Nudging (Schubsen) gilt als der neueste Trend in Sachen Menschensteuerung.
Der Wirtschaftswissenschaftler Robert Thaler und der Jurist Cass Sandstein schrieben vor einigen Jahren ein Buch mit dem Titel "Nudge: Improving Decisions About Health, Wealth, and Happiness" (deutsch: "Nudge: Wie man kluge Entscheidungen anstößt" ).
Allerdings ist das mit dem Nudging viel komplizierter, als die populistischen Autoren das suggerieren.
Ich möchte hier auf einige der Problematiken in Zusammenhang mit dem Nudging (dem Schubsen bzw. Anstossen angeblich richtiger Entscheidungen) eingehen.
1.) Der wohl krasseste Fall des gescheiterten Schubsens ist das kontraproduktive Schubsen, zum Beispiel wenn man jemanden auf eine Person bzw. ein Medium mit einer Empfehlung anstösst, in der Hoffnung, dass das Schubsobjekt dieser Empfehlung folgt.
Eine der größten Fehlerquellen bei Nudging ist aber, dass das Schubsobjekt die Person oder das Medium mit der Empfehlung nicht als positive Autorität, sondern als negative Autorität wahrnimmt, als Person oder Medium, das oft oder immer oder zumindest zuletzt falsche Empfehlungen und Ratschläge gibt.
Das Schubsobjekt wird dann nicht das tun, was der Schubser, die Schubserin oder die Schubsergruppe beabsichtigt, sondern eher genau das Gegenteil.
Daher ist vor einem Schubsen immer genau festzustellen, wie das Schubsobjekt tickt und wie es denkt, weil solche Schubse leicht kontraproduktiv werden können.
Eine ganz einfache Analogie ist ja der körperliche Schubs: er kann dazu führen, eine Person in die gewünschte Richtung zu bewegen, allerdings kann die Sache auch fürchterlich schiefgehen, zum Beispiel, wenn die geschubste Person das Gleichgewicht verliert, hinfällt, mit dem Schädel oder der Wirbelsäule auf eine Tischkante prallt oder einen Steinboden und stirbt.
Auch hier wieder bestätigt sich das alte Sprichwort:"Intentions don´t count, results do" ("Absichten zählen nicht, Resultate zählen" )
2.) Womit wir beim nächsten Aspekt sind: dem Gesundheitszustand des Schubsobjekts: die Wahrscheinlichkeit, dass ein Objekt bei einem physischen Schubs das Gleichgewicht verliert, steigt natürlich mit dem Krankheitszustand. Schubse funktionieren eher bei Gesunden, während sie bei Kranken eine sehr hohe Gefahr des Scheiterns oder - schlimmer als das Scheitern - der Kontraproduktivität, also der Bewirkung des Gegenteils des Beabsichtigten bergen.
Daher müssen verantwortungsvolle Schubser immer den Krankheitszustand des oder der Schubsobjekte mitbedenken, was sie aber oft nicht tun.
3.) Eine dritte Gefahrenquelle für scheiterndes Schubsen oder kontraproduktives Schubsen ist das unspezifische oder vage Schubsen: beispielsweise beinhält eine Tageszeitung hundert oder hunderte Artikel zu den verschiedensten Themen. Schubst man nun das Schubsobjekt auf eine Tageszeitung, in der Hoffnung, das Schubsobjekt werde schon verstehen, worum es gehe, so passiert oft das Gegenteil: nicht eine Entscheidung in Zusammenhang mit dem beabsichtigten Artikel wird angestossen, sondern eine Entscheidung in Zusammenhang mit einem der 99 oder noch mehr anderen Artikel. Jeder Schubs muss daher spezifisch sein, weil ansonsten die Verwechslungsgefahr sehr hoch ist. Und in der Folge der Verwechslung kann das Schubsen nicht nur unwirksam im Sinne der Absicht der Schubsenden, sondern sogar kontraproduktiv sein oder werden, in dem Sinne, dass das Schubsobjekt sich dann Vorwürfe macht, den falschen Artikel gewählt und ihm gefolgt zu sein.
4.) Beim Schubsen weiters zu berücksichtigen sind Klassenunterschiede. Die Unterschiede zwischen den Klassen sind so hoch, dass die Schubsenden (meist Angehörige der Mittel- oder Oberschicht) oft keine Ahnung haben, wie die zu Beherrschenden (oft bzw. meist Mitglieder der Unterschicht) ticken.
