Unter "wohlwollender Neutralität" versteht man eine formale, aber nicht wirkliche Neutralität, insbesondere kleiner und ohnmächtiger Staaten. Z.B. dass Schweden oder die Schweiz zwar formal neutral waren, aber im Zweiten Weltkrieg immer ein bisschen der jeweils dominierenden Kriegspartei zuneigten, anfangs den Achsenmächten (Deutschland, Italien, Japan, ...) und später den Alliierten (USA, GB, SU, ...).
Ob die Erzlieferungen an Nazideutschland, die die formal-neutralen Schweden zuliessen, oder die vielfältigen Geschäfte, darunter auch Waffengeschäfte, die die formal-neutralen Schweizer für die Achsenmächte betrieben, neutralitätskonform waren, ist eine umstrittene Frage.
Auch Österreichs Neutralität hat diese Aspekte des Wohlwollens.
Alleine schon die österreichische Neutralität bedeutete in der damaligen Situation (einer Blöckekonfrontation zwischen NATO und Warschauer Pakt) eine Art der wohlwollenden Neutralität, weil Österreich und die Schweiz einen neutralen Keil darstellten, der Truppenverlagerungen von Deutschland nach Italien oder umgekehrt unmöglich gemacht hätte - zumindest rein rechtlich hätte machen müssen.
CC / zug. Gem. Julian Oster https://de.wikipedia.org/wiki/Kalter_Krieg#/media/File:NATO_vs._Warsaw_(1949-1990).svg
Blöckekonfrontation im Kalten Krieg: Österreich und Schweiz als neutraler Riegel zwischen den NATO-Mitgliedern Deutschland und Italien. Genau diese "neutraler Riegel"-Funktion machte einen Angriff des Warschauer Pakts auf den Westen wahrscheinlicher, entgegen der Friedensrhetorik, die man mit der Neutralität verbindet. Auch der nukleare Rüstungswettlauf, beginnend mit der nuklearen Aufrüstung des Osten mit SS-20-Atomraketen, die dann die NATO-Nachrüstung und den Doppelbeschluss nach sich zog, kann als Konsequenz dieses neutralen Sperrriegels, der die NATO schwächte und den WaPa stärkte, gesehen werden.
Österreich (insbesondere die Tiroler) wären gemäß Neutralität verpflichtet gewesen, unter Einsatz des eigenen Lebens zu verhindern, dass NATO-Truppen über den Brenner verschoben werden, um z.B. Deutschland oder Italien zu unterstützen im Falle eines WaPa-Angriffs.
Und diese Sperrriegel-Funktion ist die pro-sowjetische Komponente der wohlwollenden Neutralität Österreichs. Allerdings kann man umgekehrt argumentieren, dass kaum Österreicher oder Tiroler ihr Leben einzusetzen bereit gewesen wären, nur um zu verhindern, dass Truppen von Deutschland nach Italien verlagert werden oder umgekehrt.
Auf der anderen Seite war die österreichische Neutralität auch eine pro-westlich-wohlwollende Neutralität:
denn österreichische Militärdoktrinen der 1970er und 1980er Jahre beinhielten z.B., dass das österreichische Bundesheer WaPa-Truppen bei einem Durchmarsch durchs Donautal lange genug aufhält, damit z.B. NATO-Truppen sich besser auf einen Angriff vorbereiten konnten.
Und was Wirtschaftskonzept und Vielparteiendemokratie betrifft, passte Österreich zum Westen und war nicht neutral.
In Österreich gab es in allen Parteien (mit Ausnahme der Kommunisten) eine mehr oder weniger große Angst davor, die Sowjetunion könnte eine Art Putsch in Österreich machen, so ähnlich wie in der Tschechoslowakei 1948.
Daher auch die harte Vorgehensweise auch von Sozialdemokraten wie z.B. Franz Olah und "seiner" Bauarbeitergewerkschaft gegen streikende Kommunisten im Jahr 1950 (diese Streiks konnten auch als Vorläuferaktivität zu einem Tschechoslowakei ähnlichen Putsch gesehen werden).
Das österreichische Bundesheer hat übrigens überwiegend deutsche Waffensysteme, z.B. den Leopard-2-Panzer aus dem Jahr 1979 (auch nicht mehr das neueste).
CC / zug.gem. Bundeswehr
Foto: ca. 40 Jahre alte Leopard-Panzer deutscher Produktion, die die modernsten Panzer Österreichs darstellen. Es ist zweifelhaft, ob diese Panzer in einem heutigen Gefecht bestehen würden, auch wegen fehlenden Ortungssystemen. So gesehen ist das österreichische Bundesheer ein potemkinsches Dorf.
Auch der Eurofighter als deutsch-französisches Projekt kann als Zeichen für die Westorientierung gelten.
Rein theoretisch hat Österreich seine Neutralität ja aus freien Stücken erklärt. So steht es zumindest im Neutralitätsgesetz: bzw. der wirklichen Version des Neutralitätsgesetzes: Österreich erkläre aus freien Stücken seine Neutralität.
Allerdings enthält dieses Gesetz schlawinerhaft ein Hintertürchen, nämlich die Formulierung "Zum Zwecke der dauernden Behauptung seiner Unabhängigkeit nach außen und zum Zwecke der Unverletzlichkeit seines Gebietes erklärt Österreich ..."
