Es gibt in der internationalen Politikwissenschaft immer wieder Theorien über das "anomalous Austria", das abnormale Österreich. Früher haben sich diese abnormale-Österreich-Theorien öfters darauf bezogen, dass Österreich das einzige oder praktisch einzige Land ist, das ein Zweiparteiensystem oder ein Zweieinhalbparteiensystem (47% SPÖ, 47% ÖVP, 6% FPÖ) trotz Verhältniswahlrecht hat.
Heute beziehen sich diese "anomalous Austria"-Theorien des öfteren darauf, dass Österreich das westliche, langfristig-etabliert-demokratische Land mit den höchsten Meinungsumfragefehlern der Welt ist.
Nur ein Beispiel: eine Tageszeitung, deren Namen ich nicht nenne, brachte kurz vor dem ersten Wahlgang eine Umfrage, die nur bei Khol, Lugner und Griss innerhalb der Schwankungsbreite (3-4% Abweichung) lag, hingegen bei den anderen drei Kandidaten riesige Umfragefehler teilweise weit außerhalb der Schwankungsbreite aufwies: Van der Bellen und Hundstorfer waren um 5% überbewertet, hingegen Hofer um 12% unterbewertet.
Den heutigen bzw. gestrigen Nachrichtenjournalen zufolge lauten die Erklärungen z.B.:
neue, technische Veränderungen (wie Internet oder iPhone) würden insbesondere bei der Jugend das Prognostizieren schwerer machen.
Ich habe seit ca. 30 Jahren Kontakte zu Meinungsforschern und zu Soziologieprofessoren, die im kleinen Rahmen selbst Umfragen machen.
Und der Eindruck, den ich habe, ist, dass sich seit ca. 30 Jahren an der Umfrageproblematik nichts wesentliches geändert hat.
Angenommen, es wären - wie behauptet - technologische Neuerungen, die das Prognostizieren schwieriger machen, ....
1.) wieso hat sich dann in den letzten 30 Jahren nichts geändert ?
2.) wieso haben die Fehler immer mehr oder weniger dasselbe Profil (FPÖ stark unterdeklariert, Rot und Grün überdeklariert) ?
3.) wieso treten die größten Fehler immer bei der FPÖ auf, deren Wählerinnen und Wähler ich im Durchschnitt eher (etwas?) weniger technikaffin einschätzen würde als den Rest der Bevölkerung ?
Wenn regelmässig die FPÖ stark unterdeklariert, SPÖ und Grüne hingegen überdeklariert sind, dann sieht das doch für den Betrachter eher so aus, als würden FPÖ-Wähler und -innen sich als SPÖ-Wähler bzw. Grünwähler und -innen ausgeben, um sich Scherereien am Arbeitsplatz oder im sozialen Umfeld zu ersparen. In Anbetracht der Wahlkampfrhetorik ("Gegen Unmenschlichkeit !", "Die Anständigen gegen die Unanständigen", etc.) muss jemand, der offen deklariert, dass er FPÖ wählt, sich in vielen Fällen, in vielen sozialen Umfeldern einem Shitstorm aus Rassismus- oder Nazi-Vorwürfen aussetzen, oder muss sich zumindest viel Misstrauen diesbezüglich auszusetzen bereit sein. Selbst, wenn keine Rassisten- oder Nazi-Vorwürfe erfolgen, muss man in vielen sozialen Umfeldern damit rechnen, dass z.B. innerbetrieblich wichtige Vertrauenverhältnisse durch die Deklarierung des eigenen Wahlverhaltens zerstört werden.
Die Gegenthese wäre:
Thomas Chorherr, der ehemalige Chefredakteur der Tageszeitung "Die Presse", meinte einmal (in einem "Furche"-Interview oder so, wenn ich mich recht erinnere) sinngemäß, es gebe in Österreichs Medien, insbesondere im ORF, eine Zweidrittel- bis Dreiviertel- rot-grüne Medien-Hegemonie.
Lord John Acton, der bedeutende britische rebellisch-katholische Intellektuelle, sagte einmal: "Macht tendiert dazu, zu korrumpieren und totale Macht tendiert dazu, total zu korrumpieren."
