Nazis zu besiegen ?
3.) Wieso spricht der Sprachwissenschaftler nur von Politikern, nicht aber von Politikerinnen ?
4.) Was ist mit dem Verschweigen ? Ist das Verschweigen wahlentscheidender Informationen eine Lüge oder ein Vergehen wie in den USA ?
5.) Was genau ist eine Lüge oder ein Vorenthalten wahlentscheidender Informationen ? Hat Trump wahlentscheidende Informationen vorenthalten, weil er Stormy Daniels Schweigegeld zahlte ? Oder hat Trump keine wahlentscheidenden Informationen vorenthalten, weil durch seinen Sager "If you´re a star, you can grab them by the pussy" jedermann ausreichend über seinen Charakter informiert war und die Praxis des Schweigegelds in den USA weitverbreitet ist ?
6.) Wer entscheidet darüber, was eine Lüge ist und was nicht ? Wenn die Regierung oder eine von der Regierung installierte Instanz darüber entscheidet, was eine Lüge ist, könnte es passieren, dass es nie mehr wieder Regierungswechsel gibt.
7.) Es gibt, so könnte man sagen, schon Strafen für Lügen: man nennt sie Wahlen. Jeder Politiker kann behaupten, Politiker des anderen Lagers würden lügen. Und wenn das Wahlvolk das plausibel findet, dann werden sich entsprechende Mehrheiten ergeben.
8.) Will das Volk (insbesondere Jungwähler) belogen werden ? Gusenbauers Wahlversprechen der Studiengebührenabschaffung 2006 war ziemlich gewagt und es war höchst unwahrscheinlich, dass es erfüllt werden kann, weil das extrem hohe Gewinne für SPÖ oder Rot-Grün erfordert hätte. Würde eine Bestrafung von Lügen oder ein Versprechen durch eine wie auch immer geartete Instanz nicht dazu führen, dass die Wählerinnen und Wähler sorgloser und verantwortungsloser werden und sich weniger den Kopf darüber zerbrechen, ob Politiker nach der Wahl ihre Versprechen auch einhalten, wenn es eine Instanz gibt, die Lügen und Versprechensbruch bestraft ? Ähnlich wie dem "Moral Hazard" in der Versicherungsbranche, das darauf hinausläuft, dass Menschen sich umso riskanter verhalten, je besser sie versichert sind.
9.) Erzeugt unser Wahlsystem politische Lügen und falsche Versprechungen ? Bei uns überwiegt eine Art "Winner takes all"-System: wer 50% plus eine Stimme hat, kann regieren, wer 50% minus eine Stimme hat, muss fünf Jahre lang opponieren.
Diese extreme Abhängigkeit vom Wahlergebnis führt zu Lügen und falschen Versprechungen. In manchen Österreichischen Bundesländern (z.B. OÖ, Stmk) gibt es ein anderes System: die Allparteienregierung oder Proporzregierung, die oft auch als Konensdemokratie bezeichnet wird. Lügen oder falsche Versprechungen machen bei einer Allparteienregierung vergleichsweise wenig Sinn, weil man durch Lügen oder falsche Versprechungen maximal ein Landtagsmandat oder einen Landesrat gewinnt, aber nicht die gesamte Regierungsbeteiligung, alle Landesräte, etc. So gesehen müsste man eigentlich das Wahlsystem "bestrafen" oder ändern, und nicht die Politiker.
10.) Müsste man die Wähler und Wählerinnen bestrafen, wenn sie auf allzudumme und durchsichtige Lügen hereinfallen ?
Buchempfehlung: J. J. Mearsheimer, "Why Leaders lie"
https://en.wikipedia.org/wiki/Why_Leaders_Lie
Deutscher Titel: "Lüge - vom Wert der Unwahrheit"
Der Titel "vom Wert der Unwahrheit" verleitet mich zu einem Gedankenspiel: eigentlich sollte man lügende Politiker vielleicht belohnen, wenn ihre Lügen positive Folgen haben.
Der lügende Politiker ist vielfach der Inbegriff desjenigen, der Leadership und Verantwortung übernimmt, der die Angst der Bevölkerung vor Veränderung durch seine Lügen und falschen Versprechungen überwindet.
Die Veränderungsaversion und die Angst vor dem Unbekannten und Neuen ist bei großen Teilen des Wahlvolks so groß, dass sie vielleicht gar nicht anders überbrückt werden können als durch Lügen. Eine lügenlose Politik würde daher möglicherweise völligen Stillstand und Stagnation bedeuten.
Das Buch "Why leaders lie" beschäftigt sich sehr intensiv mit der sogenannten "Massenvernichtungswaffen"-Lüge, also der Behauptung, Saddam Hussein habe im Jahr 2003 Massenvernichtungswaffen besessen, was von Bush Jr. und Tony Blair und der Coalition of the Willing als "casus belli" betrachtet wurde, als Kriegsgrund für den Irakkrieg von 2003.
Allerdings konnten nach dem Sieg im Irak und nach dem Sturz von Saddam Hussein keine Massenvernichtungswaffen gefunden werden.
Allerdings war Saddam Hussein ein totalitärer Herrscher gewesen, der zahlreiche Leute ermordete bzw. ermorden liess, bis hin zu Mitgliedern seiner eigenen Familie und der immer wieder Massenvernichtungswaffen einsetzte, z.B. gegen die Schiiten des Südirak und gegen die Kurden des Nordirak. Daher kann angenommen werden, dass Saddam Hussein wieder Massenvernichtungswaffen besorgt oder entwickelt hätte, wenn er (z.B. nach Aufhebung der Kuwaitkriegssanktionen aus dem Jahr 1990) die Möglichkeit dazu gehabt hätte.
CC / comovnhuting / ilopq https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Iraq_Saddam_Hussein.jpg
Saddam Hussein, Diktator des Irak bis 2003: so grausam, dass eine kleine Lüge zu seinem Sturz gerechtfertigt war ?