Viktor Orban war wenigstens so ehrlich, sein Konzept als "illiberale Demokratie" zu bezeichnen. Aber Prozesse der illiberalen Demokratie finden sich auch in anderen europäischen Staaten, zum Beispiel in Österreich, nicht nur in Orbans Ungarn.

In Österreich ergab sich nach der letzten Wahl eine ÖVP-FPÖ-NEOS-Verfassungsmehrheit, also eine Zweidrittelmehrheit, und aufgrund ihrer Wahlkampfversprechen müssten diese Parteien eigentlich den Wirtschaftstandort in die Verfassung schreiben und dadurch die Demokratie aushebeln.

Der springende Punkt ist: wenn ÖVP-FPÖ-NEOS ihren Wahlversprechen folgend den Wirtschaftsstandort in die Verfassung schreiben, dann sind viele Formen der politischen Tätigkeit sowieso sinnlos, weil es höchst unwahrscheinlich ist, dass das jemals wieder rückgängig gemacht werden kann.

Wer zum Beispiel der Meinung ist, das Chicago-Abkommen mit seiner Steuerfreistellung des Kerosin bei grenzüberschreitenden Flügen sei clausula-rebus-sic-stantibus-obsolet und solle unilateral außer Kraft gesetzt werden, wie ich in meinen früheren Blogs beschrieb, kann dann jederzeit mundtot gemacht werden, mit dem Argument, das sei ein Verstoss gegen die Verfassung und den darin verankerten Vorrang des Wirtschaftsstandorts.

Wir bekommen durch diese angekündigte Verfassungsänderung wahrscheinlich einen großen Teil der Wählerschaft (hauptsächlich potenzielle Linkswähler und -innen), der so politisch apathisch und passiv sein wird, wie man das eigentlich nur aus Diktaturen kennt.

Und diese Entmutigung von Politik, dass man zahlreiche Gruppen, die im Widerspruch zum Verfassungsprinzip Wirtschaftsstandort kommen könnten, von Vornherein signalisiert, sie haben keine Chance auf Mehrheitsfähigkeit, auf Änderung der Verfassung, auf Durchsetzung ihrer Anliegen, hat einen Chilling-Away-Effekt, einen von Politik abschreckenden Effekt, dass das Vertreten von politischen Anliegen im Umweltschutz oder im Arbeitnehmerschutz dann wahrscheinlich sowieso nicht erfolgt, obwohl es mehrheitsfähig wäre, im Sinne von einfacher 50%-Mehrheit, aber eben nicht mehrfähig im Sinne von Verfassungsmehrheit, also Zweidrittelmehrheit.

Österreich wird möglicherweise orbanisiert: die schwere Krise der politischen Linken führt zu rechten Verfassungsmehrheiten, die es der politischen Rechten ermöglicht, die Verfassung und die Spielregeln der Demokratie ausser Kraft zu setzen.

Ich habe früher schon mit dem Auswandern geliebäugelt. Aber möglicherweise ist Auswandern alternativlos, wie Merkel sagen würde, weil Österreich in einem Entdemokratisierungsprozess begriffen ist, gegen den es keine Rechtsmittel gibt.

Die wie oft unfähigen oder unwilligen Medien vertuschten die Umstände und Hintergründe: die bürgerlich-konservative Presse aus ÖVP-Nähe, die SPÖ-nahen oder grün-nahen Medien, um vom völligen Scheitern der Linken abzulenken.

In diesem Zusammenhang fällt auch die völlige Unfähigkeit oder Unwilligkeit, die Lage richtig zu analysieren: die Medien schrieben, der Abgang von Matthias Strolz sei "überraschend", was er gar nicht war.

Die NEOS haben zusammen mit ÖVP und FPÖ das Problem, dass sie einen zu großen Wahlsieg landeten, und ihr vorher von niemandem ernstgenommenes Wahlsprechen, den Wirtschaftsstandort in die Verfassung zu schreiben, tatsächlich wahrmachen könnten und sogar müssten, gemessen an ihren Wahlversprechen.

Die eleganteste und unauffälligste Art und Weise, die eigenen Wahlversprechen zu brechen, ist wahrscheinlich der NEOS-Weg:

Matthias Strolz, der mit diesen Wahlversprechen assoziiiert wird, tritt angeblich "überraschend" zurück, und Beate Meinl-Reisinger übernimmt, weil sie nicht bzw. weniger durch die NEOS-Wahlversprechen im Wahlkampf und auf Parteitagen belastet ist.

Und keiner von den Journalisten oder -innen schreibt oder sagt die Wahrheit darüber.

