Das österreichische Parlament scheint ein Exportverbot für Waffen und Dual-Use-Güter (gleichsam "doppelt verwendbare Güter" ) an die Türkei zu beschliessen. Dual Use-Güter sind Güter, die sowohl zivil als auch militärisch genutzt werden können. Es handelte sich - falls die Medienberichte stimmen - um eine Sechs-Parteien-Einigung über einen zukünftigen Beschluss, d.h. alle sechs im Parlament vertretenen Parteien einigten sich darauf, bald dem Antrag zuzustimmen, wie hier oder auch hier im Detail nachzulesen ist.
Auch wenn ich den genauen Antragstext nicht kenne, möchte ich als offensichtlich einzige Gegenstimme in Österreich Zweifel anmelden, ob das vernünftig ist.
Aus folgenden Gründen:
1.) Es handelt sich um ein unilaterales Embargo, d.h. Österreich ist der weltweit einzige Staat, der ein solches Embargo beschliesst. Embargos, die von einem einzigen, noch dazu kleinen Staat getragen werden, beeindrucken wohl niemanden, und schon gar nicht Erdogan. Das kleine Österreich mit seinen 8 Millionen Einwohnern will mit Embargos die Türkei mit 80 Millionen Bürgern in die Knie zwingen ? Unwahrscheinlich. Einige der Befürworter bzw. der Scharfmacher in Sachen Türkeiembargo äußerten die Hoffnung, es werde sich in Zukunft die EU oder die Weltgemeinschaft der österreichischen Vorreiterrolle anschliessen. Dennoch scheint die Europäisierung oder Globalisierung des Embargos kein Endziel zu sein; die Betreiber müssten wohl ehrlicherweise ihre Hintergedanken und Endziele offenlegen. Die Sechs-Parteien-Einigkeit könnte sich so gesehen als oberflächlich erweisen und bei nächster Gelegenheit zerbröseln, wenn es um weitergehende oder präzisierende Schritte geht.
2.) Es könnte genau das Umgekehrte passieren: weil Österreich freiwillig auf ein Geschäft verzichtet, wird es für alle anderen Staaten der Welt ein umso größeres Geschäft, auf das sie umso unwilliger verzichten. Unter den Profiteuren des österreichischen Waffenembargo dürfte bzw. könnte auch Putins Russland sein: wenn Erdogan bzw. die türkische Armee keine österreichischen Steyr SSG 08 Scharfschützengewehre mehr kaufen kann, dann wird er bzw. sie halt vielleicht russische Dragunov-Scharfschützengewehre oder Kalashnikows kaufen. Putin wird wahrscheinlich jubeln über das, was er möglicherweise für die "Dummheit der Österreicher" hält, den Russen ein Geschäft zu überlassen. Mit dem Türkei-Embargo werden also die Russland-Sanktionen gleichsam aufgehoben bzw. abgeschwächt. Es ist sehr schwer, gegen die ganze Welt gleichzeitig Sanktionen zu verhängen. Derartige Maßnahmen, wenn sie nicht global sind, auf breiter Basis, führen oft zu Verbrüderung; anders gesagt, es besteht die Gefahr, dass durch das Embargo eine Verbrüderung bzw. Annäherung zwischen Erdogan und Putin stattfindet.
3.) Österreich war schon bisher auf dem Gebiet der Waffenindustrie ein Zwerg, so irgendwo hinter Platz 50 der weltweit größten Waffenexporteure, während sich zahlreiche andere europäische Staaten unter den Top 20 befinden (wie z.B. Deutschland, Frankreich, Italien, Holland, etc.). Aber das österreichische Embargo bestätigt die in der Politikwissenschaft vertretene These, dass oft die Staaten (rein bzw. mehr oder weniger symbolische) Embargos beschliessen bzw. Vorreiterrollen spielen, die sowieso keine oder kaum (die geringsten) Handelsbeziehungen (in diesem Fall Waffenhandelsbeziehungen oder Dual-Use-Güter-Handels-Beziehungen) haben.
4.) Österreich ist als Hochlohnland ohnehin sehr gefährdet in Hinblick auf Abwanderung von Industrien. Durch dieses Waffenembargo besteht nicht nur die Gefahr, dass österreichische Waffenproduzenten (wie Steyr oder Glock) die Beschäftigenzahl verringern und die Arbeitslosigkeit erhöhen, sondern es besteht zusätzlich die Gefahr, dass sie überhaupt zusperren und in andere Länder abwandern, wo eine weniger (radikal-?)pazifistische Gesinnung herrscht als in Österreich. Und es geht beim Embargo nicht nur um Waffen im engeren Sinn, sondern um Dual-Use-Güter: das sind zum Beispiel Motoren, die man sowohl in Kriegsdrohnen als auch in zivile Mopeds einbauen kann, um LKWs, die man sowohl zum Transport von Betonplatten als auch zum Transport von militärischen Einheiten brauchen kann, etc.
