Einige Thesen zum sogenannten "SPÖ-Wahldebakel":

These 1.) Die SPÖ-Mitgliederbefragung war ungültig, weil erstens das falsche Wahlsystem verwendet wurde: das verwendete Wahlsystem orientierte sich am Bundespräsidentenwahlsystem, das zwei Wahlgänge vorsieht, wobei die beiden Stimmenstärksten des ersten Wahlgangs am zweiten Wahlgang teilnehmen dürfen, falls keine/r die absolute Mehrheit im ersten Wahlgang erreicht. Dieses Wahlsystem ist maßgeschneidert für 2 Kandidaten oder für ein System aus 2 Großparteikandidierenden und bis zu mehreren Kleinparteikandidierenden, so wie Österreich es lange Zeit hatte.

Wenn drei in etwa chancengleiche Kandidierende existieren, dann muss man wohl ein Reihungswahlsystem / Präferenzwahlsystem verwenden. Und mit einem Reihungswahlsystem hätte vermutlich Rendi-Wagner aufgrund der Zweitpräferenzen gewonnen, weil sie in Sachfragen nie eine Extremposition einnahm.

Und die Mitgliederbefragung kann zweitens auch insofern als ungültig betrachtet werden, als den Wahlberechtigten zahlreiche Infos vorenthalten wurden, beispielsweise Bablers EU-feindliche Aussagen, die erst nach der Mitgliederbefragung einer größeren Öffentlichkeit bekannt wurden.

These 2.) Der sogenannte "technische Fehler", den Kommissionsleiterin Grubesa nannte, kann auch ein Hinweis auf Malware (also böswilliges Eindringen in fremde Computersysteme) sein, die Möglichkeit des böswilligen Eindringens in fremde Computersysteme zum Thema zu machen, kann man als positiv betrachten, quasi als Stärkung des Immunsystems oder Remote Control (Fernsteuerung eines Computers über Online-Verbindung) sein. Dieses Eindringen kann auch ein mangelhafter Virenschutz oder eine mangelhafte Firewall sein, und diese mangelhafte Firewall oder falsche Konfiguration des Computers könnte man auch als "technischen Fehler" bezeichnen. Es wäre zu einfach, einen einfachen Mitarbeiter deswegen zu shitstormen, weil diese IT-Fragen oft kompliziert sind und einen Laien überfordern können.

These 3.) Der sogenannte "Excel-Vertauschungsfehler" kann auch ein Hinweis sein auf ein wirtschaftswissenschaftliches Thema: die Ökonomen Kenneth Rogoff und Carmen Reinhart vertauschten im Jahr 2010 in ihrer Arbeit zum Thema Staatsverschuldung einige Excel-Daten.

https://de.wikipedia.org/wiki/Kenneth_S._Rogoff

https://de.wikipedia.org/wiki/Carmen_Reinhart

Hier der Artikel mit den fehlerhaften Excel-Tabellen aus dem Jahr 2010, "Growth in a Time of Debt" ("Wachstum in einer Zeit der Schulden" ):

https://scholar.harvard.edu/files/rogoff/files/growth_in_time_debt_aer.pdf

Rogoff/Reinhart vertraten die These, dass Staatsverschuldung das Wirtschaftswachstum negativ beeinflusse, machten in ihrer Arbeit einen Excel-Fehler, standen aber auf dem Standpunkt, dass dieser kleine Excel-Fehler die Grundthese ihrer Arbeit nicht beeinträchtigte; eine Position, der ich zustimme.

Allerdings die Andersdenkenden, z.B. Keynesianer bzw. Pseudokeynesianer, vertraten die Auffassung bzw. legten die Auffassung nahe, dass Schuldenmachen immer oder fast immer gut sei, und dass der kleine Excel-Fehler die ganze Arbeit von Rogoff/Reinhart diskreditiere / unglaubwürdig mache. Damit zusammen hängt auch die Frage, ob Schuldenmachen politisch sei, und ob zahlreiche Wirtschaftswissenschafter das Schuldenmachen nur deswegen propagieren, weil es populär ist, und weil es einem zahlreiche Anhänger und Leser bringt. Und für sehr populäre "Wirtschaftswissenschafter" oder Wirtschaftswissenschaftsimitate sind die oft hohen Bucheinnahmen ein Anreiz, unseriös zu arbeiten, und hohe wissenschaftliche Ansprüche fallen zu lassen, um hohe Bucheinnahmen zu erzielen.

