Stimmenthaltung ist ein relativ häufiges Phänomen in der Politik, und die Motive für Stimmenthaltung können ähnlich wie für (den verwandten) Wahlboykott sehr vielfältige sein:
Ein interessanter Fall von Stimmenthaltung in der letzten Zeit war die Stimmenthaltung von Daniela Holzinger-Vogtenhuber bei der Abstimmung innerhalb des Clubs der Liste Pilz bei der Frage, ob man Martha Bissmann ausschliessen soll oder nicht.
Meine Meinung dazu:
der Hintergrund war in diesem Fall meiner Meinung nach ein Gruppen-Eigen-Konflikt:
sie konnte nicht für den Antrag stimmen, wegen Frauensolidarität oder weil sie Bissmanns Argumente überzeugend fand (zumindest überzeugender als die von Pilz).
sie konnte aber auch nicht gegen den Antrag stimmen, weil sie das in einen Konflikt mit der Gruppe gebracht hätte.
Ihre Stimme war für die Mehrheitsfrage irrelevant, d.h. egal, ob sie für oder gegen den Antrag gestimmt hätte, oder sich enthalten hätte, es wäre eine eindeutige Mehrheit für den Ausschluss Bissmanns bei der Abstimmung herausgekommen.
Diese Enthaltungen bei Irrelevanz des eigenen Stimmverhaltens für die Mehrheit sind in der Politik eigentlich recht häufig, bis hinauf auf die höchste Ebene, z.B. den UNO-Sicherheitsrat.
Es ging meiner Meinung nach nicht um "Stimmen wollen", wie Noll behauptete, sondern um "Stimmen können".
Die Geschäftsordnung des österreichischen Natonalrats enthält eine sehr starke Privilegierung von Parteien und Clubs und eine sehr starke Benachteiligung des bzw. der einzelnen Abgeordneten, von der man geteilter Meinung sein kann, ob sie verfassungskonform oder verfassungswidrig ist, ist doch das "freie Mandat" rein theoretisch Teil der östereichischen Verfassung.
https://derstandard.at/2000083994804/Gruene-lassen-gruenaffine-Martha-Bissmann-kalt-abblitzen
"Artikel 56. (1) Die Mitglieder des Nationalrates und die Mitglieder des Bundesrates sind bei der Ausübung dieses Berufes an keinen Auftrag gebunden."
Im Prinzip ja, aber! wenn man als Parlamentarier einigermaßen sinnvoll arbeiten will, braucht man die Einbindung in einen Club.
Die Arbeitsmöglichkeiten von "wilden", bzw. "freien" Abgeordneten sind relativ schlecht.
D.h. wegen der Arbeitsmöglichkeiten besteht ein Zwang, Teil einer Gruppe zu sein.
So ähnlich wie die Vierprozenthürde bei der Wahl sind die Vorteile einer Clubmitgliedschaft im Vergleich zum/r "wilden" Abgeordneten ein Faktor, der das Stimmverhalten beeinflussen kann.
Man wird wohl schwer Hunderttausende Wählerinnen und Wählern aufrufen können, dass sie taktisch abstimmen mit Argumenten wie "verlorene Stimme" in Hinsicht auf Vierprozenthürde oder manipulative Umfragen bei der Bundespräsidentenwahl, aber gleichzeitig Holzinger den Vorwurf machen können, sich taktisch stimmzuenthalten.
https://de.wikipedia.org/wiki/Daniela_Holzinger-Vogtenhuber#/media/File:2016_Daniela_Holzinger-Vogtenhuber_(32502014155).jpg
Daniela Holzinger-Vogtenhuber, deren Stimmenthaltung Diskussionen auslöste.
Interessant, dass Noll 93% Zustimmung bekommt, aber Holzinger 80% Ablehnung. Das hängt wohl auch damit zusammen, dass Noll als gut vernetzter Wiener eine hervorragende Medienpräsenz hatte, hingegen Holzinger als Oberösterreicherin eine schlechte.
Ich halte weder die Argumente von Noll noch die von Holzinger für stichhaltig, sondern glaube, dass die Gruppe und die besseren Arbeitsmöglichkeiten als Clubmitglied ausschlaggebend waren dafür, dass sie nicht so abstimmte, wie sie das rein sachlich wahrscheinlich gewollt hätte, aber vom Resultat und vom Auftritt her sind mir die Entscheidungen und vermuteten Hintergründe Holzingers irgendwie sympathischer.
Nun kann man sagen, die Privilegierung der Clubmitglieder im Vergleich zu "wilden" Abgeordneten ist kein "Auftrag" im Sinne des obengenannten Verfassungsparagraphen, aber das erschiene mir irgendwie gekünstelt.