Ja, freilich, das "hässliche" Deutschland, das mehrere Weltkriege vom Zaum brach (woran wir Österreicher allerdings nicht ganz unbeteiligt waren und andere europäische Staaten auch nicht), die mächtigste, wirtschaftskräftigste und zahlungskräftigste, bevölkerungsreichste Zentralmacht der EU kann einen schon aufregen.

Und kleinstaatlicherische Populisten, auch in Medien und Wissenschaft, brauchen natürlich immer ein böses Feindbild, dem sie die Schuld an Allem geben können, zum Beispiel an angeblichen Fehlentwicklungen in der EU; und wer würde sich dafür besser anbieten als Deutschland, eben, weil meiste Bevölkerung, meiste Wirtschaftskraft, etc. ?

Ich war heute auf einer Buchpräsentation von Peter Michael Lingens, Journalist, des Buches "Die Zerstörung der EU - Sprengmeister Deutschland und Komplize Österreich", im Großen und Ganzen befürwortend begleitet von Stephan Schulmeister, angeblicher Wirtschaftswissenschafter, Autor des Buches "Der Weg zur Prosperität".

(Erste zwei Fotos: Schulmeister-Buch, Fotos drei bis 12: Lingens-Buch; Foto 13: Lingens und Schulmeister bei Buchpräsentation; Foto 14: Lohnhöhe im EU-Vergleich)

Eine These von Lingens war, dass das angeblich von Deutschland aufgezwungene Spardiktat die EU zerstöre, in den Südstaaten zu einer Krise führe, etc. Alles in Allem im Mainstream des im roten Wien typischen Deutschen-Bashing; insgesamt alles ziemlich faktenfrei.

Eine weitere These war, dass die angebliche deutsche Lohndumping-Politik, die Lohnerhöhungen unterhalb der Benya-Formel (also niedriger als Inflation PLUS Produktivitätsfortschritt) vorsehe, die europaweiten Handelsbilanzen aus dem Gleichgewicht bringe und zu Arbeitslosigkeit in speziell Südeuropa, Frankreich, Spanien, Italien, Griechenland (also dem sogenannten Club Mediterranee) führe, was langfristig - so die These von Lingens im Konsens mit dem Mainstream des roten Wien. Die Behauptung, der frühere deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble sei wegen des angeblichen "Spardiktats" ein Mörder oder ein fahrlässiger Töter, mag zwar ein medienstrategischer Eye-Catcher sein, aber wahr wird er dadurch nicht (und europäisch ist er wahrscheinlich auch nicht); ähnliches gilt wohl auch für die Behauptung, Olaf Scholz sei kein Sozialdemokrat. Mit derselben "Logik" oder Unlogik könnte man dann diejenigen, die nach Konkurs oder Staatsbankrott Selbstmord begehen, als Todesopfer von Lingens-Schulmeister'scher Verschuldungsorgienpolitik erklären.

Allerdings gibt es auch zahlreiche Gegenargumente, die auf dieser sehr einseitigen Veranstaltung und in diesen sehr einseitigen Büchern unerwähnt blieben:

1.) Auch wenn in Deutschen seit ca. 1993 Lohnzurückhaltung praktiziert wird, so ist das durchschnittliche Lohnniveau in Deutschland laut Statista und Eurostat das sechst- bis achthöchste der EU und die Lohnhöhe ca. 8-mal so hoch wie in Rumänien und Bulgarien und weit höher als in zahlreichen anderen osteuropäischen Staaten. Die deutsche Lohnzurückhaltung nach der Wiedervereinigung war durchaus gerechtfertigt dadurch, dass es darumging, die marode Ostwirtschaft zu übernehmen. Ohne diese Lohnzurückhaltung wäre vielleicht heute Deutschland der kranke Mann und Krisenfall Europas. Und Deutschland hat einen für viele Staaten vorbildichen Allparteienkonsens, der Verschuldungsorgien aus puren Populismusgründen ausschliesst (von der Linkspartei einmal abgesehen).

2.) Auch bei den Mindestlöhnen befindet sich Deutschland nicht am unteren Rand, sondern zwischen seinen westlichen und östlichen Nachbarn, was bei dem West-Ost-Gefälle in der gesamten EU nichts ungewöhnliches ist. Deutsche Unternehmen tun sich wegen der geografischen Nähe zu den wirklichen Niedriglohnländern Polen, Tschechien, Baltikum, etc. viel leichter, dorthin auszulagern als beispielsweise britische oder französische. Und bei höheren deutschen Mindestlöhnen bzw. Löhnen gäbe es auch mehr Abwanderung. Trotz der Mittellage orientiert sich Deutschland eher an westlichen Hochlohnnachbarn als an östlichen Niedriglohn-Nachbarn, auch so gesehen ist die These von den angeblichen deutschen Dumpinglöhnen Unsinn.