5.) Retaliationsmaßnahmen: bei Embargos und zahlreichen anderen Aktionen sollte man immer mögliche Retaliationsmaßnahmen (Vergeltungsmassnahmen) mitbedenken. Sanktionsexperten behandeln das unter dem Thema "Kontraproduktivität von Sanktionen". Und Erdogan hat schon bisher gezeigt, dass er mit Reaktionen auf österreichische Entscheidungen nicht zimperlich ist. Gerade Österreich als der Staat, wo Adolf Hitler geboren wurde, ist extrem verwundbar in Hinsicht auf Nazi-Vorwürfe; und Erdogan bzw. ihm nahestehende Personen haben derartige Nazivorwürfe an Österreich schon in der Vergangenheit getätigt, z.B. als Reaktion auf Aussagen von Kern. Es gibt in Österreich sehr viele Türkischstämmige, bzw. Doppelstaatsbürger, die auf Erdogans Rhetorik reagieren. Ich bin selbst Opfer von Gewalt eines Türken geworden, der möglicherweise u.A. von Erdogans Reden beeinflusst war. Und ich möchte nicht, dass ein derartiges Schicksal noch vielen Menschen zustösst. Mit Erdogan ist offensichtlich nicht gut Kirschen essen; Zeitpunkt und Strategie einer Konfrontation mit Erdogan sollte man sich gut überlegen und auf möglichst breite Beine stellen. Wenn Österreich in irgendwelchen Umweltfragen eine Vorreiterrolle spielt bzw. spielen zu müssen glaubt, dann spielt etwaige Retaliationsgewalt keine Rolle, aber in diesem Falle könnte sie es schon. Auch hier sollte man den Spruch der alten Lateiner berücksichtigen: "Quidquid agis, prudenter agis et respice finem!" ("Wie auch immer Du handelst, handle klug und bedenke das Ende!" ). Durch gewaltverursachende Rhetorik auf Personen in anderen Staaten Einfluss auszuüben, kann völkerrechtlich heikel sein.
6.) Umgehungsmöglichkeiten: es ist - wenn ich das recht verstanden habe - immer noch erlaubt, Waffen nach Jordanien zu liefern, wo dann jeder Türke sie einkaufen kann. Allerdings praktizieren reguläre Armeen derartige Geschäfte eher selten. Aber prinzipiell sind Trends zur "Privatisierung von Kriegen", wie Münkler das nannte, Verlagerung der Aufgaben regulärer Armeen an Freischärlergruppen, auch in der Türkei möglich.
7.) Wo bzw. gegen wen werden bzw. wurden diese Waffen eingesetzt ? Auch wenn ich als Opfer von möglicherweise von Erdogan-Rhetorik verursachter Gewalt gute Gründe habe, ihm zu misstrauen, so kann ich dennoch nicht anders, als ihm darin zustimmen zu müssen, dass die PKK problematisch ist. Das Waffenembargo bzw. Dual-Use-Güter-Embargo gegen die Türkei kann so gesehen auch als neutralitätswidrige Parteinahme Österreichs zugunsten einer Terrororganisation bzw. einer terrorverdächtigen Organisation, nämlich der PKK, gesehen werden.
Ein altes arabisches Sprichwort sagt: "Reize nie einen tollwütigen Hund! Töte ihn oder lasse ihn in Ruhe, aber reize ihn nicht!"
Töten wäre in diesem Fall mit problematischem Vergleich wohl gewaltsamer Regime Change, ähnlich, wie ihn Bush und Blair und Andere im Jahr 2002/2003 in Bagdad machten.
In Ruhe lassen wäre, mehr oder weniger business as usual zu machen, Geschäft wie immer, dann gibt es keine Retaliationsgewalt, keine Arbeitsplatzverluste, keine Abwanderung von Waffenindustrie oder von Dual-Use-Güter-Industrie.
Wie gesagt: wenn es ein EU-Embargo wäre oder ein UNO-Embargo, dann wäre die Sache eine andere. Aber dieses Embargo ist mMn möglicherweise die dümmste oder zweitdümmste Vorreiterrolle, die (das demokratische) Österreich im Laufe seiner Geschichte spielte. Apropos UNO: wenn die UNO eine Beobachtermission beschliessen würde bzw. beschlossen hätte, dann könnte genauer gesagt werden, ob und gegen wen genau österreichische Waffen (oder überhaupt Waffen) eingesetzt werden bzw. würden. Aber Beobachtermission gibt´s keine. Daher beschliessen wir Österreicher so gleichsam ein Embargo im Blindflug.
