Zwischen den beiden (bedeutsamen) NATO-Staaten Deutschland und Türkei (mit jeweils ca. 85 Millionen Einwohnern) bahnt sich eine veritable Krise an, bei der es um die Frage geht, wie demokratisch Israel sei.
Für den türkischen Präsidenten Erdogan ist Israel ein "faschistischer Staat", für den deutschen Kanzler Scholz ist Israel eine Demokratie. Vielleicht sogar eine lupenreine Demokratie.
Der Begriff der "lupenreinen Demokratie" bzw. des "lupenreinen Demokraten" ist aus der SPD-Geschichte heraus insofern heikel, als der frühere SPD-Kanzler Schröder ihn einmal für Putin verwendet hatte, vermutlich um einen gutbezahlten Versorgungsposten in seiner nach-politischen Ära bei einem russischen Konzern zu ergattern, was nach dem Ukraine-Krieg noch politisch umstrittener wurde, als es vorher schon war. Aber als Österreicher sollte man sich bei der Kritik daran vermutlich nicht zu sehr aus dem Fenster lehnen, weil wir mit Karin Kneissl eine Art Schröderin haben, die scheinbar ihre FPÖ-Ticket-Aussenministerinfunktion sehr wesentlich dazu verwendete, sich hinterher einen Versorgungsposten bei russischen Konzernen oder russischen Thinktanks zu sichern.
Aber zurück zu Israel und der Frage, wie demokratisch es sei.
Laut Zahlreichen (z.B. Karl Popper) ist das Charakteristikum der Demokratie der friedliche Macht-und-Politikwechsel.
Und in der Tat hat es in Israel friedliche Machtwechsel und friedliche Politikwechsel gegeben.
Aber nicht immer: der krasseste Fall des unfriedlichen Macht- und Politikwechsels dürfte wohl die Ermordung des israelischen Premierministers Jitzhak Rabin 1995 gewesen sein. Der Täter war ein israelischer radikal-religiöser Rechtsextremist gewesen, nämlich Igal Amir. Die Mordstimmung, auch durch Verbreitung von Fotomontagen von Rabin in SS-Uniform, hatte sich davor im politisch-rechten Lager in Israel aufgebaut, und der damalige Oppositionspolitiker bzw. Oppositionsführer Netanjahu hatte nichts getan, um diese Rabin-Ermordungs-Stimmung zu mäßigen und zu besänftigen, obwohl das laut zahlreichen politikwissenschaftlichen Theorien seine Aufgabe und Pflicht gewesen wäre. Man kann vermuten, dass Netanjahu die Dinge Richtung Mord treiben liess, weil er sich insgeheim keine Chancen ausrechnete, gegen Rabin die Wahlen zu gewinnen.
Mit der Ermordung von Rabin kam auch der Oslo-Prozess, also der Prozess der Entwicklung hin zu einer Zweistaatenlösung zum Stillstand. Und da diese Frage eine so zentrale und wichtige und umstrittene war, kann man behaupoten, dass Israel eine schwer mangelhafte Demokratie ist, wenn sie die bedeutendste Frage nicht durch friedliche Machtwechsel "regelt", sondern durch politische Morde.
Dennoch ist die Formulierung, Israel sei ein faschistischer Staat, doch etwas weit gegriffen, sodass die Wahrheit über den demokratischen bzw. undemokratischen Charakter Israels irgendwo in der Mitte zwischen Scholz und Erdogan zu liegen scheint.
Und so gesehen ist der Streit zwischen Erdogan und Scholz rund um die Frage, wie demokratisch denn Israel sei, dann doch wieder nicht so krass und so tief.
Es gibt in der NATO des öfteren Streitigkeiten zwischen ihren Mitgliedern, und genau das ist es, was ein demokratisches und pluralistisches Verteidigungsbündnis von einem durch eine Macht dominierten Block unterscheidet, so wie das der Warschauer Pakt war, in dem die Sowjetunion eine dominierende Rolle spielte, und die einzelnen Mitgliedsstaaten nur eine geringfügige oder überhaupt keine Bewegungsfreiheit.