3.) Ob der sehr wesentlich auf deutsche Initiative abgeschlossene Maastricht-Vertrag, dr it Ausnahme von Krisenfällen die Schuldenaufnahme auf 60% des BIP begrenzt, ein positives Krisenvermeidungsinstrument oder ein negatives Krisenverursachungsinstrument hängt, hängt stark davon ab, wie man Staatsschulden bzw. Auslandsstaatsschulden bewertet.

4.) Die Rahmenbedingungen seit den gerühmten Benya-Zeiten (1970er bis 1980er Jahre) oder seit F.D.Roosevelts New Deal in den 1930er-Jahren haben sich total gewandelt: die Globalisierung fand statt, der Zusammenbruch von Sowjetunion und Ostblock, die Grenzöffnung. Auf Dinge wie Abwanderung nach Osteuropa musste man im Kalten Krieg keine Rücksicht nehmen, weil Unternehmen nicht in den antikapitalistischen Ostblock abwandern konnte. Dasselbe gilt auch für die fast aussenhandelslosen USA der 1930er Jahre.

Da Anton Benya sich 1986 aus allen politischen Funktionen zurückzugezogen hatte und als devoter Katholik auch nicht den Balkon-Muppet-Trieb anderer Politiker empfunden hatte, sich in die Geschäfte seiner Nachfolger einzumischen, da er allgemein sehr bescheiden war, ist auch kein Zitat von ihm bekannt, in dem er auf die Frage antwortete, ob die Benya-Formel in den 1990er Jahren noch zeitgemäß ist. Vielleicht hätte er auf die Frage, ob die Benya-Formel in den 1990er-Jahren noch zeitgemäß sei, dasselbe geantwortet wie das, was er auch im Zusammenhang mit dem BAWAG-Skandal antwortete: "Der Sinn der Sozialpartnerschaft ist, dass die Arbeiterkämmerer und die Gewerkschafter von den Wirtschaftskämmerern lernen, wie Wirtschaft funktioniert".

Siehe Verlag https://www.amazon.de/Anton-Benya-%C3%96sterreichischer-Gewerkschafts-Nationalratspr%C3%A4sident/dp/3990245430

Da es von Benya keine gemeinfreien Fotos gibt und die Austria-Forum-Fotos von Benya bei Raubkopieren Widerstand leisteten, bringe ich als Foto einen Buchtitel eines Benya-Buches von Liselotte Douschan, von dem ich ganz kategorisch abrate, weil es eine für das rote Wien typische völlig unkritische speichelleckerische Hagiographie (Heiligenverehrung) ist, die Benyas negative Seiten vertuscht. Trotzdem oder gerade deswegen erhält es auf Amazon Fünf von maximal fünf Sternen und eine sehr positive Rezension.

Lingens und Schulmeister (der heisst auch noch so !!!) als keppelnde Balkonmuppets Waldorf und Statler, die frustiert von Altersleiden von der Loge aus überkritisch in die Aufführung hineinkeppeln, obwohl sie die Hälfte verschlafen haben, und sie so stören ?

Aber Keppeln (Meckern) kann ich auch: daher ist ein großer Fehler der Statistik "Staatsschuldenquoten ausgewählter Euroländer 1993-2007" (siehe Foto oben), dass sie mit dem Jahr 2007 endet, obwohl das Buch Ende 2018 geschrieben wurde, und die Entwicklung zwischen 2007 und 2012 gezeigt hätte, dass Deutschland in klassisch keynesianischer Manier die Staatsschulden zur Krisenbewältigung von ca. 60% auf ca. 85% erhöhte, und nach 2013 wieder auf ca. 60% absenkte. Aber die Wahrheit der gestiegenen deutschen Staatsschulden 2007-2013 hätte natürlich die Grundthese des Buches, dass Deutschland ein EU-zerstörerischer Spardiktator sei, zerstört.

Das Beispiel Japan mit 235% Staatsverschuldung ist nicht unbedingt erstrebenswert: denn die Gelder werden nicht freiwillig veranlagt, sondern quasi zwangsveranlagt.

Bei Nullzinspolitik, die zwangsweise nötig wird, wenn die Staatsverschuldung hoch wird, werden die Sparer Jahr für Jahr durch Negativ-Realzinsen in kleinen Schritten enteignet, und Effekt ewie Flucht aus Bargeld in Aktien und Immobilien und andere Sachwerte treten auf, was deren Preise in dei Höhe treibt und genau die Reichen bereichert, die bereits Sachwerte haben. Die angebliche Neoliberalismusbekämpfung durch Nullzinsen nutzt so gesehen genau denen, denen auch der Neoliberalismus nutzen soll, worin auch immer er bestehen mag.

