Am 18. Juni 2021 fand die sogenannte "Präsidentschaftswahl im Iran" statt.
Ich habe ja im Laufe meines fast 60-jährigen Lebens ja schon viel gesehen, aber diese sogenannte "Wahl" ist absolut seltsam und außerhalb, vielleicht einmalig außerhalb der demokratischen Standards.
Die Wahlbeteiligung betrug 48.8% und lag damit unter der 50%-Marke. Diese 50%-Marke gilt in vielen Verfassungen als Mindestbeteiligung, unter der eine Abstimmung bzw. Wahl als ungültig gilt.
Nach zahlreichen europäischen Maßstäben wäre die Wahl alleine schon deswegen ungültig.
Aber es gibt noch weitere sehr seltsame Phänomene: z.B. einen Anteil von 13% an ungültigen Stimmen. Das ist weit außerhalb der demokratischen Normalität, in Demokratien gibt es normalerweise nur unter 1% ungültige Stimmen.
Und mit einem Bildungsmangel oder mit einer für den Iran typischen Ursache kann man das auch nicht erklären: die Wahlbeteiligung, falls man von einer "Wahl" überhaupt sprechen kann, war niedriger als bei allen früheren iranischen "Wahlen", und die Anzahl der ungültigen Stimmen war weit höher als bei allen anderen früheren iranischen Wahlen.
Wobei man erst einmal die Grundlagen erklären muss: im Iran besteht kein allgemeines passives Wahlrecht, so gesehen ist der Iran gar keine Demokratie. Sondern der oberste Wächterrat, geführt vom sogenannten Ajatollah Ali Khamenei, kann rein willkürlich jeden Kandidaten von der Wahl ausschliessen, und bei dieser Wahl hat er eben alle erfolgversprechenden moderaten Kandidaten ausgeschlossen, und nur die chancenlosen moderaten Kandidaten zugelassen, was man als schwere demokratiewidrige Benachteiligung der Moderaten, bzw. Liberalen im Iran betrachten kann. Und Frauen sind im Iran sowieso vom passiven Wahlrecht, vom Recht, gewählt zu werden, ausgeschlossen, ein Argument, dass es in Europa, z.B. in Österreich mehr Frauen als Regierungschefinnen oder Bundespräsidentinnen geben sollte.
Und weil eben allen erfolgsversprechenden moderaten Kandidaten vom Khameneis Wächterrat das Recht, gewählt zu werden, verweigert wurde, kam auch der äußerst umstrittene Kandidat Ebrahim Raissi zu einer 72%-Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen.
Das ist aber nicht alles: die iranischen Ultrakonservativen und ihre Propagandamedien, zu denen es keine breitere Gegenmeinung im Iran gibt, stilisierten die "Wahl", bzw. das Wahlimitat um zu einer Protestwahl gegen den früheren US-Präsidenten Donald Trump und seine Entscheidung, den iranischen "General" Soleimani töten zu lassen.
Nun sind Protestwahlmotive in Demokratien durchaus vertreten, aber sie werden in der Regel eher von Kleinparteien verwendet, und nicht vom ohnehin bereits aufgrund der Regimemedien dominierenden Kandidaten wie Raissi.
Und Protestwahlaspekte in wirklichen Demokratien richten sich normalerweise gegen gegenwärtig bestehende Missstände, aber nicht gegen bereits abgewählte Präsidenten anderer Länder: Trump war zum Zeitpunkt der iranischen Wahl bzw. Wahlimitation schon ein halbes Jahr abgewählt.
Die Tatsache, dass Trump behauptete, die Wahl sei ihm gestohlen worden, könnte dem iranischen Hardliner Raissi allerdings Auftrieb gegeben haben. Allerdings sollte man dies nicht überschätzen. Raissi hätte wahrscheinlich auch ohne die Anti-Trump-Propaganda in den iranischen Medien und ohne die "Stolen-election"-Rhetorik von Trump "gewonnen" bzw. pseudo-gewonnen.
