Warum US-Polizei besser ist als ihr Ruf und US-Gefängnis- und Wahlsystem mitschuld

Die vermutlich extralegale Tötung von George Floyd führt weiterhin zu Reaktionen auf der ganzen Welt, zum Beispiel auch zu einer "Anti-Rassismus-Demo" in Wien, bei der Plakate mit dem Schriftzug "Cops ermorden Menschen" getragen und gezeigt wurden.

Speziell für die US-Polizei scheint dieser Fall zu einem PR-Desaster zu werden: nicht nur der Polizist, der Floyd tötete, sondern auch die drei Kollegen, die nichts dagegegen unternahmen, die sehr selektive Auswahl des Body-Cam-Materials, und der Versuch, nicht-Polizei-Videos zum Fall aus den Medien zu verdrängen, sehen sehr schlecht aus.

Allerdings ist die ganze Debatte sehr einzelfallsorientiert und läuft Gefahr, die größeren Zusammenhänge aus dem Blick zu verlieren.

In den USA stieg die "Incarceration Rate", also die Inhaftierungsrate, von den späten 1970er Jahren bis in die frühen 1990er Jahre stark an, und zwar von ungefähr 100 Häftlingen pro 100.000 Einwohner auf ca. 700 Häftlinge pro 100.000 Einwohner. Das war übrigens ziemlich genau das Jahrzehnt von US-Präsident Ronald Reagan und seines unmittelbaren Nachfolgers George Bush senior (beide Republikanische Partei).

Und um die Kosten dieser hohen Inhaftierungsraten zu begrenzen, wurden die Haftbedingungen verschlechtert.

Betroffen sowohl von der Erhöhung der Häftlingszahlen als auch von der Verschlechterung der Haftbedingungen waren überproportional Afroamerikaner (um einen Faktor 3.3 häufiger in Strafvollzugsanstalten vertreten als Weisse).

Das US-Gefängnissystem gliedert sich - im Unterschied zu zahlreichen europäischen Gefängnissystemen - in "low security", "medium security" und "High security", während in Europa vielfach eine Trennung nach Alter und Aufenthaltungsdauer praktiziert wird: einen Haftanstaltentypus für Leute mit fünf Jahren verbleibender Haft oder mehr, einen für Leute mit einem halben bis fünf Jahre verbleibender Haft, einen für Leute mit weniger als einem halben Jahr verbleibender Haft (mit Freigängerstatus) und einen für sehr junge Straftäter (durch den intergenerationelle Weitergabe verhidnert wird).

In den USA ist die Unterbringung in kleinen Mehrpersonenzellen häufig (was zu Konflikten führt, oft gewalttätigen), in Europa vielfach in Einzelzellen. Auch die Möglichkeiten in europäischen Gefängnissen (z.B. für sich selbst zu kochen) sind oft weitgehender als in den USA.

Die Einstufung in "low", "medium" und "high" security threat-persons durch das US-Gefängnispersonal ist ziemlich willkürlich, bzw. wird oft als willkürlich empfunden, während die Orientierung an der verbleibenden Haft in EU-Systemen keinesfalls einen Willkürverdacht auf das Gefängnispersonal, sondern allenfalls auf die Gerichte werfen kann.

Man kann vermuten, dass ein großer Teil des schwarzen, anti-weissen Rassismus in den USA eine Folge des US-Gefängnissystems ist, und dass der weisse, anti-schwarze Rassismus in Teilen der US-Polizei eine Art "reaktiver Rassismus", eine Reaktion auf diesen durch das Gefängnissystem entstehenden gegen Weisse gerichteten Rassismus unter Afroamerikanern ist. Auch scheint eine Anti-Drogen-Mentalität bei den Polizisten eine Rolle gespielt zu haben.

Wenn nun die US-Polizei für alles verantwortlich gemacht wird, was in den USA falsch läuft in Zusammenhang mit dem Zusammenleben der verschiedenen Gruppen, dann ist das meiner Meinung nach krass überzogen und droht auch, die wirklich wichtigen Ursachen dieser Phänomene in den Hintergrund zu drängen.

Ich behaupte auch nicht, dass die US-Gesellschaft per se rassistisch sei und deswegen ein Gefängnissystem gezimmert habe, das Schwarze überproportional einsperre, sondern es dürfte eher eine Art politischer Unfall gewesen sein.

Eine gewisse "Law & Order"-Einstellung gehört zur politischen Rechten und dagegen ist auch nichts zu sagen, solange das im Rahmen des demokratisch- und rechtsstaatlich-Legitimen und Evidenzbasierten bleibt.

Aber mit dem Schauspieler Ronald Reagan kam vielfach eine andere Kategorie in die Politik, die sich weniger an Fakten und mehr an den Mythen und Hollywood-Illusionen orientierte, für die er stand: dass man es nur gut meinen müsse, und am Ende Erfolg habe. Dass man dem "Bösen" oder dem "Schlechten" nur entschlossen genug entgegentreten müsse und dass es dann von selbst verschwände.