Ich möchte Rogoff/Reinhart auch noch unterstützen in Hinsicht auf politische bzw. kriegerische Konsequenzen von Staatsverschuldung: dass die USA hochverschuldet sind bei ihrem geopolitischen und systemischen Rivalen China, trägt bei zu einem massiven Konflikt zwischen diesen beiden Supermächten, der ohnehin schon durch Spannungen in Bezug auf Ukrainekrieg und Taiwan-Konflikt belastet ist: Taiwan wird von China als abtrünnige Provinz betrachtet, deren militärische Rückeroberung erlaubt sei, während die USA den Standpunkt vertreten, dass eine Vereinigung von VR China und Taiwan nur friedlich, im beiderseitigen Einvernehmen und in Vereinbarkeit mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker möglich sei, wie es in der UN-Charta festgelegt ist.

Japan zum Beispiel ist intern verschuldet, der Staat Japan schuldet den japanischen Bürgern und Bürgerinnen. Ähnliches trifft für die EU zu. Diese Inlandsschulden sind mit praktisch keinem Kriegsrisiko verbunden, zumindest meiner derzeitigen Einschätzung nach. Die US-Schulden sind überwiegend Auslandsschulden, und die einigermaßen berechtigte Furcht der VR China, das verliehene Geld zu verlieren, auf welche Art auch immer (Plötzlicher Default und Zahlungsunfähigkeitserklärung, langsame Entwertung) kann zu Spannungen beitragen, und zusammen mit anderen Faktoren zu einem US-chinesischen Krieg führen, und dieser etwaige US-Chinesische Krieg kann in großen Teilen der Welt zu einem beträchtlichen Rückgang der Wirtschaft führen. US und China sind wirtschaftlich ungefähr gleichstark (BNP), aber sie haben unterschiedliche politische Systeme, Demokratie im Falle der USA, Diktatur/Autoritarismus im Falle der VR China.

Diktaturen/autoritäre Regime schaffen es vielfach besser, die Staatsverschuldung unter Kontrolle zu halten. So verringerte Putin in Erinnerung an die Rubelkrise in der Ära Jelzin (1990er Jahre) die russische Staatsverschuldung stark, was bedeutet, dass die nächste Finanzkrise vermutlich nicht von Russland ausgehen wird.

Ich habe einmal eine Statistik gemacht zur Korrelation zwischen Buntheit und Pro-Kopf-Verschuldung österreichischer Bundesländer. Und es ergab sich ein Korrelationskoeffizient von +0.546 für einen Zusammenhang zwischen Buntheit/Anzahl der Parteien, die im Laufe der Geschichte den/die LH gestellt hatten, und Verschuldung. D.h. tendenziell hatten die Bundesländer ohne vollen Regierungswechsel (die "incumbent states" ), also immer mit derselben LH-Partei, die geringere Verschuldung, hingegen die Länder mit "viel Demokratie" und vielen LH-Partei-Wechseln, also die "battleground states", in denen heftige und populistische Wahlkämpfe stattfanden, um den anderen Parteien Macht und Wähler wegzunehmen, tendenziell die höhere Verschuldung. Die zugrundeliegenden Daten sind nicht völlig zuverlässig, weil z.B. Wien sowohl Gemeinde als auch Bundesland ist, weil es durch Auslagerungen Möglichkeiten des Schuldenversteckens gibt.