Zur Stellung des "iranischen Präsidenten": dieser ist eigentlich recht machtlos und kein wirklicher Präsident. Die wirkliche Macht im Iran liegt in der Hand des obersten Wächterrats, eines theokratisch-ungewählten Gremiums aus Mullahs, Hodjatollahs und Ajatollahs, das in der Politik, insbesondere in der Aussenpolitik und der Kriegspolitik, große Kompetenzen hat, die der Präsident eben nicht hat (und da der Iran sich am Syrienkrieg und im Irak beteiligte, wie indirekt auch immer, ist die Kriegszuständigkeit des Wächterrats von großer Bedeutung).
Und die Hauptfunktion des Postens des iranischen Präsidenten scheint eher eine Symbolfunktion zu sein, je nachdem, welche Schwerpunkte der Wächterrat, insbesondere der Vorsitzende Khamenei setzen will, fallen auch die Präsidentenwahlen aus: wenn Khamenei einen Versöhnungsversuch mit dem Westen probieren will, dann wird eben ein sogenannter Softie wie Khatami oder Rohani Präsident, wenn Khamenei einen Nachfolger auswählen und ihm ein Podium geben will, dann wird eben ein Hardliner und wahrscheinlicher zukünftiger Oppositionsunterdrücker wie Raissi Präsident (gerade beim 82-jährigen Khamenei wird die Nachfolgefrage inzwischen dringend, es gibt klitzekleine Anzeichen dafür, dass Raissi positiv überraschen könnte, aber diese sind in der Tat klitzeklein).
Auf jeden Fall hat diese "Wahl", bzw. diese Wahlnachahmung meinen Blick auf den Iran ein bisschen verändert, und zwar ins Negative. Es kommen scheinbar schlechte Zeiten auf uns zu, und der Iran wird anscheinend in Zukunft zahlreiche Probleme machen.
Auch in einer weiteren Hinsicht muss ich Positionen revidieren: früher hielt ich eine Wahlpflicht für durchaus vertretbar und argumentierbar, und stützte mich dabei hauptsächlich auf innenpolitische Argumente. Aber diese seltsame Wahl, Pseudo-Wahl, diese Schein-Wahl im Iran hat mir gezeigt, dass schwerwiegende aussenpolitische Gründe dagegensprechen: mit einer westlichen Wahlpflicht würde nämlich u.U. auch die iranische (oder andere) Oppositionsunterdrückung gerechtfertigt.
Sowohl Khamenei als auch andere iranische "Politiker", also quasi religiös-politische-militärische Diktatoren, erklärten Nichtwählen oder Ungültigwählen als "haram", also "Sünde", weil eben hohe Nichtwählerraten oder hohe Ungültiganteile im Westen den Eindruck erwecken könnten, der Iran sei das, was er scheinbar eindeutig ist, eine Pseudodemokratie.
Zu Ebrahim Raissi:
Ebrahim Raissi, also dem heutigen angeblich gewählten Präsidenten, wird Beteiligung am Khomeini-Massaker von 1988 vorgeworfen, als zahlreiche Systemkritiker ohne rechtliche und gesetzliche Deckung hingerichtet wurden.
Wikipedia-Artikel zu den angeblichen Präsidenten-Wahlen im Iran
https://de.wikipedia.org/wiki/Ali_Chamenei
https://de.wikipedia.org/wiki/Ebrahim_Raissi
https://de.wikipedia.org/wiki/Hossein_Ali_Montazeri
https://de.wikipedia.org/wiki/Hossein_Borudscherdi
https://de.wikipedia.org/wiki/Hassan_Rohani
https://de.wikipedia.org/wiki/Qasem_Soleimani
Ein kleiner Vergleich der österreichischen Präsidentenwahlen und den sogenannten iranischen:
beim ersten Wahlgang der öst. Präsidentschaftswahlen hatte der stimmenstärkste Kandidat Hofer (FPÖ) einen Vorsprung von 13.7% auf den zweitstimmenstärksten Van der Bellen (Grüne).
hingegen bei der angeblichen Wahl im Iran hatte der stimmenstärkste Kandidat Raissi einen Vorsprung von 59% auf den zweitstimmenstärksten Rezai.
