Martin Luthers "Von den Juden und ihren Lügen" gehört zu den Schriften, die von manchen Exegeten isoliert betrachtet als Beweis für seinen angeblich tief verwurzelten Antisemitismus gesehen werden und die auch hier auf FUF immer wieder als Beweise für den Antisemitismus Luthers und des Protestantismus generell gesehen werden. Eben diese Schriften wurden auch von den Nazis gerne zitiert.
Dabei muss man aber sehr betonen, was die Nazis unerwähnt liessen bei dieser sehr selektiven Interpretation Luthers und seiner Schriften:
Die Nazis liessen erstens unerwähnt, dass Martin Luther diese Schriften (wie z.B. "Von den Juden und ihren Lügen" ) ganz am Ende seines Lebens schrieb, während aus frühen Luther-Zeiten keine derartigen Schriften und Tendenzen, bzw. sogar die genau gegenteiligen bekannt sind. Es stellt sich die Frage, ob Luther seinen herannahenden Tod schon ahnte und als Totgeweihter glaubte, einzig und alleine wegen des herannahenden Todes die Kompromissbereitschaft, die er als Lebender Religionsführer haben hätte müssen, aufgeben zu können. Seine Methode in seiner letzten Vortodesschrift hat so gesehen potenziell etwas von Selbstopferung: die Kritik am Judentum, die er sich als Nicht-Totgeweihter nicht erlaubte, erlaubte er sich in Hinsicht auf seine Todesnähe, in der Absicht etwas Positives durch das Negative zu bewirken, und seine zu Lebzeiten praktizierte hohe, vielleicht zu hohe Zurückhaltung dem Judentum gegenüber korrigieren zu können oder sogar zu müssen. Meine These, dass Luther das nur wegen seiner Todesnähe geschrieben haben könnte, ist die Antithese zur dominanten Lehre unter Protestanten, dass Alles in Ordnung wäre, wenn Luther drei Jahre früher gestorben wäre. Wenn Luther drei Jahre früher die Todesnähe gefühlt hätte, so hätte er meiner Theorie zufolge eben seine Schrift "Von den Juden und ihren Lügen" oder eine ähnliche drei Jahre früher verfasst.
Und die Nazis liessen bei ihrer sehr selektiven Argumentation auch den historischen Kontext völlig ausgeblendet.
Im Laufe des protestantisch-katholischen Konflikts musste Luther vielleicht feststellen, dass seine Versuche, das Judentum zu einer neutraleren Position in diesem Konflikt zu bewegen, gescheitert waren, und dass vielleicht trotz seiner Beschwerden insbesondere jüdische Bankiers fortgefahren waren darin, katholische Herrscher und ihre oft brutal-antiprotestantische Politik, die drastische Maßnahmen vielleicht miteinschloss, zu finanzieren.
Meine These ist: vielleicht war eine unneutrale Rolle einiger Juden (vielleicht das Geldverleihgeschäft und seine weiteren Folgen, der sogenannte "Zinswucher", insbesondere der mit asymmetrischem Zins, nur für Nicht-Juden, nicht für Juden) die Ursache für Luther-Schriften wie "Von den Juden und ihren Lügen", oder für deren Radikalität.
Luther war theologisch kompetent genug, um zu wissen, dass Jesus selbst ein Jude, wenn auch ein irgendwie Abtrünniger, war, und dass auch die Evangelisten Juden gewesen waren. Und seine früheren Schriften sind dafür Beweis genug, oder sollten es zumindest sein.
Daher vertrete ich die Ansicht, dass derartige Luther-Schriften keinen Beweis für intrinsischen Antisemitismus darstellen, sondern möglicherweise eine Reaktion auf das Verhalten mancher Juden darstellten.
Was die Nazis auch außer acht liessen, war, dass Luther lange Zeit das keine Kritik an Juden übte, und dass er sie viel früher geübt hätte, wenn er ein intrinsischer Antisemit gewesen wäre.
