Ein Artikel im manchmal verschrobenen selbsternannten "Qualitäts"- Medium "Der Standard" hat nun eine Debatte vom Zaum gebrochen, ob im Gefolge der kürzlichen niederösterreichischen Landtagswahl alles mit rechten Dingen zugegangen sei.
"Der Standard" zitiert einen angeblichen Verfassungsexperten, der behauptet, die Angelobung von Mikl-Leitner als Landeshauptfrau sei illegal und verfassungswidrig gewesen (genau genommen Verstoss gegen die niederösterreichische Verfassung), weil die FPÖ sich stimm-enthalten habe.
Das ist insofern nicht völlig unplausibel, als in der NÖ-Landesverfassung tatsächlich von "Stimmenmehrheit" die Rede ist, was aber offen lässt, ob damit die Mehrheit der potenziellen Stimmen (also mit Enthaltungen), die Mehrheit der abgegebenen Stimmen oder die Mehrheit der abgegebenen, gültigen Stimmen gemeint ist.
Aber eigentlich ist es sehr üblich, in so einem Kontext die Mehrheit der abgegebenen, gültigen Stimmen zu verwenden, als legitime Grundlage für eine Wahl.
Wenn man den Grundsatz anwenden würde, dass eine Mehrheit der potenziellen Stimmen vorliegen muss für eine gültige Wahl, dann müsste man zahlreiche Landesregierungen oder Bundesregierungen oder Stadt- und Gemeinderegierungen, sowohl von Gegenwart wie auch von Vergangenheit als illegal und verfassungswidrig betrachten.
Hier der Artikel 35 der niederösterreichischen Landesverfassung:
"Artikel 35 Wahl
(1) Die Wahl der Mitglieder der Landesregierung hat in der ersten Sitzung des neugewählten Landtages zu erfolgen.
(2) Wahlvorschläge für die Wahl zum Mitglied der Landesregierung sind beim Präsidenten des Landtages von den Landtagsklubs nach Maßgabe der folgenden Bestimmungen zu erstatten und müssen von mindestens der Hälfte der Mitglieder des Landtagsklubs unterschrieben sein.
(3) Zur Feststellung der Mandatsstärke der einzelnen Parteien ist jeder Abgeordnete jener Partei zuzuzählen, auf deren Wahlvorschlag er bei der vorangegangenen Landtagswahl stand.
(4) Der Landeshauptmann wird vom Landtag in einem eigenen Wahlgang mit einfacher Stimmenmehrheit gewählt. Bei Stimmengleichheit gilt derjenige als gewählt, der von der mandatsstärksten Partei vorgeschlagen worden ist. Bei Mandatsgleichheit gilt derjenige als gewählt, der von jener Partei vorgeschlagen worden ist, die bei der vorangegangenen Landtagswahl die meisten Stimmen auf sich vereinigen konnte.
(5) In einem weiteren Wahlgang sind die beiden Landeshauptmann-Stellvertreter, die den zwei mandatsstärksten Parteien zu entnehmen sind, mit einfacher Mehrheit zu wählen.
(6) Die Landesräte sind nach den Grundsätzen des Verhältniswahlrechtes auf die einzelnen Parteien aufzuteilen und zu wählen. Die Wahlvorschläge haben so viele Namen von Wahlwerbern zu enthalten, als der Partei an Mandaten in der Landesregierung, unter Einrechnung des gewählten Landeshauptmannes und der gewählten Landeshauptmann-Stellvertreter, nach dem Verhältniswahlrecht zukommen. Kommt nach dem Verhältniswahlrecht zwei oder mehreren Parteien ein Anspruch auf einen Landesrat zu, so steht der Anspruch jener Partei zu, die bei der vorangegangenen Landtagswahl die höhere Stimmenanzahl auf sich vereinigen konnte.
(7) Bei der Wahl der Landesräte sind nur jene Stimmen gültig, die auf einen Wahlvorschlag gemäß Absatz 6 entfallen. Leere Stimmzettel bleiben bei der Ermittlung des Wahlergebnisses außer Betracht."
