Der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz sagte am 29. oder 30. März 2020: "Bald wird jeder von uns jemanden kennen, der an Covid-19 gestorben ist".
Und zahlreiche Angehörige der Risikogruppe der Älteren reagierten auf diese Warnung mit einer extremen Vorsicht, Abschottung und mit einem Rückzug.
Und eben dieser Rückzug, der durch die Kurz-Warnung verursacht wurde, könnte der Grund sein, warum diese Warnung nicht eingetreten ist, warum nicht jeder oder bei weitem nicht jeder jemanden kennt, der an Covid-19 gestorben ist.
Soziale Systeme sind rückgekoppelte Systeme, in dem die einfachen Ursache-Wirkung-Mechanismen, in denen wir gewohnt sind zu denken, nicht funktionieren.
In rückgekoppelten Systemen kann die Ursache auch gleichzeitig Folgeeffekt sein und der Folgeeffekt gleichzeitig Ursache. Es sind hier Effekte von Koevolution ebenso möglich wie gegenseitige Verursachung der Form "a verursacht b" und gleichzeitig "b verursacht a".
Diese Rückkopplung und die Tatsache, dass es sich bei Bürgerinnen und Bürgern nicht um passive Massen, wie zum Beispiel Billiardkugeln, handelt, sondern um aktive, denkende und handelnde Individuen, führt auch zu zwei seltsamen Phänomenen: der selbsterfüllenden Prophezeihung und der selbstwiderlegenden Prophezeihung ( self-defeating prophecy im Englischen).
Selbstwiderlegende Prophezeihung würde in diesem Fall heissen:
wenn Kurz nicht davor gewarnt hätte, dass bald jeder jemanden kennen würde, der an Covid-19 gestorben ist, dann hätten sich die Leute unvorsichtig verhalten, die Krankheit hätte sich schneller ausgebreitet und der Zustand, dass jeder jemanden kennt, der an Covid gestorben wäre, wäre eingetreten, bzw. vermutlich eingetreten.
Aber weil Kurz davor warnte, dass bald jeder jemanden kennen würde, der an Covid-19 gestorben ist, verhielten die Leute sich vorsichtig, weshalb der Zustand verhindert wurde, dass die Krankheit sich schnell ausbreitet und viele Leute sterben.
Für regierende Politiker ist das natürlich eine Doppelmühle wie im Mühlespiel, eine lose-lose-Situation: egal, wie sie sich verhalten, egal, ob sie warnen oder herunterspielen, in beiden Fällen kommt ein Ergebnis heraus, das sie schlecht aussehen lässt.
Und US-Präsident Trump und lange auch Britenpremier Johnson betrieben lange die Gegenstrategie: nicht warnen, sondern herunterspielen.
Mit dem Effekt, dass die Krankheit sich in den USA und in GB schnell verbreitete und viele Leute sich ansteckten, was Trump sogar das Präsidentenamt gekostet haben könnte bzw. dürfte.
Damit will ich sagen: wir sollten uns alle hüten, die Spitzenpolitiker zu kritisieren und zu skandalisieren, nur weil sie irgendetwas tun, was irgendwem schadet bzw. schaden könnte.
Die entscheidende Frage, die wir immer bedenken sollten, ist folgende: wäre die Alternative unter objektiver Abwägung aller Umstände besser gewesen oder schlechter ? Und auch diese Frage ist oft schwierig zu beurteilen, wie kontrafaktische "Was wäre, wenn ... ?" immer.
Kurz kann oder muss man eines zugute halten: er hat sich nicht versteckt hinter irgendwelchen Kommissionen und angeblichen "Experten", sondern er hat selber etwas gesagt zum Thema, was sich noch als sehr zerstörerisch für ihn und seine politische Karriere herausstellen kann. Dazu passt auch der Begriff der "selbstzerstörenden Prophezeihung".
So gesehen ein Beispiel für "Mut zum Leadership", der sich unterscheidet vom Duckmäusertum, nie zu irgendwas Position zu beziehen, aus Angst, dass irgendwelche Wählergruppen es einem verübeln könnten.
CC / BKA https://de.wikipedia.org/wiki/Sebastian_Kurz#/media/Datei:2020_Sebastian_Kurz_Ministerrat_am_8.1.2020_(49351572787)_(cropped)_(cropped).jpg
Österreichs Kanzler Sebastian Kurz: wird er abgewählt werden, weil er den Mut hatte, in einem rückgekoppelten System eine selbstwiderlegende Prophezeihung auszusprechen, die zahlreichen Menschen das Leben rettete, was Kurz´ eigenen Sager "Bald wird jeder jemanden kennen, der an Covid-19 gestorben ist" falsifiziert ?
In eine ähnliche Richtung wie die selbstwiderlegende Prophezeihung geht auch das Präventions-Paradoxon.
https://www.leitbegriffe.bzga.de/alphabetisches-verzeichnis/praeventionsparadox/