Was die Nazis auch außer acht liessen, ist der historische Kontext des innerchristlichen Konflikts. Bereits 1933 kontrollierten die Nazis ein Gebiet, das multireligiös war und sowohl weite protestantische Gebiete im Norden Deutschland als auch weite katholische Gebiete im Süden Deutschlands umfasste. Korrekterweise hätten die Nazis also Luther gar nicht zitieren dürfen, weil anders als im 15. bis 17. Jahrhundert der katholisch-protestantische Konflikt im Nazizeitalter keine Rolle mehr spielte.
Luther daher vorzuwerfen, auf eine Art und Weise formuliert zu haben, die selektiv zitierbar war und verdrehbar war, ist insofern sinnlos, als ein totalitäres System jede oder fast jede größere Schrift selektiv zitieren und dekontexualisiert verdrehen kann. Anders gesagt: selbst wenn Luther auf eine Art und Weise formuliert hätte, die man heute als politischen korrekt einstufen würde, so hätten die Nazis einen Weg gefunden, das so zu manipulieren und verdrehen und selektiv und dekontextualsiert zu zitieren, dass es einen antisemitischen Eindruck macht.
Die Nazis haben auch die Evangelisten und die von ihnen geschilderte Kreuzigung von Jesus, die einige Amtsträger des orthodoxen Judentums forciert hatten, zu Antisemiten umgedeutet und dekontextualisiert und selektiv zitiert, ohne dass man heute den Evangelisten vorwirft, Antisemiten zu sein.
Auch muss man die nationalsozialistische Gesellschaftsstruktur und ihren Totalitarismus mitberücksichtigen: von der Nazisicht abweichende Meinungen zur Frage von Luthers antisemitismusnahen Schriften (wie die meine) konnten im Nationalsozialismus nicht publiziert werden.
Die einseitige und undifferenzierte Interpretation der Luther-Schriften insbesondere im Nationalsozialismus hat also mehr mit dem totalitären Charakter des Nationalsozialismus als mit dem Leben und Werk von Luther zu tun.
So gesehen ist die These, Luther sei eindeutig ein massiver Antisemit gewesen, oder trage die Haupt- oder Alleinverantworuntg für den Holocaust 400 Jahre später, zumindest extrem fragwürdig, auch wegen seiner frühen Schriften.
Vielmehr war Luther ein bedeutender Religionsreformer und er kann mit seinen Religionsreformen eine extrem wichtige Rolle und Vorbildfunktion spielen für eine Reform des Islam und einen innerislamischen Protestantismus, was zahlreiche Juden und Israelis, die unter dem islamischen Dschihad, dem islamischen heiligen Krieg, dessen Opfer Juden wie Christen gleichermassen werden können, als sehr positiv empfinden müssten.
Zahlreiche Juden und Israelis könnten vielleicht auch Luthers Position zur Koranverbreitung extrem schätzen: Luther meinte nämlich, man solle den Koran in korrekter Übersetzung und voller Länge ruhig drucken und verbreiten, weil er die Unmenschlichkeit und Bestialität des Islam offenbar macht und eine Abwendung vom Islam oder zumindest eine Festigung des Christentums und eine Immunisierung gegenüber Konversionen vom Christentum zum Islam bedeutet. Eine sehr coole und nüchterne Betrachtung, die sich vom heute hysterischen Rechts-Populismus in Sachen Koranübersetzungen und -verteilungen wohltuend unterscheidet.
So gesehen prognostizierte Luther etwas, das auch Mohammed als Erfahrung gemacht hatte: seine (Mohammeds) frühen Versuche, Christen und Juden gewaltlos und predigend zur Konversion zum Islam zu bewegen, waren allesamt gescheitert und erst diese Scheiternserfahrung bewirkte eine Radikalisierung und Brutalisierung seines und damit des islamischen Denkens bis hin zur Schwertsure 9,5 "Tötet die Ungläubigen, wo auch immer Ihr sie findet", die bis heute Probleme bis hin zum islamischen Terrorismus verursacht.