Wenn man Wien und Niederösterreich als ein Bundesland betrachtet, was es früher auch war, und die hohe Verschuldung dieser beiden Bundesländer gemittelt und das als zweifärbiges Bundesland betrachtet, dann steigt der Korrelationskoeffizient für Buntheit und Verschuldung auf +0.893, was fast das Maximum von +1 ist (der Korrelationskoeffizient reicht von -1 bis +1). Die Korrelation der Verschuldung mit dem Breitengrad der Landeshauptstadt beträgt ca. +0.7 in beiden Fällen (d.h. je östlicher, umso höher ist die Verschuldung). Aber die Korrelation zwischen Verschuldung und Nicht-ÖVP-LH-Schaft steigt von ca. +0.5 auf +0.795, wenn man Wien und NÖ als ein Bundesland betrachtet. D.h. Dauernd ÖVP-LH bedeutet eher niedrige Schulden, hingegen Gemischt/mit LH-Partei-Wechseln heisst hohe Schulden. Aber das ist natürlich insofern fragwürdig, als der höchste Faktor bei den öffentlichen Schulden die Bundesschulden sind, und die ÖVP seit nun fast 40 Jahren ununterbrochen regiert.

These 4.) der zu einem wahnsinnigen großen Skandal aufgeblasene "Rechenfehler" "316+279=596" ist in Wirklichkeit gar nicht so schlimm.

https://twitter.com/MartinThuer/status/1664992876231639042

Denn erstens gibt es neben eindeutigen Babler-Stimmen, eindeutigen Dosko-Stimmen und eindeutig-ungültigen Stimmen noch eine weitere Kategorie von Stimmen: die schwer zuordenbaren Stimmen.

In diesem Fall eine. An und für sich ist es vollkommen legitim, diese schwer zuordenbaren Stimmen (oftmals 0.5%) explizit auszuweisen. Und die Publikation des SPÖ-Ergebnisses sollte auch eine Debatte anstossen über diese schwer zuordenbaren Stimmen, weil eben eine Debatte über diese schwer zuordenbaren Stimmen vermutlich dazu führen wird, dass es in Zukunft weniger schwer zuordenbare Stimmen gibt, so gesehen ist der nach Shitstorm zurückgetretenen SPÖ-Wahlkommissionsleiterin Grubesa zu danken. Die Idee, schwer zuordenbare Stimmen explizit auszuweisen bei der Veröffentlcuhung des Wahlergebnisses, ist eine wirklich gute, eben weil sie die Anzahl der schwer zuordenbaren Stimmen bei der nächsten Wahl verringern wird.

Was auch interessant ist, ist der Hinweis auf die 0.0% für den vom Wahlprozess ausgeschlossenen Berthold Felber (allerdings war Kopietz Leiter der Wahlkommission, als Felber ausgeschlossen wurde), der ein SPÖ-Wirtschaftstreibender oder so ist, was man auch betrachten kann als Hinweis darauf, dass die SPÖ mehr Wirtschaftskompetenz braucht, und in dieser Hinsicht ist der inzwischen zurückgetretenen Kommissionsleiterin Grubesa ebenfalls sehr zu danken aus meiner Sicht.

Die Veröffentlichung dieses SPÖ-"Wahlergebnisses" erfolgte übrigens am 3. Juni, also einen Tag, nachdem ich der SPÖ beigetreten bin und einen Antrag auf Wiederholung der SPÖ-Mitgliederbefragung nach Reihungswahlmethode beantragte.

Die SPÖ-Mitgliederbefragung endete übrigens am 10.5. Genau meinem Geburtstag.

These 5.) erstaunlich und mit sexistischem Unterton ist der Shitstorm, der sich seither über die nun ehemalige Wahlkommissionsleiterin Grubesa ergiesst, obwohl sie fast am Ende des Prozesses diese Funktion von Kopietz (SPÖ Wien) übernahm, der eigentlich die Kritik, die er nun über Grubesa ausschüttet, selbst einstecken müsste.

These 6.) die SPÖ und ihre internen Wahlen sind eigentlich gar nicht so wichtig / viel wichtiger ist das sehr ähnliche Bundespräsidentenwahlsystem, das manipulationsanfällig, extremismusfördernd und frauenfeindlich ist. Darum war der erste Wahlgang der Bundespräsidentenwahl 2016 vermutlich auch ilegal aufgrund §263 StGB, "Täuschung bei einer Wahl oder Volksabstimmung". Und darum habe ich die letzten beiden Bundespräsidentenwahl boykottiert.

