Die SPÖ befindet sich wie vor hundert Jahren in einem strategischen Dilemma:

damals war es die Gespaltenheit der Partei in die zwei Flügel der Reformisten (um Renner) und der Bolschewisten (um Bauer), heute ist es die Gespaltenheit der Partei in die zwei Flügel, von denen der Eine eine Koalition mit der FPÖ kategorisch ablehnt, wie der Wiener SPÖ, während der Andere eine Koalition mit der FPÖ für machbar hält bzw. macht, wie z.B. die SPÖ Burgenland.

Dabei spielen natürlich auch die Möglichkeiten eine Rolle: wer so wie die Wiener SPÖ viele Koalitionsoptionen besitzt (mit der ÖVP, mit den Grünen und mit den NEOS), der kann natürlich leicht aus Gründen der Beschwörung eines angeblich faschistisch-nationalsozialistischen Feindbilds eine Koalition mit der FPÖ ausschliessen und sie als Wiedergänger des Hitlerismus porträtieren, wie es weite Teile der Vergangenheitsvergewaltigungspolitik - äh, pardon - Vergangenheitsbewältigungspolitik nahelegen.

Kurioser- oder logischerweise gilt in der SPÖ immer noch der Bundesparteitagsbeschluss, dass Koalitionen mit der FPÖ auf allen Ebenen ausgeschlossen sind, während gleichzeitig auf zahlreichen Ebenen SPÖ-FPÖ-Koalitionen existieren, am prominentesten im Burgenland auf Landesebene, aber auch in vielen Fällen auf Gemeindeebene.

Dass der auf Zwang der SPÖ Wien durchgedrückte Bundesparteitagsbeschluss, auf keiner Ebene mit der FPÖ zu koalieren, nicht halten würde, war übrigens vorhersehbar und wurde auch schon lange von Klassikern der internationalen Politikwissenschaft prognostiziert: beispielsweise von William H. Riker in seinem Buch "A Theory of Political Coalitions" ("Eine Theorie der politischen Koalitionen" ) aus dem Jahr 1962, in dem er vorhersagte, dass eine Großpartei immer lieber mit einer Kleinpartei koaliert, der man geringfügige Konzessionen machen muss, während man auf die Hälfte der Ministerposten und auf die Hälfte des Programms verzichten muss, wenn man mit einer anderen Großpartei koaliert.

Die burgenländische SPÖ argumentiert ihre Koalition auch damit, dass man ohne die Option mit der FPÖ auf Gedeih und Verderb der ÖVP ausgeliefert wäre, und dass die ÖVP die Forderungen bei den Koalitionsverhandlungen beliebig weit nach oben schrauben könnte, weil die SPÖ eben dann nur eine einzige Option hätte, die mit der ÖVP, wenn sie Koalitionen mit der FPÖ ausschliesst.

Leider war bisher kein SPÖ-Vorsitzender (weder Faymann noch Kern noch Rendi-Wagner) stark genug, die widersprüchliche Situation zu bereinigen, die Michael Häupl für die Wien-Wahl geschaffen hatte.

Jedes wirkliche Umsetzen dieses Bundesparteitagsbeschlusses würde natürlich bedeuten, dass die blau-Roten mit hoher Wahrscheinlichkeit abwandern würden (wahrscheinlich zur FPÖ) und dass die SPÖ unter 20% sinken würde.

Und ein Abwandern der bläulichen Roten würde wahrscheinlich kein SPÖ-Vorsitzender und keine SPÖ-Vorsitzende politisch überleben, sodass es auch unwahrscheinlich ist, dass diese Situation jemals bereinigt wird.

Für sich selbst durch einen Parteiaustritt bereinigt hat diese Situation die ehemalige SPÖ-Politikerin Sonja Ablinger, die das in einem Standard-Kommentar begründete, erwartungsgemäßg fürchterlich einseitig und fürchterlich ahnungslos von allen Erkenntnissen der Politikwissenschaft und der Verhandlungsstrategie, fürchterlich gesinnungsethisch (also an Werten oder angeblichen "Werten" orientiert) und fürchterlich verantwortungsethiklos (also nicht an Möglichkeiten und Folgen orientiert; dass die angeblich-analytische Linke kein einziges Mal theoretisiert, ob eine Enzauberungskoalition nicht das Beste wäre, die FPÖ so kaputtzukolaieren, wie Schüssel das im Jahr 2002, als die FPÖ 17% verlor, tat, spricht eigentlich Bände).

https://derstandard.at/2000102257779/Vom-Umgang-der-SPOe-mit-der-FPOe-In-Parteistatut-gegossene?ref=rec

Ein wesentlicher Faktor, den Ablinger übersieht, ist: große Teile der SPÖ-Politik sind aufgebaut auf dem Anspruch auf die Führungsposition, egal ob Kanzler auf Bundesebene oder Landeshauptmann auf Landesebene.