Der Philosoph Theodor Wiesengrund Adorno brachte das mit ca. folgendem Zitat zum Ausdruck: "Das bürgerliche Individuum ist derart in seiner Bürgerlichkeit gefangen, dass es über sie gar nicht hinausdenken kann".
Auch wenn ich Adorno in vielerlei Hinsicht kritisch sehe (übrigens auch diesen Spruch früher kritisch sah), so muss ich gestehen, dass die Erfahrungen in Zusammenhang mit dem scheiternden bis kontraproduktiven Schubsen doch bis zu einem gewissen Grad Adorno rehabilitieren.
Falsches Schubsen kann gravierende negative Konsequenzen haben bis hin zur weitgehenden finanziellen Vernichtung des Schubsobjekts und zu schwerwiegenden Krisen desselben bis hin zum Selbstmord.
Aber nicht nur Selbstmord ist eine drastische Folge scheiternden Schubsens, auch Verkehrsunfälle können es sein. Nach einem scheiternden Schubsen neigen viele Schubsobjekte dazu, weniger aufmerksam im Strassenverkehr zu sein, was auch zu Verkehrsunfällen mit Todesfolge führen kann. Es sieht zwar oberflächlich aus wie ein Verkehrsunfall, ist aber in Wirklichkeit eine Folge des gescheiterten Schubsens.
Generell ist das scheiternde, aber eigentlich gutgemeint gewesene Schubsen rein phänotypisch (rein vom Erscheinungsbild) schwer von der böswilligen Intrige zu unterscheiden.
Ein Folge davon kann sein, dass das Schubsobjekt, das unabsichtlich in die Katastrophe geschubst wurde, die Schubser bzw. Schubserinnen ebenso irrtümlich für Verbrecher hält, wie die Schubser oder Schubserinnen den scheiternden bis kontraproduktiven Schubs für eine wohltätige Idee hielten.
Die Folge einer derartigen scheiternden, aber eigentlich gutgemeinten Schubses kann dann auch ein Abdriften des Schubsobjekts in den Anti-Eliten-Terrorismus oder in die Kriminalität sein.
Generell ist die Frage des Nudgings, also des Schubsens, eng verbunden mit dem "law of unintended consequences", mit dem "Gesetz der unbeabsichtigen Folgen", von Robert K. Merton.
Auch wenn ich früher eher ein Befürworter des Nudging war, so muss ich im Lichte neuerer "Forschungsergebnisse" zugeben, dass beim Nudging, also beim Schubsen, doch viel mehr schieflaufen kann, als ich das früher einmal gedacht habe.
Beim Nudging/Schubsen kommt noch hinzu, dass die Schubsprozesse oft nicht dokumentiert und nachweisbar sind, sodass für das Opfer des scheiternden bis kontraprodutiven Schubsens oft keine Möglichkeit besteht, den direkten Schaden einzuklagen, ganz zu schweigen vom Verdienst- und Einnahmenentgang, der noch schwerer nachzuweisen ist, was die Klagschancen bei diesem Aspekt des scheiternden bis kontraproduktiven Schubsens praktisch auf Null senkt.
Generell ist allen Schubsern und Möchtegern-Schubsern ins Stammbuch zu schreiben: "Kenne Dein(e) Schubsopfer bzw. Schubsobjekt(e) ganz genau, weil Du ansonsten wahrscheinlich unabsichtlich Riesenschaden anrichtest!"
In Anbetracht der Komplexität der Dinge, der Chaostheorie, und des Gesetzes der unbeabsichtigen Folgen ist daher fraglich, ob Schubsen / Nudging überhaupt eine vertretbare Herrschafts- und Lenkungstechnik ist, oder nicht prinzipiell durch das altmodische Miteinanderreden ersetzt werden sollte.
Pixabay License / kalhh https://pixabay.com/de/photos/h%C3%A4nde-mann-b%C3%BChne-pr%C3%A4sentation-966492/
Menschenlenkung und Menschensteuerung durch Schubsen und Ziehen ist eine ungeheuer komplexe Sache, bei der leicht was schiefgehen kann, weil zwei unterschiedliche Denkkonzepte aufeinanderprallen und in Konflikt miteinander kommen können, das der Schubser und das der Geschubsten.
P.S.: Schubsen wird auch von den meisten europäischen Regierungen als Mittel der modernen Menschenführung betrachtet.