Während also diese Einstufung des Standard-"Experten" ziemlich obskur erscheint, haben andere Aspekte eher die wirkliche Sprengkraft:
Wendet man bei der Verteilung der Landesratssitze auf das Wahlergebnis der niederösterreichischen Landtagswahl als Verhältniswahlverfahren anerkannte Verfahren wie das Sainte-Lague-Verfahren an, und zwar direkt, so ergäbe sich nicht die Landesräteverteilung ÖVP 4, FPÖ 3, SPÖ 2, sondern die Landesräteverteilung ÖVP 3, FPÖ 2, SPÖ 2, Grüne 1, NEOS 1. Dadurch, dass vermutlich den Kleinparteien durch Verfassungswidrigkeit/Verhältniswahlwidrigkeit ihnen zustehende Landesratssitze vorenthalten wurden, und eine wichtige Koalitionsoption gestohlen wurde, verliefen die Koalitionsverhandlungen völlig anders, als sie bei Verfassungskonformität verlaufen wären. Die FPÖ konnte wesentlich mehr von ihrer Programmatik ins Landesregierungsprogramm umsetzen, weil der ÖVP-NÖ die ÖVP-Grün-NEOS-Option vermutlich verfassungswidrig bzw. verhältniswahlwidrig vorenthalten wurde.
Mit anderen Worten: es ergäbe sich dann eine schwarz-grün-NEOS-Option (5 schwarz-grün-NEOS Landesräte versus 4 rot-blaue), nach der sich Landeshauptfrau Mikl-Leitner laut Interviews gesehnt hätte, die SPÖ hätte nicht die Möglichkeit gehabt, durch Verweigerung und maßlos-übertriebene Forderungen eine türkis-blaue Regierung zu erzwingen, um bei der kommenden Nationalratswahl die Nazikeule und Faschismuskeule auch gegen die ÖVP zu schwingen.
Hier zeigt sich auch wieder, dass die FPÖ keineswegs die ausgegrenzte und benachteiligte Aussenseiterpartei ist, als die sie sich darzustellen versucht (FPÖ-Chef Kickl sprach in Interviews von Verfassungsbruch und Verletzung des gleichen Wahlrechts, falls Van der Bellen ihn im Fall der stärksten Partei nicht mit der Regierungsbildung beauftragen sollte), sondern die FPÖ ist eher zusammen mit den anderen Großparteien SPÖ und ÖVP der Verfassungsbrecher und die Systempartei, das illegal handelnde oder Illegalität vertuschende Großparteienkartell, das/die die Kleinparteien illegal und verfassungswidrig ausgrenzt und benachteiligt.
Zum Einen durch die Anwendung des schlechten D´Hondt-Verfahrens, das die Großparteien begünstigt, und zum anderen durch die iterative, nicht-direkte Anwendung dieses Verfahren, erst wird aus der Wählendenzahl die Mandatszahl abgeleitet, und dann aus der Mandatszahl die Landesrätezahl und dann aus der Landesrätezahl die Koalition und der koalitionsvorsitzende Landeshauptfrau, bzw. der Landeshauptmann. In jedem dieser drei Schritte können beträchtliche Verfälschungen, Rundungsfehler sich einschleichen, und durch die Summierung der Fehler in den drei Schritten ergibt sich eine wesentliche Abweichung von dem, was sich ergeben hätte, wenn man reines Verhältniswahlrecht direkt von den Wählendenzahlen auf die Landesrätezahlen angewandt hätte.
