"If the problem ain´t binary, don´t take binary vote" ("Wenn das Problem nicht binär ist, sollten Sie kein binäres Wahlsystemen nehmen", Peter Emerson )
Die entscheidende Frage bei dem, was wir fälschlicherweise Demokratie nennen, ist folgende: welche Partei oder welche Parteienkoalition wird die 51% erreichen, mit denen sie praktisch alles machen kann ?
Oft wird die Spaltung der Gesellschaft beklagt, auch und insbesondere in den sogenannten Demokratien, die fälschlicherweise den Ruf haben, inklusiv, minderheitenfeundlich, etc. zu sein.
Aber die Spaltung der Gesellschaft in zahlreichen Demokratien, bis hin zum Bürgerkrieg ist möglicherweise einer Folge der Tatsache, dass in Demokratien gar keine demokratischen Wahlverfahren existieren, sondern nur diktatorische, eben die, die die Diktatur der 51%-Mehrheit ermöglichen.
Ein Aspekt dieser angeblich demokratischen 51%-Diktatur ist das einfache, das allzu vereinfachende Wahlsystem, z.B. ein Wahlsystem, in dem man als Wählender nur seine Lieblingspartei, bzw. seinen Lieblingskandidaten/-in wählen kann, aber seine Meinung über die anderen Kandidaten nicht zum Ausdruck bringen kann.
Und oft wählt man in so einem System gar nicht seine Lieblingspartei, sondern man wählt oft diejenige Partei, die am stärksten und radikalsten auftritt gegen die Partei, die man am wenigsten mag.
Dies ist insbesondere der Fall, wenn man die stärksten Emotionen in Zusammenhang mit einer Partei Ablehung bzw. Hass sind.
Es gibt aber auch Alternativen zu unserem jetzigen Wahlsystem, in dem man nur eine Lieblingspartei wählen darf:
die eine Alternative sind Reihungswahlen oder Präferenz- oder Vorzugswahlen, bei denen man alle Kandidaten reihen kann, z.B., "Von den vier Kandidaten A,B,C,D ist mit C am liebsten, B am Zweitliebsten, A am Drittliebsten und D am unliebsten".
Weil man mit diesem System zum Ausdruck bringen kann, welche Partei, bzw. welchen Kandidaten man am wenigsten mag, entfällt auch die Notwendigkeit, eine Partei unabhängig von ihren programmatischen Inhalten wählen zu müssen, nur weil sie am stärksten und radikalsten gegen die Partei/Kandidierenden auftritt, die man am wenigsten mag.
Dieses System hat auch den Vorteil der Extremismusverhinderung und der größeren Manipulationssicherheit.
Eine weitere Alternative wären Wertungswahlen: bei Wertungswahlen kann man zum Ausdruck bringen, wie weit man mit allen Kandidaten bzw. Parteien übereinstimmt.
Wenn z.B. Null für völlige Nicht-Überstimmung steht und 10 für völlige Übereinstimmung, und wegen der Einfachheit und Administrierbarkeit nur Einserschritte erlaubt sind, dann könnte ein Wähler bzw. eine Wählerin zum Beispiel die Position zu allen Parteien zum Ausdruck bringen.
"Ich stimme mit Partei A völlig überein (also 10 Punkte), mit Partei B überhaupt nicht (also Null Punkte), und mit Partei C nur in 20% aller Fragen (also 2 Punkte)".
Diese Wertungen aller Wähler werden dann aufsummiert und die Mandate können entsprechend der Wertungssumme verteilt werden. Noch mehr als in einem Parlament, das durch extreme Positionen immerhin eine gewisse Meinungsvielfalt und Buntheit erhält, stellt sich die Frage danach, ob ein Bundespräsident, der das Ganze Land verkörpern sollte, eher ein Vertreter der politischen Mitte dieses Landes sein sollte, und nicht ein Vertreter einer Extremposition; und gerade bei den letzten österreichischen Bundespräsidentschaftswahlen war auffallend, dass zwei politische Extreme, nämlich die ausländerfreundlichste und die ausländerkritischste Partei, ihre Kandidaten in den zweiten Wahlgang brachten, eben deswegen, weil man die Ablehnung eines politischen Extrem durch das jeweils andere politische Extrem in unserem System nicht zum Ausdruck bringen kann. Man kann annehmen, dass bei einem Wertungswahlrecht oder einem Vorzugswahlrecht weder Hofer noch Van der Bellen Bundespräsident geworden wären.
