VfGH-Kritiker Noll, Sperl und Frey haben unrecht bzgl. des Verfassungsgerichtshofurteils zur Aufhebung der Bundespräsidentenwahl
Alfred J. Noll und Eric Frey behaupten, der Verfassungsgerichtshof (VfGH) irre und interpretiere B-VG Art. 141 falsch: „Der VfGH hat einer Anfechtung stattzugeben, wenn die behauptete Rechtswidrigkeit des Verfahrens erwiesen wurde und auf das Verfahrensergebnis von Einfluss war“. Frey erfindet ein zusätzliches „nur“, das in der Tat einen Riesenunterschied machen würde, wenn es denn in der Verfassung stünde, was es aber nicht tut: „VfGH hat nur dann einer Anfechtung stattzugeben“ oder „VfGH hat dann und nur dann einer Anfechtung stattzugeben“ steht nun einmal nicht in der Verfassung. Für den Fall, dass Rechtswidrigkeiten erwiesen wurden und auf das Ergebnis nicht eindeutig bewiesenermaßen von Einfluss waren, aber doch sein konnten, ist in der Verfassung weder in die eine noch in die andere Richtung eine Regelung getroffen. Dennoch hat sich in zahlreichen Judikaten eine Judikatur entwickelt, die auf „sein konnten“ hinausläuft: die VfGH-Urteile 256, 326, 391, 447 variieren das „konnten“: „Einfluss auf das Ergebnis haben konnte“, „kann .. Einfluss auf das Ergebnis .. ausüben“, „Gesetzwidrigkeiten auf das Wahlergebnis objektiv – das heißt nach Ansicht der entscheidenden Behörde – von Einfluss sein konnten“, „ein das Wahlergebnis wesentlich zu beeinflussen geeigneter Mangel“.
Was auch sehr viel Sinn macht: angenommen, eine kleine Partei, von der nicht von Vornherein klar ist, ob sie den Einzug (z.B. Sprung über die Fünfprozenthürde) schaffen wird, legt einen gültigen und ausreichend unterstützten Wahlvorschlag vor, wird aber von den Wahlbehörden ausgeschlossen, begehrt eine Anfechtung (solche Fälle hat es gegeben): dann kann sie natürlich nicht nachweisen, dass sie den Sprung über die Hürde geschafft hätte, wenn sie am Wahlzettel gestanden hätte. In einem solchen Fall würde die Beweislast zu einer Rechtsmittellosigkeit der benachteiligten und rechtswidrig ausgeschlossenen Partei führen.
Eher als ein „nur“ oder ein „genau, dann wenn“ in die Verfassung hinzufantasieren, könnte man das „Wahlergebnis“ oder das „Verfahrensergebnis“ weiter interpretieren: ein Bürgerkrieg, der die Vertrauensunwürdigkeit einer mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit manipulierten Wahl zur Ursache hat, kann auch als Wahlergebnis betrachtet werden (der Krieg in der Ukraine ist möglicherweise zumindest teilweise Folge der Vertrauensunwürdigkeit vorangegangener ukrainischer Wahlen).