Politikwissenschaftlich ist das ebenso faszinierend wie als Staatsbürger frustrierend. Dass ein Lager einen zu großen Wahlsieg landet und dann hinterher seine eigenen Wahlversprechen eben deswegen brechen muss, ist eine absolute Seltenheit.

Und es bestätigt auch den Sager des Bundespräsidenten Van der Bellen, viele Wahlversprechen im populistischen Zeitalter seien dermassen blöd und verantwortungslos, dass man eigentlich gar nicht Besseres machen könne, als sie zu brechen.

Der französische Präsident Emmanuel Macron, der versprochen hatte, die illiberale Demokratie in Ungarn zu bekämpfen, müsste eigentlich auch die Tendenz zur illiberalen Demokratie in Österreich bekämpfen und die Tendenz zur illiberalen Demokratie in Frankreich, die seinen eigenen Wahlsieg auch mit einer Zweidrittelmehrheit ermöglichte.

Das völlige Versagen der Medien in Österreich wirft auch eine Art politikwissenschaftliche Problematik auf: Wahlen, so frei und gleich und geheim und allgemein sie auch sein mögen, sind völlig sinnlos und undemokratisch, wenn die Medien versagen, und die Medien falsch oder gar nicht analysieren.

Dass die Demokratie in einer schweren Krise ist, und das weltweit, hängt auch mit der Doppelkrise zusammen: die Kombination aus Finanzkrise und Migrationskrise (speziell in Zusammenhang mit dem Syrienkrieg) könnte eine Art "Game Changer" sein, eine Nemesis, wie ein Riesenkometeneinschlag, der zu einem weltweiten Fallout führt und zahlreiche Tierarten tötet. Ein "Game Changer", nach dem die früheren und gewohnten Spielregeln der Demokratie nicht mehr gelten.

Kurz gesagt: wir haben hier einen völligen Ausnahmezustand. Was an die Aussage des Nazi-nahen Rechtswissenschafters Carl Schmitt erinnert, der meinte, Souverän sei nie das Volk, sondern immer derjenige, der die Macht habe, den Ausnahmezustand zu verhängen.

Oder um noch einmal einen nicht nur, aber auch von den Nazis verwendeten Begriff ins Spiel zu bringen: die Verankerung des Wirtschaftsstandorts als Verfassungsprinzips wäre eine Art "Endsieg" der Rechten, der auch zukünftige einfache Mehrheiten der Linken völlig bedeutungslos macht.

CC BY SA 2.0 / zug. gem. EPP https://de.wikipedia.org/wiki/Viktor_Orb%C3%A1n#/media/File:Viktor_Orb%C3%A1n_2018.jpg

Ungarischer Ministerpräsident Viktor Orban: Vorreiter in Sachen illiberale Demokratie, dem der Rest von Europa folgt, wie Österreich mit seiner ÖVP-FPÖ-NEOS-Zweidrittelmehrheit, die die Verfassung aushebeln kann, und die Demokratie beenden ?

P.S.: Neoliberalismus und Diktatur sind keineswegs Widersprüche, sondern vielleicht sogar manchmal siamesische Zwillinge. Es gibt in der Wirtschaftswissenschaft die Theorie des "wohlmeinenden Diktators". Und laut verschiedenen Theorien entsprach General Pinochet, der eine Zeit lang Chile beherrschte, diesem Konzept des "Entwicklungsdiktators" recht gut.

Gemeinfrei https://de.wikipedia.org/wiki/Augusto_Pinochet#/media/File:Pinochet_crop.jpg

General Augusto Pinochet: chilenischer Militärherrscher von 1973 bis 1990. Seine Regierungszeit wurde durch ein Referendum beendet, was ein einmaliges und ungewöhnliches Ende für einen Militärdiktator bedeutet, der durch einen Militärputsch (nämlich gegen Allende) an die Macht kam.

Laut zahlreichen Medienberichten hat sich Pinochet auch im Falklandkrieg/Malvinaskrieg sehr kooperativ mit Großbritannien verhalten, was zum Untergang der argentinischen Militärdiktatur führte.

Pinochet war absolut ungewöhnlicher Fall im Hinblick auf "neoliberale Diktatur", der trotz Militärputsch in vielerlei Hinsicht nicht dem entsprach, was man unter einem Militärdiktator versteht.

0
Ich mag doch keine Fische vergeben
Meine Bewertung zurückziehen
Du hast None Fische vergeben
0 von 6 Fischen

bewertete diesen Eintrag

10 Kommentare

Mehr von Dieter Knoflach