Die Judikatur des Verfassungsgerichtshofes besagt, dass ein Wahlsystem im Zusammenspiel, bzw. Zusammenwirken aller seiner Elemente zu betrachten ist, dass das Zusammenwirken der verschiedenen Elemente auf einen Wahlsystemwechsel hin zum Mehrheitswahlrecht hinauslaufen kann, was ein Verstoss gegen Verhältniswahl vorschreibende Verfassungen wäre. Das mehr oder weniger anerkannte Verfahren D´Hondt-Verfahren wird wegen seiner Fehler europaweit immer mehr abgelöst durch das Sainte-Lague-Verfahren. Eine VfGH-Anfechtung über die mehrstufige D´Hondt-Anwendung, sodass in Summe eine beträchtliche Verfälschung des Wählendenwillens zugunsten der Großparteien und zuungunsten der Kleinparteien herauskommt, hätte meiner Einschätzung nach wesentlich bessere Chancen, beim Verfassungsgerichtshof Erfolg zu haben und mit einer Einstufung der NÖ-Regierung als verfassungswidrig zu enden, als die vom angeblichen "Standard"-"Experten" behauptete Methode.
Weiters ein Problem ist, dass die Reihenfolge in der niederösterreichischen Landesregierung verkehrt zu sein scheint, wohl auch deswegen, weil die Landesverfassung veraltet und überholt ist und eher für Zeiten der 1960er oder 1970er Jahre gemacht erscheint, als Österreich ein Zweiparteiensystem oder Zweieinhalbparteiensystem hatte.
Während im Artikel 35 die Landesräteverteilung als letztes erfolgt, und nach der Koalitionswahl/LH-Wahl, läuft es in der politischen Praxis umgekehrt:
erst werden die Landesräte verteilt, und dann wird aufgrund der Koalitionsmöglichkeiten, die die Landesräteverteilung ermöglicht, über Koalitionen verhandelt.
Der vermutlich illegale und verfassungswidrige Ausschluss der Kleinparteien von der Landesräteverteilung scheint auch Großparteien wie die SPÖ zu korrumpieren, die dann zu intriganten Schwarz-Blau-Erzwingungsstrategien durch maßlos-überzogene Forderungen greift, und dabei gar nicht an das eigene Bundesland denkt, sondern einzig und alleine an die nächsten Nationalratswahlen.
Auch das, so wie die SPÖ-NÖ die Landesinteressen zu verraten und einzig und alleine an die kommenden Nationalratswahlen zu denken, kann man als Verstoss gegen die Landesverfassung oder gegen den "Geist der Landesverfassung" betrachten.
So gesehen gibt es eine verdeckte rot-blaue Koalition, die darauf beruht, erstens die Kleinparteien auszuschliessen, und ihnen eine Teilnahme an der Lanesräteverteilung zu verweigern, und andererseits die ÖVP unter Druck zu setzen.
Auch die Wahlkampfstrategie der SPÖ-NÖ damit, SPÖ-Landesparteivorsitzender Schnabl sei die "rote Hanni" (als Anspielung auf ÖVP-Landeshauptfrau JOHANNA Mikl-Leitner), lief einzig und alleine darauf hinaus, die FPÖ zu stärken und die ÖVP zu schwächen, was "funktionierte". Gerade Schnabl als Polizist hätte gute Chancen gehabt, zahlreiche potenzielle FPÖ-Wähler zu gewinnen - durch "rote Hanni"-Wahlkampflinie wurde das aber konterkariert.
Das hat eine gewisse Kontinuität zu ersten Republik, als die SPÖ eine "antifaschistische" Koalition mit den Christlich-Sozialen (ÖVP-Vorgängerpartei) ablehnte, und als die SPÖ lieber gemeinsam mit den Nazis gegen die Christlich-Sozialen Opposition machte.
Der damalige SPÖ-"Leitwolf" Otto Bauer lehnte in den frühen 1930er Jahren das Koalitionsangebot der Christlich-Sozialen (ÖVP-Vorgängerpartei) ab, mit dem Argument "Die SPÖ wird nicht den Arzt am Sterbebett des Kapitalismus spielen". Das ist nun schon ca. 90 Jahre her, und der laut Bauer totgesagte Kapitalismus lebt nicht nur, sondern er hat sich auch weltweit stark ausgebreitet, auch nach Russland und China, während der Kommunismus und die von Bauer glorifizierte Sowjetunion zusammengebrochen ist.
