Früher waren die Dinge einfacher: da gab es oft absolute Mehrheiten, also Mehrheiten von 50% oder mehr. Und in so einer Konstellation ist es klar, dass eine Partei, die alleine mehr als 50% der Stimmen bzw. der Mandate hat, das Recht zu regieren haben soll.
Aber diese Verhältnisse sind längst vorbei - bei der Wahl am Sonntag könnte die stimmenstärkste Partei bei ca. 25% zu liegen kommen, was nur die Hälfte der 50% früherer Alleinregierungen der 1960er- und 1970er-Jahre wäre.
In den 1990er-Jahren gab es dann oft die Situation, dass die SPÖ die stimmenstärkste Partei war, aber die ÖVP die optionenreichste (Die ÖVP "konnte" auch mit der FPÖ, während die SPÖ bzw. Vranitzky eine Koalition mit der FPÖ ausgeschlossen hatte).
Schon in so einer Konstellation ist unklar, wer das Recht auf Bildung einer Minderheitsregierung oder auf das Kanzleramt haben sollte: die Stimmenstärkste oder die Optionenreichste ?
Und bei der Wahl/Regierungsbildung 2000 landete letztlich die SPÖ als stimmenstärkste Partei in der Opposition, während die ÖVP als sehr-knapp-drittstimmenstärkste Partei den Kanzler (Schüssel) stellte, und die FPÖ als zweitstimmenstärkste die Vizekanzlerin (damals Riess-Passer, heute Riess-Hahn).
Auf Gemeindeebene sind aufgrund des B-VG zwei getrennte Wahlen als Möglichkeit vorgesehen: eine für den Gemeinderat, eine getrennte für den Bürgermeister.
Und auch hier kann man natürlich darüber diskutieren, welches Wahlsystem man hier verwenden soll: soll eine relative Mehrheit reichen ? Soll ein zweiter Wahlgang erfolgen, wie bei der Bundespräsidentenwahl ? Oder sollen die Wahlen nach Reihungswahlrecht oder Wertungswahlrecht erfolgen ? (Die Wählenden würden dann alle Kandidaten reihen oder werten, und diese Reihungen bzw. Wertungen werden dann ausgewertet)
Diese vier Systeme (relative Mehrheit, Zwei-Wahlgänge, Reihungswahlrecht und Wertungwahlrecht) können verschiedene Ergebnisse und Sieger zur Folge haben.
Einen ersten Schritt zum Reihungswahlrecht lieferte ein Umfrageinstitut mit folgender Zweit-Reihung:
Geht man von einer Stimmenanteilverteilung von FPÖ 28, ÖVP 24, SPÖ 20, Grüne 9, NEOS 10, Bier 6, sonstige 3 aus,
so haben die summierten, gewichteten Zweitreihungen folgende Werte:
ÖVP 12,2
SPÖ 10,8
FPÖ 5,2
Grün 10
NEOS 12,4
Bier 5
Mit anderen Worten: die FPÖ ist laut Umfragen bei den Erstreihungen am stärksten, aber bei den Zweitreihungen am schwächsten, bzw. am zweitschwächsten.
Dieser Widerspruch weist die FPÖ auch aus als eine Art Aussenseiter im Parteiensystem.
Bei der FPÖ ist auch der Anteil der Wählenden, die "keine Partei" als Zweitpräferenz angeben, mit 48% am höchsten, was man als Indiz dafür sehen kann, dass ein großer Teil der FPÖ-Wählenden will, dass die FPÖ in Opposition bleibt und nicht regiert, bzw. dass die FPÖ in Opposition bleibt, falls sie keine absolute Mehrheit erreicht.
https://de.wikipedia.org/wiki/Nationalratswahl_in_%C3%96sterreich_1999
Die Regierungsbildung 2000 war auch ein Konflikt zwischen Bundespräsident Klestil, der eine rot-schwarze Regierung bevorzugte, mit der schwarz-blauen Parlamentsmehrheit, die eine ÖVP-FPÖ-Koalition wollte. DUrchgesetzt hat sich letztlich die schwarz-blaue Parlamentsmehrheit.
Bereits damals gab es eine Debatte, was der Bundespräsident bei der Regierungsbildung darf und was er muss.
Laut B-VG "ernennt" der Bundespräsident den Kanzler und die Minister. Über die genaue Bedeutung dieses "Ernennens" gibt es unterschiedlcihe Denk- und Interpretationsschulen: es scheint so zu sein, dass bei der Verfassungsnovelle 1929 die SPÖ es bevorzugte, dass der Bundespräsident Kanzler und Minister angelobt, aber nicht auswählt, während die ÖVP-Vorgängerpartei Christlich-Soziale es scheinbar bevorzugte, dass der Bundespräsident auswählt und angelobt. Scheinbar ergab sich dann die mehrdeutige Formulierung "ernennt" als Kompromiss, den man auch als faul betrachten kann.