Das Verfahren in Schirachs Theaterstück "Terror - Ihr Urteil" müsste möglicherweise für ungültig erklärt werden, weil zahlreiche Aspekte und Erwägungen fehlen:

1.) Die Wahrscheinlichkeit einer Überwältigung der Entführer durch z.B. die Passagiere wurde mangelhaft erwogen. Ebenso die Wahrscheinlichkeit eines Absturzes auf das Stadion. Umgekehrt wurde der gefundene Schuh zuviel thematisiert, obwohl er zur Wahrheitsfindung nichts beitragen konnte (aber vielleicht soll uns damit ja verdeutlicht werden, dass bei Prozessen viele emotionalisierende Ablenkungsmanöver verwendet werden).

2.) Die Möglichkeit einer Massenpanik im Stadion nach einer etwaigen Räumungsentscheidung wurde nicht thematisiert. Und bei derartigen Massenpaniken kommen oft viele Menschen zu Tode, d. h. sie werden zu Tode getrampelt oder gedrückt.

3.) Die politischen Folgen wurden nicht thematisiert: wenn man sich schon auf eine "Was ist das kleinere bzw. kleinste Übel ?"-Debatte einläßt, dann muss man alle möglichen Übel erwägen, nicht nur zwei. Und einer der großen Unterschiede zwischen Abschuss und Nicht-Abschuss ist folgender: bei einem Abschuss sterben 170 Menschen, aber weil wir in einer Zeit des Flugzeugterrorismus leben und weil es zahlreiche Flugzeugabstürze (auch aus anderen Ursachen) gab und gibt, dürfte das kaum politische Folgen haben. Wenn hingegen das nicht-abgeschossene Flugzeug ins Stadion crasht und dort 5000 oder 10000 Tote verursacht, dann kann das zu einer Kriegsbereitschaft bzw. Risikobereichtschaft in Deutschland führen, und diese Kriegsbereitschaft bzw. Risikobereitschaft kann auch dazu führen, dass 200.000 Menschen gerettet werden, z.B. indem man unter der Gefahr geringer Verluste Aleppo oder Mossul evakuiert, d. h. alle Zivilisten ausfliegt.

https://www.fischundfleisch.com/dieter-knoflach/aleppo-luftbruecke-oder-totalevakuierung-24379

In diesem Zusammenhang interessant ist auch ein Vergleich mit den World-Trade-Center-Anschlägen von 2001: eine Theorie in Zusammenhang mit 9-11 ist die LIHOP-Theorie, die "Let it happen on purpose"-Theorie ("Lasst es absichtlich passieren" ). Diese Theorie geht davon aus, dass die US-Geheimdienste noch rechtzeitig von den Attentatsplänen erfahren haben und noch einen Abschuss durchführen hätten können, dass sie es aber dennoch nicht taten, weil zumindest Teile der US-Regierung es als Anlass betrachteten, einen schon seit längerer Zeit schwelenden Konflikt auf die Kriegsebene heben zu können.

Eine weitere Analogie wäre folgende: die Alliierten des Zweiten Weltkrieges erwogen, Adolf Hitler durch ein Attentat zu töten, entschlossen sich dann aber dennoch dazu, es nicht zu tun. Hauptausschlaggebend dafür dürften 2 Gründe gewesen sein:

1.) die (West-)Alliierten schätzten Hitler als militärstrategischen Trottel ein und kalkulierten, dass jeder Andere den Krieg (aus deutscher Sicht) besser und daher opferreicher für die Allierten geführt hätte.

2.) Es gab politische Überlegungen: die Alliierten schätzten, dass bei einem Attentat Hitler zu einem Märtyrer werden könnte, und dass nach dem Krieg sich eine Hitler-Nostalgie verbreiten könnte; sie schätzten, dass der Nazismus nur dann endgültig politisch besiegt werden kann, wenn Hitler bis zum Kriegsende den Oberbefehl hat, ohne dass ein Attentat ihn tötet; dass hingegen ein Attentat so wie nach dem ersten Weltkrieg zu einer Dolchstosslegende führen würde.

