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Der österreichische Aussenminister (und Ex-Kanzler) Schallenberg (ÖVP) meinte in der für ihn fast schon typisch seltsamen Art und Weise, wir könnten Putin dankbar sein, dafür, dass er uns aus unseren pazifistischen Illusionen aufgeweckt habe, etc.
Das ist nicht die erste seltsame Aussage, die Schallenberg machte - am ersten Tag von Putins Angriffskrieg auf die Ukraine meinte Schallenberg, die territoriale Integrität der Ukraine sei wichtig, nur kosten dürfe sie nichts. Eine Position, die er allerdings wenige Tage danach wieder zurückzog.
Und das mit den pazifistischen Illusionen betrifft wohl nur wenige Länder, insbesondere Österreich. Andere Länder wie die USA, GB, Polen, Lettland, Litauen, Estland, Finnland und insbesondere Ukraine waren schon Putin gegenüber mißtrauisch, als Österreich ihn noch hofierte, Öllieferverträge mit ihm abschloss, und Putin auf Aussenministerinnen-Hochzeiten (Karin Kneissl, FPÖ-nominiert) gerngesehener Gast war.
Und was die sogenannte Wendezeit betrifft, so stellt sich die Frage, ob diese nicht wieder zurückgedreht wird.
In den ersten Monaten des Ukrainekrieges, als Viele der putin-russischen Armee gute Chancen einräumten, die gesamte Ukraine und insbesondere Kiew zu erobern, gab es in der Tat einen Drang zu Veränderung, auch wegen der Gefährdung Polens und des Baltikums.
Aber bereits mit den Erfolgen der ukrainischen Armee in der Herbstoffensive voriges Jahr ergab sich so eine Art Abwendung von der Wendezeit, wie auch der deutsche Militärexperte Masala meinte. Sodass der betreffende Aspekt von Schallenbergs Aussage wie so oft ein Jahr oder mehr verspätet erscheint.
Schallenberg hat recht, dass Teile der Welt den Ukrainekrieg anders sehen als wir.
Die Verurteilung von Putins Angriffskrieg in der UNO war zwar eindeutig: ca. 200 Staaten stimmten einer Verurteilung Russlands zu, nur vier nicht, darunter Nordkorea, Belarus/Weissrussland und Nicaragua.
Aber die Wirtschaftssanktionen gegen Russland wegen des Ukrainekrieges unterstützen viel weniger Staaten.
Manche Staaten wie Indien haben eine Art Mitteposition: einerseits demokratisch und so gesehen pro-westlich, andererseits traditionell Waffenbezieher aus Russland.
Dass Schallenberg gerade das sehr China-geneigte Vietnam, das in dieser Art ziemlich einzig ist, als ein Paradebeispiel dafür erwähnt, dass der Ukrainekrieg in großen Teilen der Welt anders gesehen wird, als in der EU oder in der USA, ist auch eine seltsame Position. Vielleicht meint Schallenberg ja hier gar nicht Vietnam, sondern China, aber traut sich das nicht auszusprechen - schliesslich ist China als einer der "Big Five", der ständigen UNO-Sicherheitsratsmitglieder mit Vetorecht ja möglicherweise auch so mächtig, um Wien und Österreich den UNO-Sitz abzudrehen, falls Österreich sich zu China-kritisch und zu Taiwan-freundlich zeigt. Es ist sehr fraglich, ob Österreich sich nach wie vor weigern sollte, Wahrheiten auszusprechen und Kritik am Kritikwürdigen zu üben, nur um mit aller Gewalt Konferenzstadt und UNO-Sitz zu bleiben. Auch diese Konstanz in der österreichischen Politik, nur sehr verhalten oder gar nicht Kritik zu üben, nur um den UNO-Sitz zu behalten, zeigt auch, dass von Wendezeit nicht viel zu spüren ist, und dass Österreich nach wie vor an einem neutralen Sonderweg festhält, der mit dem Unionsgedanken der EU eigentlich unvereinbar ist.
Dass Schallenberg hier das vergleichsweise kleine Vietnam kritisiert, hingegen das große und problematischere China unkritisiert lässt, sollte gerade Österreich als Kleinstaat, der allzuoft wegen seiner Machtlosigkeit stellvertretend für Andere, z.B. Deutschland, geprügelt/kritisiert wurde, seltsam vorkommen.