Zusätzlich ergibt sich die Problematik der Wahlmanipulation in unserem System: dadurch, dass die meisten Umfrageinstitute und die Medien vor dem ersten Wahlgang Umfragen veröffentlichten, die Van der Bellen um 10% über seinem tatsächlichen Ergebnis prognostiziert hatten, dürften viele taktisch Wählende, die Irmgard Griss am liebsten hatten, um Hofer zu verhindern, zu Van der Bellen geschwenkt sein, weil eben Medien und Umfrageinstitute durch den viel zu hoch geschätzten Vorsprung von Van der Bellen gegenüber Griss nahelegten, nur Van der Bellen könne Hofer besiegen, aber Griss nicht. Die Irreführung durch Medien und Meinungsforschungsinstitute ist auch illegal nach §263 Strafgesetzbuch "Täuschung bei einer Wahl oder Volksabstimmung", wodurch zahlreiche Medien, Journalisten und Meinungsforscher eigentlich die entsprechende laut Strafgesetzbuch vorgesehene Strafe hätten erhalten müssen (bis zu einem halben Jahr Haft, IIRC).
Durch Vorzugswahlsysteme oder Wertungswahlsysteme entsteht eine stärker kooperationsorientierte und stärker an der Sache interessierte Politik, in der die gegenseitige persönliche Herabwürdigung (die "Spaltung" ) eine geringere Rolle spielt.
Eines der Vorzugsverfahren ist das Borda-Verfahren, nach dem französischen Politiker, Mathematiker und Seemann Jean-Charles de Borda aus dem 18. Jahrhundert, dessen Verfahren im Zuge der französischen Revolution praktiziert wurde, und das in einem Teilbereich des slowenischen Parlaments (nämlich bei den Vertretern der ethnischen Minderheiten) verwendet wird.
Hier ein Ted-X-Vienna-2017-Vortrag von Peter Emerson vom nordirischen De-Borda-Institut:
Es nutzt also gar nichts, dem einen oder dem anderen Politiker (Trump, Merkel, Kohl, etc.) die Spaltung der Gesellschaft vorzuwerfen, denn in allen sogenannten Demokratien sind Wahlsysteme in Gebrauch, die letztlich auf eine Diktatur der 51%-Mehrheit und die damit zusammenhängende Spaltung hinauslaufen.
Wir Alle neigen dazu, zu personalisieren und einen einzigen Bösewicht sehen zu wollen, während in Wirklichkeit oft systemische Ursachen dahinterstecken und gar nicht der einzelne Bösewicht.
In Wirklichkeit sind fast alle Wählerinnen und Wähler die Ursache der Spaltung der Gesellschaft, die sie oft selbst beklagen, weil sie nicht die Ursache dieser Spaltung, nämlich das 51%-Diktatur-Wahlsystem kritisieren, sondern einzelne Politiker, die damit nur am Rande zu tun haben. Daher besteht die beklagte Spaltung der Gesellschaft oft viele Jahrzehnte lang, eben weil fast Alle nicht erkennen, dass das Wahlsystem die Ursache ist.
Hier eine Vorlesung von Emerson zu einem ähnlichen Thema:
Hier Emerson über den Unterschied zwischen Referendum und Preferendum: in einem Referendum gibt es nur zwei Alternativen, in einem Preferendum mehrere Alternativen.
Ein wichtiger Aspekt ist, ist, dass es nie die Wähler und Wählerinnen sind, die in den fälschlicherweise sogenannten Demokratien die Entscheidungen treffen, sondern dass es immer die Eliten sind, die die Entscheidungsmöglichkeiten - egal, ob bewusst oder unbewusst - so einschränken, dass der wirkliche Volkswille gar nicht zum Ausdruck kommen kann (zumindestens nicht in seiner Differenziertheit).