Mit anderen Worten: sie bedachten die wahrscheinlichen politischen Folgen mit. Und sie wogen auch Menschenleben-Gegen-Menschenleben auf: lieber ein langer Krieg gegen Nazideutschland mit Hitler an der Spitze mit vielen Todesopfern, aber ohne die Möglichkeit eines Wiederauferstehens des Nationalsozialismus nach dem Krieg, als ein schnelles Ende des Krieges durch ein Hitler-Attentat mit wenigen Todesopfern, dem aber nach dem Kriegsende eine Wiederaufleben des Nationalsozialismus mit hoher Wahrscheinlichkeit folgt.

https://en.wikipedia.org/wiki/Operation_Foxley

Der Focus dieses Stücks ist sehr kurzsichtig: die isolierte Wahl Abschuss mit 170 Toten versus Nicht-Abschuss mit 5000 Toten.

Dass diese beiden Szenarien langfristig sehr unterschiedliche Folgewirkungen haben können, bleibt ausgeklammert.

So gesehen könnte man den fiktiven Major Lars Koch schuldig sprechen wegen des fahrlässigen Tötens der 200.000 Menschen, die gerettet werden hätten können als politische Folge des Crashs des nicht-abgeschossenen Flugzeugs in das Stadion, der dadurch gestiegenen politischen Risikobereitschaft in Politik und Bevölkerung und der folgenden Rettungsmassnahmen in diversen Konflikten.

Major Lars Koch kann vorgeworfen werden, dass er eine Entscheidung aufgrund seines begrenzten militärischen Horizonts fällte, aber die politischen Folgen, die seine Entscheidung zur Folge haben kann, nicht mitbedachte (was wohl am ehesten als Fahrlässigkeit einzustufen ist).

So gesehen sollte auch nicht die Verfassung, die zu einer Zeit entstand, als die heutigen Konflikte völlig undenkbar waren, die Leitschnur für politsches Handeln sein, sondern nur fähige politische Eliten, die alle Konsequenzen mitbedenken.

(Ob solche politischen Eliten, die Konsequenzen mitbedenken und altruistisch handeln, existieren, lasse ich einmal dahingestellt)

Aber die Verfassung, bzw. das, was die die Staatsanwältin als Verfassung präsentiert, und die langfristig denkende politische Elite, kommen in diesem Fall - isoliert betrachtet - zum selben Ergebnis: Nicht-Abschuss. Allerdings mit völlig unterschiedlichen Folgeresultaten bzw. Absichten: Nichts im ersteren Fall, Rettung von 200.000 Menschen im zweiten Fall.

Eine mögliche Entscheidung der Geschworenen kann daher sein: "Verfahren ungültig - weder schuldig noch unschuldig", weil zahlreiche Aspekte nicht erwogen wurden.

Die Frage "170 oder 5000 Tote" stellt sich wahrscheinlich gar nicht, die einzige Frage, die sich wahrscheinlich stellt, ist "200170 Tote oder 5000 Tote".

http://tvthek.orf.at/profile/Terror-Ihr-Urteil/13886282

http://derstandard.at/2000046104180/ORF-Terror-Es-hat-etwas-Reisserisches

https://futurezone.at/digital-life/von-euphorie-bis-faschismus-tv-in-der-populismusfalle/226.060.603

https://kurier.at/leben/terror-entscheidung-das-sagen-juristen-und-philosophen-dazu/225.697.968

http://www.krone.at/medien/terror-ihr-urteil-pilot-fuer-seher-unschuldig-tv-event-story-534855

(Copyright: Moviepilot ?)

Und jetzt zur Vorgeschichte des World Trade Center-Attentats:

http://www.faz.net/aktuell/politik/zehn-jahre-nach-9-11/die-vorgeschichte-der-11-september-2001-11134441-p3.html

Bereits in den 10 Jahren vor dem World Trade Center-Anschlag verübte Bin Laden bzw. die Al Quaida Anschläge, die allerdings bei uns nicht besonders verfolgt wurden. Gerade in Österreich neigt man dazu, zu denken, George W. Bush sei ein absoluter Idiot gewesen, alle anderen Mitglieder seiner Administration seien absolut skrupellos gewesen und die Geschichte habe erst am 9-11 begonnen.

https://de.wikipedia.org/wiki/Terroranschl%C3%A4ge_am_11._September_2001

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