Das Lingens-Buch ist zwar in seiner Grundthese genauso absurd wie das schulmeisterliche und oberlehrerhafte Schulmeister-Buch, aber es enthält wenigstens neben einer bescheuerten Grundthese einige interessante Nebenbemerkungen, die gar nicht symptomatisch für den antideutschen Mainstream von Wiens Links-Schickeria sind, z.B. lobende Erwähnung von Christian Ortner oder Erich Streissler, zum Beipiel die Behauptung, das Deficit Spending der Ära Reagan für militärische Zwecke habe den kalten Krieg beendet und die Sowjetunion zum Kollaps gebracht ("kaputtgerüstet" ).

Umgekehrt ist die Schulmeister-These "Böse Finanzwirtschaft - gute Realwirtschaft" aus mehreren Gründen fragwürdig:

erstens sind Finanzwirtschaft und Realwirtschaft eng miteinander verwoben durch Exportfinanzierung, und Produktivitätssteigerungsfinanzierung (so gesehen ist die böse Finanzwirtschaft verantwortlich für die Produktivitätsfortschritte, die Schulmeister den Arbeitnehmern zukommen lassen will);

zweitens ähnelt die These der Nazithese vom "raffenden jüdischen Finanzkapital und schaffendem deutschen Produktionskapital";

drittens gibt es in der Realwirtschaft (siehe Abgasmanipulationsskandal) genau dieselben Korruptionserscheinungen wie bei den finanzwirtschaftlichen Derivaten;

viertens ist die Finanzwirtschaft ökologischer als die Realwirtschaft.

Auch absurd ist, dass Schulmeister, ein angeblicher Wirtschaftswissenschafter nicht unterscheiden kann oder will zwischen Eigentümerkapitalismus und Verwalterkapitalismus: Eigentümer spekulieren entweder nicht, oder wenn sie spekulieren, dann vorsichtig. Wenn hingegen Verwalter spekulieren, dann spekulieren sie oft mit dem Hintergedanken auf kurzfristige Gewinne bei hohem langfristigen Risiko, weil das ihre Bonuszahlungen maximiert, allerdings auch die potenziellen Verluste für die wirklichen Eigentümer. Mit fremdem Vermögen, nicht mit eigenem zu spekulieren, nennt man oft "auf Samt spielen", weil einem sowieso nichts passieren kann.

Alles in Allem sehe ich Deutschland als (ähnlich wie Holland oder Schweden) einen sehr positiven Vertreter nordeuropäisch-protestantischer Ethik, die die kurzfristige Sparsamkeit und den Konsumverzicht für das langfristige Ziel opfert, während im südeuropäischen Katholizismus die antikapitalistische "Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr als ein Reicher in das Himmelreich eingeht"-Logik problematische Mechanismen befördert und damit auch die Verschwendung, die Unfähigkeit zu langfristigem Denken, etc.

Damit befinde ich mich im roten (und katholischen Wien) natürlich in einer Aussenseiterposition, aber besser mit seiner eigenen Überzeugung Aussenseiter als gegen seine eigene Überzeugung gerade noch geduldetes Mitglied des Mainstreams.

Generell hat Europa einen Nord-Süd-Konflikt, der auch ein Religionenkonflikt zwischen Protestansismus und Katholizismus ist.

Seit dem Nationalsozialismus "gebietet" der durchgeknallte Antifaschismus Deutschlandhass und auch das 3:2 des österreichischen Fussballnationalteams gegen das deutsche in Cordoba bei der Fussball-WM 1978 hat in Österreich Jahrhundertereignis-Charakter, obwohl es dadurch entstand, dass Berti Vogts ein Eigentor schoss und belanglos war insofern, als Österreich nicht in die nächste Runde kommen konnte, egal, ob es gegen Deutschland gewinnt oder verliert.

Aber die Gehässigkeit des kleinen Bruders, dem großen Bruder eine sinnlose Niederlage zuzufügen oder eine falsche Kritik an den Kopf werfen zu dürfen, hält man in Österreich und insbesondere im roten Wien für den Inbegriff antifaschistisch-intellektueller Redlichkeit.

Einige Gründe, warum die Erhöhung der Löhne bei Negativrealzinsen viel weniger bringt,als von den Befürwortern behauptet:

1.) Die Lohnerhöhung bringt vielweniger, wenn man danach nicht oder schlechter ansparen kann für größere Anschaffungen, z.B.Wohnungs- oder Hauskauf.