Dass Österreich über die EU-Ebene Waffenlieferungen an die Ukraine mitfinanziert, aber sich als Staat Österreich Waffenlieferungen an die Ukraine unter Berufung/Mißbrauch der Neutralität verweigert, gehört zu den klassischen Verlogenheiten und Zwiespältigkeiten der österreichischen Politik, frei nach dem Sager von "Nationaldichter" Grillparzer in seinem Drama "Bruderzwist im Hause Habsburg":
"Das ist der Fluch von unserm edeln Haus:
Auf halben Wegen und zu halber Tat
Mit halben Mitteln zauderhaft zu streben."
Viel eher hätte Schallenberg Brasilien erwähnen können oder sollen, das als Architekt der BRICS (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) jetzt nicht spontan eine anti-russische Position vertreten kann. Europa hätte auch - unabhängig vom Ukrainekrieg - Gründe, sein oftmaliges Fehlverhalten gegenüber Südamerika kritisch und selbstkritisch aufzuarbeiten, aber dazu dominiert der Ukrainekrieg vielleicht derzeit zu sehr.
Und die Abwendung vom Westen hat vielfach andere Gründe als den Ukrainekrieg.
Die Weigerung zahlreicher Staaten, den Forderungen von USA und/oder Europa weitgehend zu folgen, hat weniger mit Sympathie für Putin oder für Putins Ukrainekrieg zu tun, als mit einer gewissen Überheblichkeit, die der Westen in den vergangenen Jahrzehnten der Stärke an den Tag legte.
Dass Putin versucht, diese leicht anti-westliche Stimmung in großen Teilen der Welt für sich und für den putin-russischen Ukrainekrieg zu nutzen, war irgendwie vorhersehbar, aber auch vorhersehbar war das weitgehende Scheitern dieses Versuchs.
Alles in Allem sollten wir Österreicher es lernen, einmal eindeutig Position zu beziehen, und nicht unter Berufung auf die Neutralität ständig unklare und diffuse Zwischenpositionen und Mittepositionen einzunehmen, nur aus Angst heraus, den UNO-Sitz zu verlieren.
Denn schliesslich kann man annehmen, dass es die privilegierte Position Russlands in der UNO war, mit ständigem Sitz im Sicherheitsrat und Vetorecht gegen Alles, die unter Anderem Putin dazu bewegte, die Ukraine anzugreifen. So gesehen absolut kein Grund, auf diesen UNO-Sitz stolz zu sein.
Der Bau der UNO-City damals in den 1980er-Jahren war gedacht als Ersatz für Verteidigungspolitik. Dahinter stand das Kalkül, dass Österreich als bündnisloser Kleinstaat sowieso verteidigungsunfähig ist, und dass zweitens noch nie ein Staat überfallen wurde, der einen UNO-Sitz hatte.
Neutralität soll nicht bedeuten, bei Angriffskriegen und Völkerrechtsbrüchen und Menschenrechtsverletzungen wegzuschauen, um mit allen Seiten, auch verbrecherischen, Geschäfte machen zu können.
Bereits im Vorfeld und am Anfang des Ukrainekrieges hatte Österreich in Europa den Ruf eines quasi "unsolidarischen Arschlochs", das alle völkerrechtswidrigen Angriffskriege tatenlos und kritiklos hinnimmt, nur um an billiges, russisches Erdgas heranzukommen oder Ähnliches.
In einem Punkt hat Schallenberg allerdings recht: Südosteuropa ist nicht Europas Hinterhof, sondern integraler und wichtiger Bestandteil Europas.
Es wäre ihm und der österreichischen Politik zu wünschen, dass er/sie erkennt, dass das auch für die Ukraine gilt. Und es wäre weiters zu wünschen, dass es irgendwann einmal einen österreichischen Aussenminister oder eine Aussenministerin gibt, der/die sich traut, die Ähnlichkeit der Beziehungen Russland-Ukraine und China-Taiwan auszusprechen und die daraus resultierenden russisch-chinesischen Strategien. Xi-Jinping-China betrachtet Taiwan als "abtrünnige Provinz" und "Teil Chinas", ebenso wie Putin die Ukraine als "Teil Russlands" betrachtet, bzw. das ukrainische Volk als Teil des russischen.
Es stellt sich auch übergeordnet die Frage, inwieweit die Schallenberg-Seltsamkeiten symptomatisch für eine schwere ÖVP-Krise sind, die sich auch in zahlreichen Wahlniederlagen der letzten Zeit und in sehr schlechten Umfragewerten widerspiegelt.