Man muss wohl schon sehr lange in der Geschichte zurückgehen, um einen ähnlich problematischen Fall (wie gesagt, den Originaltext des beabsichtigten Texts habe ich nicht gesehen) einer österreichischen Vorreiterrolle zu finden.
Vielleicht wäre da die österreichische Position in Sachen der sogenannten UN-Schutzzonen Srebrenica und Zepa in den 1990er Jahren zu nennen, in denen sich 1995 die größten Kriegsverbrechen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg ereigneten.
Diese Zweifel an der Sinnhaftigkeit des Embargos sollen kein Lob oder keine Verteidigung von Erdogans Politik sein, auch wenn dieser Vorwurf im üblichen Polit-Hickhack möglicherweise entstehen, sondern ein Plädieren dafür, nicht nur das Richtige zu tun, sondern auch zum richtigen Zeitpunkt, mit den richtigen Partnern, etc. Das Richtige bzw. das gefühlsmäßig als richtig Empfundene zum falschen Zeitpunkt zu tun, oder ohne Partner, hat sich oft genug in der Geschichte als das völlig Falsche erwiesen.
Abschliessend: ich bin kein Pazifist und kein Moralapostel, sondern ein Vertreter von Realpolitik, die manche vielleicht als knallhart empfinden werden. Für einen Pazifisten, der Waffenbesitz oder Waffenhandel sowieso für das Schlimmste auf der Welt hält, werden die oben stehenden Überlegungen vielleicht allesamt unverständlich sein. Ich ersuche ideologische Pazifisten und Pazifistinnen darum, sich in ihren vorhersehbar ablehnenden Statements eher kurz zu halten.
Und ich stehe zu genau dieser als knallhart empfindbaren Politik, weil Moralisieren und ein Übermass an "Zivilcourage"-Pathos oft fürchterlich konterproduktive Folgen haben kann.
Und ich bekenne mich auch zu dem, was Max Weber als "Verantwortungsethik" bezeichnete im Unterschied zur "Gesinnungsethik".
Links:
http://www.zeit.de/politik/ausland/2016-02/waffenhandel-ruestung-export-naher-osten-sipri
http://www.factfish.com/de/statistik-land/%C3%B6sterreich/waffenexporte
Die in Österreich besonders große Ablehnung von Waffenindustrie bzw. die in Österreich im internationalen Vergleich extrem geringe Präsenz von Waffenindustrie (oder verwandten Industrien) dürfte auch mit Waffenskandalen (wie z.B. dem Noricum-Waffenskandal der 1980er Jahre) zusammenhängen. Damals lieferte Österreich (insbesondere staatseigene Firmen, die Noricum war gehörte zur damals staatlichen VÖEST-Gruppe) intransparent und gesetzwidrig im Iran-Irak-Krieg sowohl an den Iran als auch an den Irak GHN-45-Kanonen mit besonders großer Reichweite.
Seit dem Noricum-Skandal besteht auch unter zahlreichen Österreichischen Politikern und -innen (vielleicht -innen ganz besonders, Waffen werden vielfach als unfeminin empfunden) eine mitunter hohe Abneigung, andere als pazifistische Positionen in der Öffentlichkeit zu vertreten.
Verschiedene Sanktions- bzw. Embargohistoriker verweisen darauf, dass oft in der Geschichte Embargos die Vorstufen zu Kriegen waren. D.h. dass Embargos eine Konflikt- und Eskalationsdynamik hatten, die dann letztlich in Kriege mündete.
In diesem Fall ist aber wohl Österreich zu schwach, zu pazifistisch und zu weit weg von der Türkei, als dass ernsthaft Kriegsgefahr bestünde.
Ein Kuriosum ist mir noch eingefallen: das einzige Positive bzw. das Einzige mit positiven Aspekten an diesem geplanten Beschluss könnte sein, dass man dann eine Volksabstimmung darüber machen kann. Aber das dürfte wohl eher theoretisch sein und in der Praxis nicht passieren.
Scharfschützengewehre sind eher präzise Waffen, die man z.B. gegen Einzelpersonen einsetzen kann, keine Flächenwaffen, die eine große Zahl von Menschen auf einen Schlag töten können.
Herfried Münkler, Die neuen Kriege. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2002, ISBN 3-7632-5366-1.