Nach Vertreibung der bläulich-Roten aus der Partei könnte die SPÖ wahrscheinlich nur mehr Juniorpartner werden, und müsste den Anspruch auf Kanzleramt und/oder Landeshauptmannposten vielleicht auf ewig aufgeben.

Und wer in der SPÖ will das schon ?

Daher wird die österreichische Lösung des SPÖ-Dilemmas möglicherweise so bleiben, wie sie ist: einerseits All-Ebenen-Koalitionsverbotsbeschluss mit der FPÖ, andererseits trotzdem Koalitionen mit der FPÖ auf Landes- oder Gemeindeebene.

Mit dieser Widersprüchlichkeit befindet sich die SPÖ aber in einer guten österreichischen Tradition: schon Franz Grillparzer beschrieb in "Bruderzwist im Hause Habsburg" (auch ein Streit zwischen zwei verschiedenen Flügeln) die österreichische Lösung so:

"Das ist der Fluch von unserm edeln Haus: Auf halben Wegen und zu halber Tat, mit halben Mitteln zauderhaft zu streben."

CC / Kriehuber https://de.wikipedia.org/wiki/Franz_Grillparzer#/media/File:Grillparzer.jpg

Mit Grillparzer und den Habsburgern und der typisch österreichischen Widersprüchlichkeit verhält sich die SPÖ mit FPÖ-Koalitionsverbot und gleichzeitigen SPÖ-FPÖ-Koalitionen sehr österreichisch.

Und nicht nur das: auch die UNO-Charta (die UNO wird von der SPÖ ja besonders wertgeschätzt, insbesondere seit Kreisky die UNO-City bauen liess) ist widersprüchlich, ebenso widersprüchlich wie die SPÖ-Politik: die UNO-Charta enthält sowohl das Vetorechtsprivileg der Großen Fünf (USA, GB, F, R, Ch) und gleichzeitig den Passus, dass alle Staaten gleichberechtigt seien.

CC http://www.dasrotewien.at/bilder/d30/Renner_jung_VGA.jpg

Zentristischer Sozialdemokrat Karl Renner (Bild oben) versus linker Sozialdemokrat Otto Bauer (Bild Unten).

CC / Hilscher, ÖNB https://www.bildarchivaustria.at/Pages/ImageDetail.aspx?p_iBildID=1074147

Die koalitionsfragen-betreffende Zerstrittenheit innerhalb der SPÖ, die die Partei lähmt und für die ganze österreichische Republik Katastrophen verursacht, hat in der SPÖ fast schon Tradition.

Im Jahr 1932 zerkrachten sich die beiden SPÖ-Parteiflügel in der Frage, ob die SPÖ das Koalitionsangebot der Christlich-Sozialen annehmen sollen oder nicht: der antikapitalistische Bauer-Flügel war dagegen, mit den Christlich-Sozialen zu koalieren, weil er eine Revolution wollte und verhindern wollte, dass die SPÖ den "Arzt am Todesbett des Kapitalismus spiele". Der antinazistische, prokapitalistische Renner-Flügel war dafür, mit den Christlich-Sozialen zu koalieren, um gemeinsam gegen die nazistische Gefahr aufzutreten. Der Bauer-Flügel setzte sich durch; es folgten die Ausschaltung bzw. Selbstausschaltung des Parlaments, der ständestaatliche Autoritarismus, der Bürgerkrieg des Jahres 1934, der Anschluss an Nazideutschland 1938 und der zweite Weltkrieg ab 1939.

CC / San Jose/Univerity of Texas Libraries https://de.wikipedia.org/wiki/Zweiter_Weltkrieg#/media/File:Second_world_war_europe_animation_small.gif

Hätte Österreich seine Unabhängigkeit bewahren und sich aus dem Weltkrieg raushalten können, wenn sich 1932 der Karl-Renner-Flügel der SPÖ durchgesetzt hätte und eine Koalition mit den Christlich-Sozialen zur Nazi-Abwehr gebildet worden wäre ?

0
Ich mag doch keine Fische vergeben
Meine Bewertung zurückziehen
Du hast None Fische vergeben
0 von 6 Fischen

bewertete diesen Eintrag

2 Kommentare

Mehr von Dieter Knoflach