Auf der anderen Seite war Luthers Verhältnis zum Islam nach dem Motto "Der Feind meines Feindes ist mein Freund" auch fähig zu realpolitischem und strategischem Denken: je mehr katholische Truppen am Balkan in der Auseinandersetzung mit dem Islam gebunden seien, umso weniger müssen die Protestanten in Deutschland fürchten, so seine Einschätzung.
Gerade in der Islamkritik zeigt sich, dass Luther die Katholiken trotz momentaner Kriegszustände als eigentliche Glaubensbrüder betrachtete, und den Katholizismus als das ideologisch, aber nicht geographisch viel geringere Problem als den Islam.
Was auf eine gewisse Weise dem entspricht, was in der Max-Weber-Tradition als protestantischer Pragmatismus und Verantwortungsethik charakterisiert wird, die durchaus im Widerspruch zur Gesinnungsethik stehen darf und soll.
Luthers Islamkritik, die einen viel breiteren Zeitraum einnimmt als die Judenkritik seines letzten Lebensjahres, ist vielleicht ernster zu nehmen als seine im letzten Jahr geübte isoliert betrachtet zu scharfe, aber vielleicht die Zurückhaltung seiner frühen Jahre ausgleichende Kritik. Als genauer Kenner des Koran wusste Luther auch Bescheid über die gemeinsame Opferrolle von Juden und Christen im Koran, wo beide als Dhimmi, als minderwertige und tributpflichtige Monotheisten entweder gerade noch geduldet waren oder Opfer von Islamisierung und Bekehrung durch das Schwert wurden.
https://de.wikipedia.org/wiki/Martin_Luther_und_die_Juden
CC / Martin Luther nach Cranach d.J. https://de.wikipedia.org/wiki/Martin_Luther_und_die_Juden#/media/Datei:Lucas_Cranach_d.J._(Werkst.)_-_Bildnis_des_Martin_Luther.jpg
Im weiteren Sinne Gründer des Augsburger Bekenntnisses und damit des Protestantismus Martin Luther: wirklicher Antisemit oder Kritiker der pro-katholischen Positionierung vieler Juden ?
Auf jeden Fall sollte man die extrem einseitige und selektive Interpretation von Martin Luther im Nationalsozialismus nicht zur alleinigen Bewertungsgrundlage machen.
Und man sollte bei der Rezeption von Luther im Nationalsozialismus auch nicht übersehen, dass zahlreiche bedeutende Protestanten bzw. protestantische Theologen wie Bonhöffer und Barth im Widerstand gegen den Nationalsozialismus standen, und zwar vermutlich auch deswegen, weil die Nazis Luther falsch interpretierten.
P.S.: ich bin sozusagen familiär ein katholisch-protestantischer Bastard mit einem erzkatholisch-tirolerischen Vater und einer Mutter aus einer Familie sächsischer Protestanten, darunter auch Pastoren.
Hier die völlig andere Sicht:
Zahlreiche Theologen und Theologinnen sind vielleicht zuwenig Historiker und zuwenig in der Realität, in der Realität früherer Jahrhunderte lebend. Aus historischer und realpolitischer Sicht ist der Name "Kässmann" irgendwie vielleicht ein sprechender Nestroyscher Name: sie produziert - überspitzt gesagt - fallweise vielleicht Käse (ihr "Beten mit Islamisten" gehört vielleicht dazu), aber man kann es ihr vielleicht nicht einmal vorwerfen, sie ist eine Frau und ihr fehlt das Testosteron, das man vielleicht braucht, um Luther zu verstehen und richtig zu interpretieren.