VfGH-Urteil 391/1925 besagt: „Voraussetzung für die Aufhebung einer Wahl ist nicht der Umstand, dass die anfechtende Partei einen Einfluß gesetzwidriger Vorgänge im Wahlverfahren auf das Wahlergebnis ausdrücklich behauptet, sondern lediglich, dass diese Gesetzwidrigkeiten auf das Wahlergebnis objektiv – das heißt nach Ansicht der entscheidenden Behörde – von Einfluß sein konnten.“ Das heißt, dass der VfGH autonom auch den ersten Wahlgang zu prüfen oder sogar zu wiederholen anordnen hätte können; die Nichtprüfung Wiener Bezirke sowie Unregelmäßigkeiten in Wien (vielleicht auch Nichtversendung amtlicher Wahlinformationen) hätten der Ausgangspunkt dafür sein können. Allerdings beendete Präsidentschaftskandidat Andreas Khol seine Karriere vor der VfGH-Entscheidung; d.h. wenn der VfGH eine Wiederholung auch des ersten Wahlgangs angeordnet hätte, dann wären wahrscheinlich wegen des Nachnominierungsverbots der Großteil der Khol-Wähler zu Griss gewechselt, wodurch Griss Van der Bellen überholt hätte. Da Griss Ersatzmitglied des VfGH ist, wäre die problematische Optik entstanden, dass der VfGH einem seiner Mitglieder zum Präsidentenamt verhilft. Umgekehrt den ersten Wahlgang nur deswegen nicht zu prüfen und zu wiederholen, weil bei Prüfung und Wiederholung eine schlechte Optik für den VfGH entstünde, ist auch problematisch. Alles in alles ist diese Wahl auch juristisch ein Problem.
Der Kritik am VfGH, dass die Veröffentlichung von Teilergebnissen vor Wahlschluss aller Wahllokale unproblematisch sei, kann ich nicht zustimmen. Dadurch entsteht ein Zweiklassensystem von Wählern: die einen, die nicht taktisch wählen können und die anderen, die das sehr wohl können. Und der VfGH bestätigt mit dieser Linie auch meine Kritik an den Meinungsumfragen und Medien im ersten Wahlgang, die irrtumsbewirkendes taktisches Wählen verursachen, eine schwere Beeinträchtigung der Reinheit der Wahl. Aber der VfGH ist beschränkt auf das reine Wahlverfahren, und die Meinungsumfragen gehören nicht dazu. Man kann das VfGH-Urteil auch als Aufforderung des VfGH an das Parlament sehen, das Bundespräsidentenwahlgesetz zu ändern, um durch Meinungsumfrageninstitute und Medien irrtumsbewirkendes taktisches Wählen zu verhindern.
In Zusammenhang mit Wahlmanipulation sind auch vorhergehende Polarisierungsprozesse von Relevanz: genauso wie die Aussage der Van der Bellen unterstützenden Schauspielerin, man solle bei der Stimmgewinnung nicht allzu sehr illegal sein, eine Art Freibrief für Wahlmanipulation sein kann, genauso konnte das Linzer Programm der Sozialdemokratie von 1926 eine polarisierende und Wahlmanipulation hervorrufende Wirkung haben: konsequenterweise waren es Wahlbehörden des „Roten Wien“ (die im Jahr 2016 ununtersucht blieben), deretwegen 1927 die Wahl aufgehoben wurde; das 1927-Erkenntnis wurde oftmals als entscheidend für die Ungültigerklärung der Präsidentschaftswahl 2016 genannt, allerdings der historische und politische Hintergrund blieb unerwähnt.
Noll hat auch unrecht, wenn er behauptet, Hofer könne als Bundespräsident solange die Nationalratswahlen wiederholen lassen, bis eine absolute FPÖ-Mehrheit oder ein für die FPÖ ähnlich gutes Wahlergebnis herauskomme: der Bundespräsident darf den Nationalrat gemäß § 29 (1) nur einmal aus ein und demselben Anlass auflösen, was vorgezogene Neuwahlen zur Folge haben würde. Und selbst, ob er das ohne Erlaubnis der Regierung darf, ist strittig. Das genaue Wirkungsgebiet der Formulierung in B-VG §67(1) „verfassungsmäßig anderes bestimmt“ ist unklar.
Auf jeden Fall kann der Bundespräsident gemäß B-VG §60 (6) durch von der Bundesversammlung eingeleitete Volksabstimmung amtsenthoben werden.
Anders, als Gerfried Sperl behauptet, vertrete ich die Meinung, dass es dem VfGH nicht schaden würde, wenn er Serienanfechtungen stattgeben wurde. Das österreichische Bundespräsidentenwahlgesetz ist extrem problematisch, aber leider kann der VfGH es nicht direkt aufheben, ohne sich dem Vorwurf auszusetzen, politisch zu judizieren, aber nicht juristisch.