In der Praxis heisst das, wenn die Neutralität der österreichischen Unabhängigkeit und Gebietsunverletzlichkeit nicht dient oder ihr sogar schadet, dann ist Östereich nicht mehr an das Neutralitätsgesetz gebunden.
Ein anderer Aspekt ist der der Erpressung durch die Sowjetunion: die Sowjetunion stellte sich auf den Standpunkt, solange mit der Roten Armee Ostösterreich besetzt zu halten, bis Österreich seine Neutralität erklärt.
Wenn diese Erpressung öffentlich gemacht worden wäre, dann wäre das Neutralitätsgesetz wegen Erpressung rechtsungültig.
Und man kann das Hintertürchen, das die Österreichischen Verhandler hineinreklamiert hatten, als Revanche für die Erpressung betrachten.
Oft wird ein Zusammenhang gezogen zwischen Neutralität und Frieden behauptet: aber gerade das österreichische Neutralitätsgesetz aus dem Jahr 1955 ist ein Gegenbeispiel: und zwar weil es in einem Nachbarland, nämlich Ungarn, im Jahr danach eine "Los von Moskau"-Strömung erzeugte, die zu einem Aufstand wurde, der mit vielen Toten von Truppen des Warschauer Pakts niedergeschlagen wurden. Auch der Posener Aufstand war möglicherweise vom selben Motiv getragen, so wie Österreich loszukommen von sowjet-russischer Besatzung.
Allerdings büßte der Warschauer Pakt und die Sowjetunion durch die Brutalität der Niederschlagung des ungarischen Volksaufstands sehr viel an Attraktivität ein, wenn man einmal von linksextremen Kreisen absieht. Im ungarischen Volksaufstand waren ca. 3000 Menschen (hauptsächlich Ungarn) getötet und ca. 19000 verletzt worden, teilweise schwer. Ca. 200.000 Ungarn flüchteten, hauptsächlich nach Österreich und von dort aus oft weiter.
Die damaligen Erfahrungen Ungarns sind vielleicht ein Grund dafür, dass in Ungarn Eigenstaatlichkeit und Unabhängigkeit von großen, überstaatlichen Organisationen (wie EU) soviel zählen, ähnlich wie in manchen anderen osteuropäischen Staaten.
Belgien und die Niederlande hatten aus dem Zweiten Weltkrieg den genau umgekehrten Schluss gezogen wie Östereich: sowohl im ersten als auch im zweiten Weltkrieg waren Niederlande und Belgien trotz Neutralität von deutschen Truppen überrannt worden, weil das flache Gelände eine so gute Angriffsbasis für einen Angriff von Deutschland auf Frankreich oder umgekehrt war.
Daher hatten Belgier und Niederländer den Glauben an die Neutralität völlig verloren und sahen einzig und alleine in einer NATO-Mitgliedschaft die Garantie ihrer Sicherheit.
Und natürlich heisst der österreichische Nationalfeiertag zu recht österreichischer Nationalfeiertag; denn damit endete die Phase, in der österreichische Regierungen beim Alliierten Rat wegen jeder Kleinigkeit betteln gehen mussten. Auch wenn die Neutralität ein Resultat einer Erpressung gewesen war, so hatte Österreich durch Gesetzeshintertürchen in Trickserei-Nähe eine Fluchtmöglichkeit erreicht, ebenso wie im Ernstfall wohl nur eine verschwindend kleine Minderheit in Österreich bereit gewesen wäre, sein Leben zu lassen, nur um zu verhindern, dass NATO-Truppen von Deutschland nach Italien verschoben werden oder umgekehrt.
CC / zg.gem. Univ. of Texas San Jose
Westfeldzug 1940: Belgien und Niederlande werden - obwohl oder gerade weil neutral - von der deutschen Armee überrannt; einer der wichtigsten Gründe, warum diese beiden Staaten Neutralität ablehnen und vehemente NATO-Befürworter sind.
Dadurch, dass Österreich heute (gemeinsam mit der Schweiz und mit Liechtenstein) zu 100% von der NATO umgeben ist, ist die Kombination aus Neutralität und Bundesheer, insbesondere bei Abzügen aus internationalen Missionen, z.B. am Golan, eigentlich sinnlos.
In den 1960er Jahren war Österreich neutral zwischen Ostblock WaPa und Westblock NATO. Aber nach dem Zusammenbruch des WaPa und nachdem Österreich von der NATO komplett umgeben ist, zwischen welchen beiden Blöcken will Österreich da noch "neutral" (von ne-utrum: keines von beiden) sein ? Neutral zwischen NATO-Mitglied und EU-Partner Italien im Süden und NATO-Mitglied und EU-Partner Deutschland im Norden ???
Vielleicht sind wir Österreicher nur deswegen "neutral" oder pseudo-neutral, weil es erstens momentan saubillig ist, nichts für eigene Sicherheit tun zu müssen, weil der Schutzschirm NATO alles erledigt; und weil es uns egal ist, wenn irgendwer anderer uns als Sicherheitsschmarotzer und Trittbrettfahrer der europäischen Sicherheitssysteme betrachtet, für die wir keinen Beitrag leisten, sondern von denen wir ausschliesslich profitieren. Aber es kann sein, dass Österreich irgendwann einen hohen Preis für dieses jetzige Trittbrettfahrertum zahlen muss.