Martin Luther spielte als politischer Realist in einer völlig anderen Liga, als die friedens- und wohlstandsverwöhnten Theologen und Theologinnen von heute sich das vorstellen können: sein Denken scheint mir bei aller momentanen Schärfe viel eher potenziell unterlegt von einer realpolitischen Sichtweise, die auch Castlereagh und Talleyrand beim Wiener Kongress von 1815 darlegten: "Es gibt keine permanenten Freunde und keine permanenten Feinde, sondern nur permanente Interessen". Das heisst auch: "Protestanten und Juden sind nicht automatisch Freunde", was kein Antisemitismus ist, auch wenn es manchmal so und falsch dargestellt wird.
Der frühere deutsche Kanzler Helmut Kohl (CDU) nannte die Fehlschätzung der verwöhnten Leute von heute, die sich frühere Zustände nicht einmal annähernd vorstellen können und daher zu krassen Fehleinschätzungen geraten, einmal die "Gnade der späten Geburt". Gerade bei Theologen und -innen kommt manchmal auch Geschichtsexpertisemangel dazu.
Aus meiner Sicht besteht ein Unterschied zwischen einem, der ein wirklicher Antisemit ist, und einem, der den angedeuteten Antisemiten nur spielt, um eine andere Konstellation zu erzeugen, auch im protestantisch-jüdischen Verhältnis.
Luthers angedeuteter Antisemitismus war daher möglicherweise ein präventives, säbelrasselndes Signal für die Zukunft: "Noch einmal in der Zukunft so katholikenfreundliches Handeln von Euch Juden, und wir Protestanten können wirklich böse werden"
Nun kann man Herschel Grynszpan so manches vorwerfen, z.B. die Ermordung von Ernst vom Rath, aber sicher nicht, katholische Herrscher finanziert zu haben. Und auch so gesehen ist die INstrumentalisierung von Luther in diesem Zusammenhang durch die Nazis eigentlich unerlaubt gewesen. Auch schien die Frage, ob Katholizismus oder Protestantismus besser sei, bei Grynszpan absolut keine Rolle zu spielen, weshalb der Luther-Bezug keine Grundlage hat.
Und solche Signale hat Luther im Laufe seines Lebens nicht nur gegenüber den Juden, sondern gegenüber vielen Gruppen gesandt, sodass daraus keine oder zumindest keine sonderlich und speziell und ausschliesslich antisemitische Haltung ableitbar ist. Umgekehrt ist das, was die politische Korrektheit heute praktiziert, nämlich von allen harten rhetorischen Linien, die Luther durchzog, immer nur die judenkritische, aber z.B. nie die katholikenkritische zu kritisieren, eine extrem selektive Lutherinterpretation, genauso wie die Nazis das mit Luther machten. Und unter all den Anti-X-ismen, die man Luther bei einiger Interpretativität vorwerfen kann, ausgerechnet den angeblichen Antisemitismus hervorzuheben und alle Anderen zu verschweigen, hat natürlich auch etwas von einem neuen Rassismus, der sich als diesmal philosemitisch-einseitiger Rassismus entpuppen könnte.
Mit einem generellen und kategorischen Antisemitismus hat das nicht unbedingt zu tun.
Ich kann vielleicht nur eine modifizierte Weisheit der Hopi-Indianer empfehlen: "Man muss ein Wolf werden, um einen Wolf zu verstehen". Luther war so gesehen kein Konsensrhetoriker und kein Diplomat, sondern in gewisser Weise ein Kampfrhetoriker mit dem gelegentlichen Hang zur Übertreibung, ein Populist.
Es hängt immer alles davon ab, ob man einen Text inhaltlich oder wirkungsorientiert interpretiert.
Und es stellt sich die Frage, ob das Ziel von Luther nicht etwas ganz anderes war, als die von ihm erwähnte Judenvernichtung, eine striktere Trennung: Luther warf den katholischen Päpsten vor, sie würden eine Situation schaffen, in der ein Christ eher zum Judentum konvertieren würde, und nicht ein Jude zum Christentum.
So gesehen dienen seine Schriften der Trennung, so wie der Zionismus und der Staat Israel einer Trennung von Judentum und Christentum diente, dazu, die Mehrheit in einem Land zu haben.