Und oberflächlich betrachtet gab es ja durchaus Indizien, die dafür sprachen, dass die gestiegenen US-Inhaftierungszahlen die US-Kriminalität senkten. Allerdings wird dieser optische Erfolg sehr schnell brüchig, wenn man die USA mit anderen Ländern vergleicht: denn auch dort sanken z.B. zwischen 1988 und 1995 die Kriminalitätsraten, ohne dass die Inhaftierungszahlen erhöht worden waren.

In Großbritannien liegen derzeit die Inhaftierungsraten bei 148 pro 100.000 Bürger, in Deutschland bei 77, in Österreich bei 98, in den USA wie gesagt bei 700, ein weit aus dem Rahmen fallender Wert.

Ein interessantes Indiz ist folgendes: die 1980er Jahre waren nicht nur das Jahrzehnt des Schauspielers Ronald Reagan, sondern auch das Jahrzehnt des Medienkritikers Neil Postman, der mit seinen Büchern "Wir amüsieren uns zu Tode" und "Das Verschwinden der Kindheit" vielgelesen wurde. Postman - übrigens selbst in vielerlei Hinsicht ein Konservativer - war ein scharfer Kritiker des Fernsehens, z.B. mit der Aussage "Das Fernsehen ist nicht für Idioten gemacht, sondern es erzeugt sie".

Und in der Tat mag das Fernsehen und die bild-orientierte Informationsvermittlung dazu beigetragen haben, dass sehr viel polarisiert und personalisiert wurde und strukturelle, kompliziertere Zusammenhänge unberücksichtigt blieben.

Normalerweise würde man denken, wenn die Republikaner eine Law&Order-Politik betrieben, würden die Demokraten das Gegenteil tun, tun sie aber nicht: weder US-Präsident Clinton noch US-Präsident Obama (beide US-Demokraten) setzten substanzielle Initiativen zur Senkung der Inhaftierungsrate oder zur Verbesserung der Haftbedingungen, und der Grund ist möglicherweise das US-Wahlsystem (Mehrheitswahlrecht, Zweiparteiensystem), bei dem es primär darum geht, die politische Mitte zu gewinnen, und die ist eine weisse. Die Farbigen wählen seit langem überwiegend die Demokraten, egal, wie viel oder wenig die Demokraten für die Farbigen tun, mit der Folge, dass die demokratischen Politiker in den letzten 30 Jahren wenig für die Afroamerikaner tun, weil sie es eben nicht müssen, und weil es eher zum Verlust der politischen Mitte (und damit der Wahlen) führen kann, als zu irgendeinem für die Demokraten positiven Resultat, viel für die Afroamerikaner zu tun.

Alle diese Gründe (inklusive einer möglichen rassistischen, möglichen reaktiv-rassistischen Tendenz der US-Geschworenengerichte), die Verbildlichung, die Mechanismen im Wahlsystem haben nun a priori nichts mit Rassismus zu tun, aber in Kombination können sie eben Effekte ergeben, die so aussehen wie Rassismus.

https://www.dreamstime.com/stock-photos-american-policeman-image5558703#_

Weisse Polizisten in den USA: nach dem Fall George Floyd fälschlicherweise beschuldigt, alleinschuld zu sein ?

Vielleicht, um systemische Schuld und Mitschuld von Wahlsystem, Parteien und Medien zu vertuschen ?

Auf eine gewisse Weise kann man diese Zusammenhänge als Bestätigung einer Trump-Kritik aus dem Wahlkampf 2016 sehen: "The system is rigged against our citizens" ("Das System ist manipuliert zum Schaden unserer Bürger" ). Dass allerdings Trump vom Kritiker der Systemmanipulation zum Übertreiber und Verteidiger der Systemmanipulation werden würde, kann man als Ironie oder Perversität sehen. Oder als den natürlichen Gang der Dinge in diesem System.

P.S.: dieser Wahlsystemkritikaspekt ist auch inspiriert von Lawrence Lessig, einem Harvardprofessor für Recht, der bei der letzten Präsidentschaftswahl 2016 kurzfristig als Kandidat für die Demokraten im Spiel war.

Larry Lessig: "Our democracy no longer represents our people."

"Do we play the victim ?" Debatte unter Afroamerikanern.

Neil Postman: "The Surrender of Culture to Technology"

(Er vertritt darin auch die These, dass Reagan ohne Fernsehen nie Präsident geworden wäre)

Thomas Sowell: "The Influence of Culture and Race on Economic Success"

P.S.: ich ersuche darum, beim Abspielen der Videos niedrige Bildqualität einzustellen, um Energie und Computerinfrastruktur zu sparen.

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Claudia56

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