Das österreichische Ergebnis mit dem 13%-Abstand und keiner absoluten Mehrheit im ersten Wahlgang (bei Nichtwiederantritt eines amtierenden Präsidenten) liegt so im demokratischen Trend, das iranische mit dem 59%-Vorsprung weit ausserhalb.
Und dieses iranische Ergebnis kommt wahrscheinlich auch sehr wesentlich daher, dass der Wächterrat unter dem Vorsitz von Khamenei den aussichtsreichsten Kandidaten der Moderaten das passive Wahlrecht abgesprochen, also die Kandidatur verboten hat, sodass nur chancenlose Kandidaten der Moderaten antreten konnten zu dieser Wahl.
Ich habe zugegebenermaßen in der Vergangenheit gelegentlich die Hoffnung gehabt, insbesondere in Hinsicht auf Montaseri, Borudscherdi Sen., Khatami und Rohani, der Iran könne sich vielleicht normalisieren und die spärlichen demokratischen Elemente wären stark genug, um einen Ausbruch aus der iranischen theokratischen Diktatur zu ermöglichen.
Aus heutiger Sicht, nach dieser Wahl sieht das so aus, als wäre diese Hoffnung relativ unrealistisch.
Dennoch ist bewunderswert, wieviele Iraner und -innen trotz Drohungen, trotz Haram-Erklärung "Sündererklärung" durch die Mullahs ihren Protest äußerten, in dem sie entweder aus Protest gegen die Demokratiemängel nicht zur Wahl gingen, oder absichtlich ungültig wählten. Auch beim Iran mit seiner hohen Zahl an Ungültigstimmen, insbesondere bei dieser Wahl ist zu kritisieren, dass es keine Differenzierung der Ungültigstimmen gibt, dass es keine Möglichkeit gibt, die Motive für die Ungültigwahl auszudrücken, z.B. "Ich wähle ungültig, weil ich das Wahlsystem ablehne", "Ich wähle ungültig, weil ich alle Kandidaten ablehne", "Ich wähle ungültig, weil ich das komplette politische System des Iran ablehne", "Ich wähle ungültig, weil mein Lieblingskandidat nicht einmal kandidieren durfte und vom Wächterrat ausgeschlossen wurde".
Demokratie als "Volksherrschaft" erfordert unbedingt, dass das Volk seinen Willen ausdrücken kann. Ohne Möglichkeit, den eigenen Willen auszudrücken, kann das Volk gar nicht "demo-kratisch" regieren (griechisch demos=Volk, kratein=herrschen).
Und bei den extrem hohen Raten an Ungültigstimmen im Iran bekommt eine solche Differenzierung der Ungültigstimmen eine besondere Brisanz.
So gesehen muss man auch wegen der Unmöglichkeit des iranischen Volkes, die Motive des Wahlboykotts auszudrücken, dem Iran den Charakter einer Demokratie absprechen, und sagen, dass der Iran keine Wahl hatte, sondern eine Ernennung eines Präsidenten durch den allmächtigen theokratisch-totalitären Wächterratsvorsitzenden Khamenei, und er wollte eben Raissi als Nachfolger.
Auch kritisch zu hinterfragen sind zahlreiche Falschberichte in Medien, die den Eindruck erwecken konnten, es sei eine wirkliche demokratische Wahl gewesen, besonders kritisch ist hier zu sehen der Sender Al-Djazeera, die die Wahl Raissis als Folge von US-Sanktionen bezeichnete und alle anderen problematischen Aspekte vertuschte.
Der deutsche Bundespräsident Steinmeier hat sich immer wieder durch Gratulationen an den islamisch-fundamentalistischen Iran, z.B. anläßlich des 40-jährigen Revolutionsjubiläums "im Namen des deutschen Volkes" hervorgetan, die in Deutschland auch massiv kritisiert wurden, zum Beispiel vom islamkritischen deutsch-ägyptischen Politologen Hamed Abdel-Samad mit seiner "Nicht in meinem Namen!"-Protestaktion.
Aber Steinmeier hat Abdel-Samad wenigstens ausreden lassen auf Steinmeier-Veranstaltungen und ihn respektvoll behandelt. Eine Art und Weise, wie iranische Herrscher oft nicht umgehen mit kritischen Publizisten.
Weiters: