Betrifft: "Kein Platz für Kurt Gödel im Ehrenhof der Uni Wien", Presse, 19. Juni 2024
https://www.diepresse.com/18581052/kein-platz-fuer-kurt-goedel-im-ehrenhof-der-uni-wien
Bei aller Wertschätzung für Karl Sigmund und seine Beiträge zur evolutionären Spieltheorie: man kann es auch anders sehen als er. Viel weniger bekannt als Gödel ist in Österreich Daniel Shechtman, der 2011 den Chemienobelpreis bekam für die Entdeckung der fünfeckigen Kristalle, bzw. Quasi-Kristalle, für die er 1982 gekündigt und aus Forschergruppen ausgeschlossen worden war, weil es laut damaligem Kenntnisstand keine fünfeckigen Kristalle geben durfte, also in etwa der Zeit, in der der Gödel-Kult Ausmaße erreichte, die man als problematisch empfinden kann.
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Das Problem mit dem Wissenschaftsverständnis in Österreich liegt vielleicht - anders als Sigmand behauptet - eher darin, dass Österreich sich weder am von Karl Popper geprägten WissenschafterInnen-Verständnis orientiert, noch an dem des Wissenschaftshistorikers Thomas S. Kuhn. Laut Popper sind sich Wissenschafter der jederzeitigen Falsifizierbarkeit aller Forschungsergebnisse bewusst ist, hingegen laut Kuhn sind Wissenschafter ambivalenter und leisten einerseits gute und wertvolle Arbeit auf einem Paradigma beruhend, sind aber gleichzeitig manchmal ignorant, fast brutal gegenüber allen Sichtweisen, die außerhalb ihres Paradigmas liegen, bzw. dieses sogar kritisieren. Die Anerkennung bekommen Wissenschafter (siehe Shechtman) oft mit extrem hoher Verspätung, nachdem eine neue Wissenschaftergeneration herangewachsen ist, die nicht mehr so im alten Paradigma verhaftet ist, sondern offen für Neues, oder nachdem Wissenschafterkollegen zahlreiche ähnliche Phänomene entdeckten. Linus Pauling (ebenfalls Chemienobelpreisträger) sagte ca. 1990 über Shechtman: "Es gibt keine Quasi-Kristalle, nur Quasi-Wissenschafter" ), was beim damaligem Standing von Pauling ziemlich vernichtend war gegenüber einem jungen, umstrittenen Forscher, aber zum Mark-Twain-Spruch "Ein Mann mit einer neuen Idee gilt als verrückt, bis er sich damit durchsetzt" passt.
Aber zurück zu Gödel: die unbewusste, kaum hinterfragte Mainstream-Einschätzung seines Unvollständigkeitstheorems ist, dass die zweiwertige Logik der selbstreferentiellen Gödel-Aussage, die ihre eigene Unbeweisbarkeit bzw. Unableitbarkeit behauptet, adäquat sei. Wenn eine Grundannahme (wie die Zweiwertigkeit oder die Nicht-Existenz fünfeckiger Kristalle) in 99.99999% aller Fälle angebracht ist, dann neigen wir Menschen dazu, sie für allgemeingültig zu halten, sie zu verabsolutieren, sie auch in den Fällen für zutreffend zu halten, in denen sie gar nicht zutreffend ist, sie zu einem Paradigma zu erklären. Das vereinfacht die Dinge in den meisten Fällen, führt in seltenen Fällen aber zum Super-Gau wie beim Restrisiko der AKWs.
Der Begriff des "Lügners" in der Logik leitet sich von der Bibelstelle mit dem Kreter Epimenides ab, der behauptet, alle Kreter seien Lügner. Anil Gupta und Saul Kripke führten in den 1970er Jahren den Begriff des "kontingenten Lügners" ein für Aussagen, die sozusagen halb-wahrheitswert-negativ-selbstrefentiell sind, zum Beispiel "Diese Aussage ist falsch oder X". Interpretiert man die Aussage des Kreters Epimenides als "Alle Kreter machen ständig falsche Aussagen", so kann man mithilfe der klassischen zweiwertigen reductio ad absurdum beweisen oder schein-beweisen, dass zumindest eine andere wahre Aussage eines Kreters existiert, d.h. man schein-beweist ein quasi-empirisches Faktum aus einer reinen Aussage mit teilweise selbstrefentiellen Charakter. Genauso wie man die Epimenides-Aussage umformulieren kann zu "Diese Aussage ist falsch und alle anderen Aussagen von Epimenides und aller anderen Kreter sind falsch", so kann man die Gödel-Aussage unter der Voraussetzung, dass alle ableitbaren Aussagen wahr sind, umformulieren zu "Diese Aussage ist falsch oder sie ist wahr und unableitbar", was genau die scheinbeweis-anfällige Struktur des "kontingenten Lügners" wäre. Die Kritik an Gödel bzgl. Unvollständigkeitstheorem wäre also, dass er nicht unterscheidet zwischen Inkonsistenz zweier Aussagen und Paradoxikaliät einer wahrheitswert-selbstreferenziellen AUssage.
Ich würde statt der Gödel-Statue u.U. eine Shechtman-Büste vorschlagen mit Erläuterungstafel, die sein ebenso wechselhaftes Entdecker-Schicksal bekannt macht. Shechtmans Quasi-Periodizität ist weder die klassische Periodizität noch völlige Regellosigkeit, ähnllich wie die Paradoxikalität einer negativ-selbstreferentiellen Aussage, die ihre eigene Falschheit behauptet, weder klassisch-zweiwertig-gesehen den Wahrheitswert "Wahr", noch den Wahrheitswert "Falsch" hat.
Gemäß dem Interview des Medizinhistorikers Nils Hansson "Es braucht weniger Geniekult" in der NZZ vom 8.12.2023 könnte man auch eine Büste für den außeruniversitären Chirurgen Themistocles Gluck andenken, der die künstliche Gelenksprothese erfand, ohne dafür jemals entsprechend gewürdigt worden zu sein, schon gar nicht mit einem Medizinnobelpreis; als er im hohen Alter von 70 a.o. Professor wurde, galten er und seine Entdeckungen als zu alt. Gluck galt seinerzeit als Spinner und extremer Aussenseiter, so ähnlich wie Van Gogh zu Lebzeiten nur eines seiner Gemälde zu einem mickrigen Preis verkaufen konnte, während nach seinem Tod seine Gemälde zu den teuersten der Welt wurden. Es stellt sich die Frage, ob der angelsächsische Raum mit seiner "Maverick"-Kultur und auch mit seiner Abweichler-Kultur (kein Clubzwang im Parlament) innovationsfreundlicher und ikonoklasmusfreundlicher ist als andere Länder. Samuel A. Maverick war ein US-amerikanischer Rinderzüchter und Texas-Unabhängigkeitserklärungsproponent (ein Yale-Absolvent außerdem), der dadurch bekannt wurde, dass er seine Rinder nicht brandmarkte, was mit Diebstahls-Gefahr oder Verlust-Gefahr verbunden ist. Der "Maverick" ist ein auch positiv-konnotierter Begriff aus dem US-amerikanischen Sprachgebrauch für einen interessanten Aussenseiter.
Neben Maverick auch ein ernstzunehmender Kandidat für eine Uni-Wien-Büste ist Paul Feyerabend, der z.B. mit seinem Buch "Wider den Methodenzwang" zwar zahlreiche Fehlinterpretationen verursachte, aber eben auch einen realistischen Blick auf Miß- oder Zustände in der Wissenschaft hatte. Der in der Wissenschaft etablierte Begriff der "devianten" (also abwegigen, mißratenen) Logik rückt den "devianten" Logiker in die Nähe der sexuellen Perversion oder des psychopathischen Verbrechertums. Derartige Ansätze zu problematischen Methoden sind in der Wissenschaft präsent, obwohl sie der angeblichen "Freiheit der Wissenschaft" widersprechen. Der Fall von Gödels Unvollständigkeitstheorem hat gewisse Ähnlichkeit zu der Art, wie Feyerabend den Fall Galileo beschreibt.
Personenkult kann in der Wissenschaft zwar nicht soviel Schaden anrichten wie ähnlicher Personenkult in der Politik (z.B. rund um Stalin, Hitler oder Putin), aber dennoch ist derartiger nationalistischer Personenkult oft schädlich, insofern, als man die "Freiheit der Wissenschaft" auch interpretieren kann oder muss als Freiheit, ketzerische Gedanken und paradigma-kritische Gedanken zu veröffentlichen. Personenkult in der Wissenschaft (obwohl oder gerade weil er mit der Freiheit der Wissenschaft manchmal in einem gewissen Widerspruch steht) kann manchmal als probates Mittel erscheinen im Kampf der Disziplinen und Fakultäten um mediale Aufmerksamkeit und/oder um knappe uni-budgetäre Mittel. Und jeder Paradigmenwechsel in der Wissenschaft kann verbunden sein mit Ansehensverlust für die Vertreter des alten Paradigmas, die manchmal dazu verleitet sein können, ihre Macht und Autoritätsposition zu mißbrauchen, um den Paradigmenwechsel zu verhindern bzw. auf spätere Zeiten zu verschieben.