Man kann aber annehmen, dass es heute innerhalb der SPÖ im Inneren genauso heimliche Ablehnung und heimliche Kritik an dieser rot-blauen Koalition gibt, wie es das damals in den 1920er und 1930er-Jahren innerhalb der SPÖ gab, was aber erst viele Jahrzehnte später an die Öffentlichkeit kam, als Historiker wie zum Beispiel Norbert Leser diese Umstände aufarbeiteten.
Ähnlich wie man annehmen kann, dass es innerhalb der FPÖ so manche heimliche Kritik an der oft problematischen Politik dieser Partei gibt.
Auch frühere FPÖ-Parteivorsitzende wie die ehemalige Vizekanzlerin Susanne Riess-Passer, die Juristin ist, haben sich mit dieser Problematik oder mit ähnlichen Problematiken des öfteren beschäftigt und sie auch in die Öffentlichkeit getragen und in der Öffentlichkeit thematisiert, wie zum Beispiel in Fernsehsendungen, was bei der heutigen FPÖ nicht der Fall ist.
Riess-Passer wurde geboren in Braunau am Inn, also derselben Stadt an der österreichischen-deutschen Grenze, wo auch Adolf Hitler geboren war - auch eine sehr blöde Optik, die mein Mitgefühl erweckt, lebte ich doch lange Zeit in Graz, das zum Beispiel in Wien vielfach als Nazi-Stadt bezeichnet wurde, weil es die erste Stadt Österreichs war, in der Hakenkreuz-Flaggen am Rathaus hingen, und weil sie von Hitler dafür den Titel "Stadt der Volkserhebung" erhielt.
Landesverfassung Niederösterreich:
https://ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=LrNO&Gesetzesnummer=20000038
Die ÖVP-Grün-NEOS-Summe bei den Wählern und Wählerinnen beträgt 54,19%, was klar über der absoluten Mehrheit von 53.8% ist, die ÖVP und FPÖ auf Bundesebene bei der Nationalratswahl 1999 hatten, was zur Koalition Schüssel-Haider führte.
Alleine die wählerwillensverfälschende und vermutlich verfassungswidrige (B-VG-widrige), bzw. verhältniswahlwidrige niederösterreichische Landesverfassung verfälscht die 54.19%-ÖVP-Grün-NEOS-Mehrheit bei den Wählenden zu einer 44.4%-ÖVP-Grün-NEOS-Minderheit bei den Landesräten. Diese 10%-Verfälschung ist weit größer, als sie bei Verfassungskonformität sein müsste. Wenn man nur die wirksamen Stimmen betrachtet, also die Stimmen für Parteien über der Parlamentseintrittshürde, dann hätte ÖVP-Grün-NEOS sogar 54.72%, womit sich eine Wählerwillenverzerrung von 10.3% ergibt.
(Für Bundesdeutsche: "Landesräte" sind in Österreich quasi das, was in Deutschland die Minister einer Regierung eines Bundeslandes wären; und in manchen österreichischen Landesverfassung ist das sogenannte "Proporzsystem" verankert, dass also die Landesräte auf die Parteien verteilt werden müssen in Verhältnis zur Stimmenstärke bei Wahl bzw. Landesparlament)
Beifang: die FPÖ beschwert sich ja immer, der Bundespräsident Van der Bellen sei angeblich soooo gemein zu ihr. Aber dass er eine niederösterreichische ÖVP-FPÖ-Koalition mit diesem Regierungsprogramm angelobte, gegen die/das es beträchtliche verfassungsrechtliche Einwände gibt, verschweigt/vertuscht die FPÖ immer. Es stellt sich die Frage, ob der Bundespräsident hier gegen seine Pflichten verstiess, denn die Angelobung kann man auch als Attestierung der Verfassungskonformität betrachten.