Noll übersieht auch, dass die Österreicher und –innen eine Tendenz dazu haben, machtbalanceorientiert zu wählen. In der zweiten Republik konnte niemals die Kanzlerpartei ihren Kandidaten bei einer Bundespräsidentenerstwahl „durchbringen“. Der einzige Grenzfall ist die Wahl von Rudolf Kirchschläger 1974, der von der SPÖ nominiert wurde, obwohl er – als reines ÖAAB-Mitglied – eher der ÖVP zuzuordnen war.
Anders gesagt: angenommen, Hofer wird Bundespräsident, dann hat die FPÖ bei einer von Hofer angesetzten vorgezognene Neuwahl wahrscheinlich einen Malus, der über den normalen Malus, der daraus entsteht, dass die Wählerschaft nicht Präsidenten- und Kanzleramt bei normalen Wahlen in die Hand einer Partei legen will, hinausgeht.
Dasselbe gilt natürlich auch umgekehrt: falls Van der Bellen gewählt würde, würden wahrscheinlich die Grünen bei der nächsten Nationalratswahl einen Malus bekommen, weil die Österreicher ungerne Kanzler und Präsident in einer Hand sehen.
Natürlich hätte der VfGH politischer urteilen können, und auch den ersten Wahlgang für ungültig erklären können oder das Bundespräsidentenwahlgesetz aufheben können. Aber das wäre (für einen Gerichtshof) unter Umständen der riskantere Weg gewesen.
Eric-Frey-Blog:
http://derstandard.at/2000040263644/Kein-Applaus-fuer-die-Verfassungsrichter?_blogGroup=1&ref=rec
Alfred J. Noll-Beiträge:
http://derstandard.at/2000041395884/Nicht-koennen-oder-nicht-wollen
http://derstandard.at/2000039769485/Halbzeitstand-im-Spiel-der-Gruppe-A
http://www.oe24.at/oesterreich/politik/Star-Jurist-warnt-vor-Norbert-Hofer/235310880
Gerfried Sperl-Beitrag:
http://derstandard.at/2000040791657/Hofer-laesst-nicht-locker-Waehlen-bis-es-passt
Bundes-Verfassungsgesetz:
http://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10000138
Bundes-Verfassungsgesetz Artikel 141 (Regelungen der Rechte, Möglichkeiten und Pflichten des VfGH)
Strafgesetzbuch-§ 263 "Täuschung bei einer Wahl" (bei mehr als drei Kandidaten können falsche Meinungsumfragen bzw. ihre Veröffentlichung strafrechtlich relevant sein und bis zu einem halben Jahr Haft beantwortet werden, weil sie zu irrendem taktischen Wählen führen:
http://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10002296
(Gemäß §261 StGB bezieht sich §263 "Täuschung bei einer Wahl" ausdrücklich auch auf die Bundespräsidentenwahlen)
Meine Blogs zum Thema:
VfGH-Urteil zur Aufhebung der Bundespräsidentenwahl:
https://www.vfgh.gv.at/cms/vfgh-site/attachments/5/7/8/CH0003/CMS1468412977051/w_i_6_2016.pdf
VfGH-Urteil 888/1927, das einen (unter mehreren) Präzedenzfällen für Wahlaufhebung darstellt, "wenn die Gesetzwidrigkeiten von Bedeutung für das Wahlergebnis sein konnten":
http://alex.onb.ac.at/cgi-content/alex?aid=vfb&datum=0007&page=264&size=45
Weitere Links zum Thema:
http://www.heute.at/news/politik/FPOE-zeigt-Schauspielerin-Katharina-Stemberger-an;art23660,1289754
https://www.marxists.org/deutsch/geschichte/oesterreich/spoe/1926/linzerprog.htm