Gemünzt war das damals auf den Papst und den Unfehlbarkeitsanspruch, den er im ersten Vatikanischen Konzil durchbringen wollte, das zur Abspaltung der altkatholischen Kirche führte.
Aber passen würde es auch auf den Mißbrauch von Medienmacht durch Journalisten und -innen.
Medienmacht kann man natürlich "erziehungsjournalistisch" (statt "wahrheitsjournalistisch" ) dazu zu ge- bzw. missbrauchen versuchen, die Wählerinnen und Wähler davon abzuhalten, zu wählen, wie sie wollen, und dazu zu bringen, anders zu wählen als sie wollen oder gar nicht zu wählen, obwohl sie wählen wollen.
Das mag kurzfristig sogar funktionieren, könnte aber langfristig ziemlich großen Schaden an der Demokratie anrichten.
Es geht jetzt nicht um die Frage, ob die FPÖ zu recht oder zu Unrecht stigmatisiert wird, sondern um die Frage, ob sie stigmatisiert wird.
Die Meinungsforscherin Noelle-Neumann sprach in einem ähnlichen Zusammenhang einmal von einer "Schweigespirale":
`Schweigespirale nennt sich ein Teil der in den 1970er-Jahren von Elisabeth Noelle-Neumann formulierten Theorie der öffentlichen Meinung. Demnach hängt die Bereitschaft vieler Menschen, sich öffentlich zu ihrer Meinung zu bekennen, von der Einschätzung des Meinungsklimas ab. Widerspricht die eigene Meinung der als vorherrschend betrachteten Meinung, so gibt es Hemmungen, sie zu äußern, und zwar umso stärker, je ausgeprägter der Gegensatz wird. Daher der Begriff der Spirale. Die Massenmedien, vor allem das Fernsehen, können erheblichen Einfluss auf die Rezipienten und damit auf die öffentliche Meinung ausüben, indem sie dem Einzelnen gegenüber eine bestimmte Meinung als angebliche Mehrheitsmeinung präsentieren und ihn so unter Druck setzen, sich nicht andersartig zu äußern. Damit steht die Schweigespirale für eine erneute Hinwendung der Medienwirkungsforschung zur „vierten Gewalt“, einer Hypothese der „mächtigen Medien“.`
GeCopyPastet aus
https://de.wikipedia.org/wiki/Schweigespirale
Paradoxerweise oder logischerweise ist die Partei, die am ehesten über die Schweigespirale Bescheid zu wissen scheint, die FPÖ.
Ein FPÖ-Plakat aus dem letzten Wiener Gemeinderats- und Bezirksvertretungs-Wahlkampf lautete: "Wählt, wie Ihr denkt !"
An und für sich absurd. In einer normalen Demokratie sollte es überflüssig sein, die Wähler und -innen darauf hinzuweisen, dass Demokratie darin besteht, zu wählen, wie sie denken.
Und die FPÖ verwendet große Teile ihres Werbe- und Plakatbudgets dafür, die Leute dazu zu bewegen, zu wählen, wie sie denken, was in einer normalen Demokratie eigentlich überflüssig sein sollte.
Und hat damit auch weniger Geld für Anderes übrig, was vielleicht der Sinn der Stigmatisierung ist.
Auch die Thematisierung dieser Schweigespirale ist ein heikles Thema. Bei Versuchen, Dinge wie Schweigespirale oder Gruppendruck im sozialen Umfeld zu thematisieren, wurde mir immer wieder der Vorwurf gemacht, ich würde anzweifeln, ob Österreich eine Demokratie sei, ich würde nahelegen, dass Österreich eine Art Diktatur sei, wenn man nicht offen diskutieren kann, wenn man die eigene Meinung nicht sagen kann.
Der Unterschied ist natürlich das Resultat: Rassismus- oder Nazi-Vorwürfe oder Misstrauen in dieser Hinsicht kann man eher aushalten als Inhaftierung oder Zwangspsychiatrierung, wie das in wirklichen Diktaturen der Fall war.