Den Zustand, dass es im britischen Parlament lange überhaupt keine Mehrheit für irgendeine Brexit-Option gab, betrachtet Emerson als Beweis, dass das klassische Ja/Nein-System nicht funktioniert.
Emerson führt auch zahlreiche Kriege und Konflikte (wie z.B. den Nordirlandkonflikt) auf dichotome Wahlsysteme zurück, also auf Wahlsysteme, die auf Ja/Nein oder auf die Diktatur der 51%-Mehrheit zurückgehen.
Der US-Bürgerkrieg 1861-1865 war so gesehen die Folge eines mangelhaften demokratischen Wahlsystems, das nur zwei Möglichkeiten eröffnete: "Sklaverei-Abschaffung sofort oder Sklavereiabschaffung nie ?"
Die dritte wahrscheinlich kriegsverhindernde Option "Sklavereiabschaffung in zehn oder 20 Jahren, damit die Landwirtschaft in den Südstaaten Zeit hat, sich auf eine Umstellung vorzubereiten" hatte in einem Wahlsystem, das Extreme begünstigt und Kompromisslösungen benachteiligt, eben keine Chance. Eben, weil das zweipolige System des "Entweder-Oder" die Extreme begünstigt und Kompromisse, mit denen allen leben können, verhindert.
Ähnlich könnte man auch bezüglich dem Bosnienkrieg argumentieren: weil eben das falsche kriegsverursachende Wahlsystem verwendet wurde, führte die Demokratisierung in den Krieg. Konsensuellere Politikvorschläge und Parteien hatten bei diesem Wahlsystem keine Chance, während sie bei einem anderen Wahlsystem vielleicht sogar stärkste Partei geworden wären.
Auch dass dieses von Europa und Nordamerika vorgeschlagene bzw. aufgezwungene falsche Demokratiemodell in vielen kulturell-islamisch-geprägten Staaten zum Aufstieg von extremistisch-islamischen Parteien führte, ist so gesehen ein Hinweis auf das global falsche Wahlsystem, nicht aber auf die grundlegende Demokratieunfähigkeit der betreffenden Völker. Und die Unfähigkeit der sogenannten Demokratien, sich selbst und ihr bzw. das globale Wahlsystem zu hinterfragen, ist ein ganz wesentlicher Faktor in der Entstehung des Rassismus in den sogenannten Demokratien. Es mag schon sein, dass früher, als weder Computer noch Taschenrechner existiert haben, Wahlsysteme verwendet werden mussten, die einfach waren, um administriert, und kontrolliert werden zu können, aber der technologische Fortschritt erlaubt nun auch bessere Wahlsysteme. Wir sollten daher nicht allzu halsstarrig am Veralteten festhalten, nur "weil des hamma scho imma so g´macht".
Meine Antwort auf die Blog-Titel-Frage "Sollte Demokratie mehr sein als die Diktatur der Mehrheit ?" ist daher "Ja, Demokratie sollte etwas anderes sein als die Diktatur der Mehrheit, und damit sie etwas anderes sein kann als diese Diktatur der Mehrheit, brauchen wir ein anderes Wahlsystem, oder mehrere andere Wahlsysteme, vielleicht sowohl auf Parlamentsebene als auch auf Bundespräsidentenebene"
Siehe auch:
(Das ist jetzt ein schon viereinhalb Jahre alter Blog, der vielleicht nur Einstein bestätigt: "Es ist schwieriger, ein Vorurteil zu zertrümmern als ein Atom", normalerweise bezeichnet "Vorurteil" nur negative oder abwertende Einstellungen, aber auch übertrieben positive Bewertungen, wie z.B des Wahlsystems sind Vorurteile, und oft stehen postive und negative Vorurteile in einem Zusammenhang)
Buchtipp:
"Democratic Decision-making
Consensus Voting for Civic Society and Parliaments", Springer, 2021