These 7.) Wer weiss, was bei der heutigen 15-Uhr-Verkündung herauskommen wird. Vielleicht wieder eine Umdrehung des Wahlergebnisses zu Mehrheit Doskozil-Minderheit Babler.

These 8.) diese ganze Aufgeregtheit der gesamten politisch-medialen Szene über die geringfügigen Dinge, Aufregung über Kleinigkeiten bei gleichzeitigem Verschweigen der großen Probleme könnte fast auch gesehen werden als ein Beispiel für die "Madness of Crowds", die "Verrücktheit der Mengen", wie Dennis Murray das nannte.

These 9.) In der Politikwissenschaft gibt es immer wieder die These von der "Selbstopferung". Und auch diese Sache sollte man einmal überprüfen auf Selbstopferungs-Thesen.

These 10.) Es gibt scheinbar eine massive Politikverdrossenheit, bzw. Elitenverdrossenheit. Oder auch eine massive und oftmals überzogene Kritik an der SPÖ oder ihren Vertretern/Vertreterinnen. Diese massive Politikverdrossenheit und dieses radikale Shitstormen kann auch insofern zerstörerisch sein, als es fähige Leute von der Politik abhält, und zu einer negativen Selektion führen kann. Man sollte Andersdenkenden und anderen Parteien wohl mehr Respekt entgegenbringen. Und Häme, Frust und Zorn, so berechtigt sie auch sein mögen, können den Blick verstellen. Ebenso besteht die Gefahr, dass Nebensächlichkeiten skandalisiert werden, und dass durch die Empörung über Kleinigkeiten die Debatte über die wirklich wichtigen Fragen eingeschränkt oder verhindert wird.

These 11.) Es könnte Grubesa darum gegangen sein, die Opportunisten, die nur am Mandat und am Politikergehalt interessiert sind, aber überhaupt nicht an Politik, bloßzustellen, weil zahlreiche dieser Opportunisten und -innen erst "Doskozil ist der Größte!" riefen, als Doskozil als der Sieger galt, und dann hinterher "Babler ist der Größte!" riefen, als Babler als der Sieger galt.

These 12.) Es könnte Grubesa bei der "Veröffentlichung" des falschen Doskozil-Wahlsieges darum gegangen sein, den großen Unterschied zwischen Doskozil einerseits und Babler/Ludwig andererseits offenzulegen: als Doskozil als der Sieger galt, suchte er den Konsens mit Ludwig, aber als Babler als der Sieger galt, suchten Babler und Ludwig nicht den Konsens mit Doskozil oder den anderen Pro-Doskozil-Bundesländern. Es hat sich bei dieser "Wahl" wieder einmal der Wiener Bürgermeister durchgesetzt, nicht auf direkte Art und Weise im Rathauskeller den künftigen Parteivorsitzenden und Kanzler festzulegen, wie Häupl damit mit Gusenbauer und Faymann gemacht hatte, sondern als praktisch einziges Bundesland Babler zu unterstützen und ihn zum Parteivorsitzenden zu machen. Babler ist aus Sicht Ludwigs der harmlosere Kandidat, während Doskozil mit seinem starken Rückhalt in der SPÖ Burgenland möglicherweise die SPÖ auf eine Art und Weise reformiert hätte, die Ludwig gefährlich geworden wäre.

CC BY SA 3.0 / Karl Gruber https://de.wikipedia.org/wiki/Carmen_Reinhart

Michaela Grubesa (SPÖ Steiermark): zu Unrecht geshitstormt? Weil sie Teil der Dosko-Fraktion war ? Weil sie in einer sehr späten Phase die Leitung der Wahlkommission übernommen hatte, nachdem Kopietz (SPÖ Wien) die Weichen schon gestellt hatte ? Weil sie subversiv kommuniziert hatte ? Weil sie eine Frau ist ?

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