Jetzt ein Blick zurück in der Geschichte, den man gleichzeitig als eine Erklärungsalternative betrachten kann:
Die FPÖ-stigmatisierende Berichterstattung begann 1986 mit dem Innsbrucker Parteitag, bei dem Jörg Haider die Macht übernahm bzw. von den Parteitagsdelegierten bekam.
Von zahlreichen Medien (je weiter links, umso heftiger) wurde seither dieser Parteitag als "Putsch" bezeichnet, die FPÖ als "Putschistenpartei" oder "Nazipartei".
Allerdings muß man auch die Vorgeschichte betrachten. Während der rot-blauen Koalition 1983-1986 hatte die FPÖ praktisch laufend Wahlen verloren und war serienweise aus den Landtagen geflogen, mit einer einzigen Ausnahme: Jörg Haiders Landesparteiorganisation in Kärnten.
Wenn eine Partei vor der Wahl steht, entweder unterzugehen oder einen radikalen Kurswechsel zu vollziehen, dann entscheidet sie sich normalerweise im Rahmen des ganz normal-menschlichen Selbsterhaltungstriebes gegen den Untergang und für den Kurswechsel.
Übrigens hat auch Jörg Haider die von Noelle-Neumann beschriebene Schweigespirale erkannt und in diversen Medien-Interviews seit den späten 1980er Jahren Dinge gesagt, so ähnlich wie: "Umfragen interessieren mich nicht, weil die öffentliche Meinung oft eine ganz andere ist als die veröffentlichte."
P.S.: nach dem Debakel im ersten Wahlgang der Bundespräsidentschaftswahlen gibt´s - laut Medienberichten - im zweiten fast kaum mehr Umfragen bzw. Veröffentlichungen derselben.
Was kurios und irgendwie verkehrt ist. Die strafrechtliche Problematik der "Täuschung bei einer Wahl" (§263 Strafgesetzbuch) hat - was den Einfluss auf das taktische Wählen "Ich wähle X, weil die Medien und Umfrageinstitute sagen, dass mein Lieblingskandidat Y keine Chance hat, in den zweiten Wahlgang zu kommen" betrifft - ausschliesslich im ersten Wahlgang Relevanz hat, im zweiten überhaupt nicht mehr.
http://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10002296
"Täuschung bei einer Wahl oder Volksabstimmung
§ 263. (1) Wer durch Täuschung über Tatsachen bewirkt oder zu bewirken versucht, daß ein anderer bei der Stimmabgabe über den Inhalt seiner Erklärung irrt oder gegen seinen Willen eine ungültige Stimme abgibt, ist mit Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder mit Geldstrafe bis zu 360 Tagessätzen zu bestrafen.
(2) Ebenso ist zu bestrafen, wer durch Täuschung über einen die Durchführung der Wahl oder Volksabstimmung betreffenden Umstand bewirkt oder zu bewirken versucht, daß ein anderer die Stimmabgabe unterläßt."
P.S. 2: diese Stigmatisierungsprozesse gibt´s übrigens schon seit vielen Jahrzehnten und Jahrhunderten. Sie waren einer der Gründe für die Einführung des geheimen Wahlrechts.
Früher (vor ca. 90 Jahren) haben diese Stigmatisierungsprozesse vielfach die SPÖ getroffen, während dieselbe Sozialdemokratie - na, wie formuliert man denn sowas ? - heute nicht mehr in der Opfer-, sondern falls überhaupt in einer der beiden Kategorien, dann eher in der anderen Kategorie zu finden ist.
P.S.3: ich bin nach wie vor der Meinung, dass keiner der beiden Kandidaten so richtig gut zu mir und Leuten wie mir passt, und halte auch entgegen allen Shitstorms und anderen Meinungen meinen an Favoritenlose gerichteten Weisswahlaufruf aufrecht, den zu ignorieren, zu überwinden, lächerlich zu machen oder Ähnliches Mächtigeren als mir wohl nicht schwerfallen wird. Ganz abgesehen davon ist die Zeit bis zur Wahl sowie zu kurz, um noch was zu bewirken.