2.) Die Zahl der "Lohnabhängigen" ist viel geringer als früher, durch EPU (Ein-Personen-Unternehmen) undSelbstständigkeit bzw. Scheinselbständigkeit. Höhere Löhne, die durch Negativrealzinsen finanziert werden, verschärfen daher die Spannungen innerhalb der Gesellschaft.

3.) Währungsabwertungen oder Gemeinschaftshaftungen,die notwendige Strukturreformen verhindern, bringen nichts, sondern schaden langfristig.

4.) Der Vergleich der EU mit USA oder Japan verschleiert mehr, als er erhellt: Japan ist seit vielen Jahrhunderten ein stark zentralisierter Staat mit einer sehr homogenen Sprache und Bevölkerung und einem einheitlichen Diskurs. Die USA sind wenigstens sprachlich und kulturell einig, zumindest seit dem Bürgerkrieg 1861-1865. Diese Voraussetzungen hat die sprachlich und kulturell diverse und historisch nur kurz unionierte EU nicht.

5.) Bereits die bestehenden Transferzahungen haben zum Brexit beigetragen, eine stärkere Vergemeinschaftung würde wahrschinlich zu weiteren Austritten von nordeuropäischen Staaten oder zu Spannungen führen. Aber von dieser Möglichkeit sprechen die deutschlandhasserischen Linksintellektuellen hierzulande nie.

6.) Als Vorbildhaft für die EU wird oft die USA bezeichnet,aber auch die USA haben keine Gemeinschaftshaftung: für die Schulden des Bundesstaats Kalifornien, die gemessen an der Wirtschaftskraft höher sind als die der Bundes-USA, haften die Kalifornier alleine ohne Haftung der Bundes-USA. Außerdem sind die USA zentralisiert: Bundesbehörden und Bundesgerichte können Landesgesetze und Landespolitiker aushebeln und overrulen, was in der EU nicht oder vielschweiriger möglich ist: was in Europa los ist, wenn z.B. Juncker einer EU-Armee befiehlt, Macron zu verhaften, möchte ich mir gar nicht vorstellen.

7.) Die Verschuldungsbefürworter machen keine Aussage darüber, was passiert, wenn die Auslandsgeldgeber ab einemgewissen Verschuldungsgrad keine neuen Schulden mehr geben.

8.) Wegen der große Unterschiede in der EU (Geldgeber im Norden, Schuldner im Süden) würde einesteigende Verschuldung auch die Streitigkeiten in der EU erhöhen, und das hat eine viel größere Sprengkraft für die EU,als nidrigere Verschuldung es hat. So gesehen ein Argument für den von den Verschuldungsfetischisten viel gescholtenen Maastricht-Vertrag mit seiner Verschuldungsgrenze von 60% des BIP.

9.) Die USA, die genau diejenigen Verschuldungsprozesse vorangetrieben haben, die Lingens und Schulmeister fordern, sind keineswegs sozialer, sondern im Gegenteil: die Kluft zwischen Reich und Arm klafft dort stärker auseinander.

10.) US-Präsident Trump sagte einmal, natürlich werde es in der KZukunft eine Schuldenkrise in den USA geben, aber erst nach seiner Amtszeit, sodass es ihm egal sein kann. Und genau diese "Nach mir die Sintflut !"-Ideologie begünstigen verantwortungslose Verschuldungsbefürworter wie Lingens oder Schulmeister. AUch mögliche Phänomene wie Trumps Schuldenkrisendrohung gegenüber China als Teil von Wirtschaftskriegen wird von Lingens und Schulmeister als extrem einseitigen Verschuldungsbefürwortern natürlich vertuscht.

11.) Auch das Henry-Ford-Argument, er müsse hohe Löhne zahlen, damit seine Angestellten Autos kaufen können, stammt aus einer Zeit vor der Globalisierung und des niedrigen Aussenhandels. Heute Geld unter die Leute zu werfen, in der Hoffnung, dadurch die Binnenproduktion zu beleben, verpufft oft in Importen.

In Österreichmuss man die Schuldeneuphorie vielleicht betrachtn vor dem Hintergrund des SPÖ-"Gottkaisers" und Kanzlers Bruno Kreisky, der meinte: "Mir sind ein paar Milliarden Schulden mehr lieber als ein paar Hunderttausend ehr Arbeitslose".

Der Sager suggeriert allerdings, dass eine solche Möglichkeit besteht: Neuverschuldung ist dann relativ folgenlos, wenn man erstens weiterhin Geldgeber findet, wenn man zweitens trotz höherer Verschuldung gleichwenig Zinsen zahlen muss, wenn drittens langfristige Rückzahlungsmöglichkeiten bestehen.

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Dieter Knoflach

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