Die Public Relations Managerin der Uni Wien, Alexandra Frey, begründete die derzeitige Ablehnung einer Gödel-Statue mit einerseits der Absicht, Wissenschafterinnen in den Vordergrund zu rücken, mit einer Absage an historizistische Würdigungen in der herkömmlichen Form und mit der Absicht, künstlerische Formen zu forcieren. Feyerabend, der übrigens des öfteren als "Maverick der Philosophy of Science" bezeichnet wird, stünde einerseits eher für einen künstlerisch-anarchistisch-kreativen Zugang zur Wissenschaft, ebenso wie es vielleicht um eine völlig andere Frage geht, nämlich inwieweit Geniekult rund um Personen wie Gödel die Publikationsfreiheit und Wissenschaftsfreiheit anderer Personen einschränke: ich z.B. konnte damals in den 1980er Jahren meine Vorbehalte in Hinblick auf Gödels Unvollständigkeitstheorem und meinen Alternativvorschlag einer vierwertigen Logik für wahrheitswertselbstreferenzielle Aussagen nicht veröffentlichen, wegen das damals grassierenden Gödel-Kults, insbesondere angefacht durch das Hofstadter-Buch "Gödel-Escher-Bach". Ebenso geht es um die Frage der Auswirkungen einer Würdigung auf die Gesamtgesellschaft.
Dogmatische Verengung kann Mißtrauen in die Wissenschaft und die von Sigmund erwähnte Wissenschaftsskepsis erzeugen, hingegen die von Feyerabend geplante Buchserie, bei der Lakatos, der leider vor der Verwirklichung starb, eine kritische Replik auf "Wider den Methodenzwang!" hätte schreiben sollen, würde dem entgegenwirken. Die Wissenschaft als sachlicher, argumentgetragener, stil- und respekt-voller Diskurs zwischen verschiedenen Positionen (so wie in der beabsichtigten Feyerabend-Lakatos-Auseinandersetzung) könnte auch ein Vorbild und eine Alternative sein zum oft gehässigen, scheinargumentgeladenen politischen Diskurs, der derzeit die politische Stimmung wesentlich bestimmt, gerade in Zusammenhang mit dem Attentat auf Trump.
Eine weitere Möglichkeit wäre eine janusköpfige Büste mit einem Feyerabend-Gesicht auf der einen Seite als einem Kritiker strenger Methodik und einem Lakatos-Gesicht auf der anderen Seite als einem Verteidiger von Dogmen und Methodik, das entspräche vielleicht auch der von Frey angesprochenen Absage an die traditionell-historizistische geniekulthafte Würdigung und es hätte irgendwie auch den geforderten künstlerischen Charakter.
Holger Motzkau, Wikipedia/Wikimedia Commons (cc-by-sa-3.0) https://de.wikipedia.org/wiki/Dan_Shechtman#/media/Datei:Nobel_Prize_2011-Nobel_interviews_KVA-DSC_8039.jpg
Daniel Shechtman, Entdecker der Quasi-Kristalle, der 2011 dafür den Nobelpreis erhielt, nachdem er zu Anfang massive Probleme damit hatte, diese lehrbuchwidrige Entdeckung gemacht zu haben.
https://de.wikipedia.org/wiki/Dan_Shechtman
J.W. Evans, The Ames Laboratory, US Department of Energy / Gemeinfrei https://de.wikipedia.org/wiki/Dan_Shechtman#/media/Datei:Quasicrystal1.jpg
Quasi-Kristall mit vielfacher Fünfecksstruktur, während man vorher glaubte, es könne nur dreieckige, viereckige und sechseckige Kristalle geben.
Oursipan / Gemeinfrei https://de.wikipedia.org/wiki/Saul_Kripke#/media/Datei:Kripke.JPG
Saul Kripke, der gemeinsam mit Anil Gupta das Konzept des "Kontingenten Lügner", also einer speziellen Art der wahrheitswertselbstrefernziellen Aussage in die Wissenschaft einführte.
https://de.wikipedia.org/wiki/Saul_Kripke
https://de.wikipedia.org/wiki/Thomas_S._Kuhn
Kuhn war der Autor des wissenschaftstheoretischen Buchs "Die Struktur der wissenschaftlichen Revolutionen", in dem er zwischen einer Wissenschaftart, die auf dem Paradigma beruht, und einer Wissenschaftsart, die das Paradigma sozusagen "zerstört", unterschied.
Grazia Borrini-Feyerabend / CC https://de.wikipedia.org/wiki/Paul_Feyerabend#/media/Datei:Paul_Feyerabend_Berkeley.jpg
Paul Feyerabend, der Autor des Buchs "Against Method!", "Gegen den Methodenzwang!", in dem er z.B. herausarbeitete, dass jede Methodeneinschränkung im Laufe der Wissenschaftsgeschichte zumindest eine Erfindung oder Entdeckung für irregulär erklärt hätte.
https://de.wikipedia.org/wiki/Paul_Feyerabend
Sein Buch war provokant und irgendwie anarchistisch, es sollte das erste Buch in einer Serie werden, der das methodenverteidigende "Gegenbuch" von Irme Lakatos entgegengestellt werden sollte, was aber durch Lakatos´s Tod verhindert wurde.
Library of the London School of Economics and Political Science / No restrictions https://de.wikipedia.org/wiki/Imre_Lakatos#/media/Datei:Professor_Imre_Lakatos,_c1960s.jpg