Dass Warschauer Pakt-Truppen in einem Warschauer Pakt-Mitglied einfallen oder einzufallen drohen, so wie das im Ungarn des Jahres 1956 war, oder im Polen des Jahres 1980 drohte, ist ein Vorfall, für den es innerhalb der NATO keinen Vergleichsfall ist. Die NATO hat eine wesentlich höhere innere Freiheit der Mitglieder, die sich verschiedentlich äußert: z.B. im griechisch-türkischen Konflikt, in den Streitigkeiten zwischen Deutschland/Italien einerseits und Frankreich/Großbritannien andererseits am Anfang der jugoslawischen Kriege, darin, dass sich zahlreiche NATO-Mitglieder wie Deutschland und Frankreich nicht am Irakkrieg (von USA, GB, Sp, It, Pl und vielen anderen mehr) beteiligten.
Deutschland enthielt sich aus der Stimme bei der Abstimmung zur Libyen-Intervention ca. 2008 und beteiligte sich nicht daran.
Und der frühere US-Vizepräsident Biden sagte vor vielen Jahren "Our problem is our allies" ("Unser Problem sind unsere Verbündeten" ), was durchaus als Nachweis für einen gewissen Pluralismus gelten kann - bei diesem Vorwurf blieb unklar, wer genau gemeint war ud warum, aber es dürfte sich um die Türkei und Saudi-Arabien als gemeinte gehandelt haben, von denen zumindest vermutet sein dürfte, sie würden damit liebäugeln, Giftgas durch ihre Verbündeten im Syrienkrieg einsetzen zu lassen und damit die rote Linie des US-Präsidenten Obama zu konterkarieren drohten, der recht folgenlos den vermutlichen Giftgaseinsatz durch den syrischen Präsidenten Assad bzw. sein System zur "red line" erklärte.
Problematisch bleibt der Trend der überlieferten Erdogan-Aussage, Israel das Existenzrecht abzusprechen.
Und was den Faschismus-Vorwurf betrifft, so müsste man wohl erst einmal klären, welche Faschismusdefinition dem zugrunde liegt. Der klassische Faschismus-Begriff leitet sich ab von Mussolini und den Fascio di Combattimento in der Folge des ersten Weltkrieges. Man kann es auch so sehen, dass Faschismus eine radikale, gewalttätige "Kultur" oder "Unkultur" ist, die aus einer Nachkriegssituation entstehen kann. Die Weltkriegsheimkehrer bildeten in verschiedenen Ländern eine Basis für faschistische (oder auch für links-revolutionäre) Gruppen.
Die Abspaltung von Ariel Sharon und Ehud Olmert vom Likud und die Gründung einer neuen Partei, der Kadima, ist ein normaler politischer Prozess in einer Demokratie, allerdings war die Auseinandersetzung zwischen Kadima und Likud oft eine scharfe, bis hin zu den Vorwürfen der psychischen Störung der Netanjahu-Familie, für die Olmert zu einer Strafe von ca. 12.000 US-Dollar-Äquivalenten verurteilt wurde. Aber ich finde den Vorwurf durchaus überlegenswert. Wenn man die Möglichkeit, sich abzuspalten und eine abweichende und kritische Meinung zu beziehen, betrachtet, dann scheint der Likud, bzw. Israel besser und demokratischer zu sein als der Gegenpart. Abspaltungen von der Moslembruderschaft werden oftmals mit Todesfatwas oder Morddrohungen beantwortet, siehe auch Hamed Abdel-Samad oder der späte Hassan Al-Turabi, die beide an den Fall Salman Rushdie erinnern, der allerdings nicht von der Hamas oder einem Sunniten eine Todes-Fatwa erhielt, sondern vom iranischen Ajatollah und Quasi-Staatsführer Khomeini.
Ein weiterer Aspekt in Demokratie ist Amtszeitbegrenzung: zahlreiche Demokratien betrachten Amtszeitbegrenzung als demokratie-nötig, z.B. US-Präsident maximal 2 Periode a la vier Jahren. Phillipinen-Präsident maximal eine Amtszeit zu 6 Jahren. Netanjahu regiert jetzt insgesamt schon ca. 15 Jahre, und ist so gesehen vielleicht mehr ein Autokrat oder Quasi-Monarch, der sich in einer Liga mit Putin und Erdogan bzgl. Amtszeitlänge befindet.
"Peaceful transition of power is the hallmark of democracy", Obama-Rede von 2016, bei der eine sehr friedliche Machtübergabe von den Demokraten zum umstrittenen Trump stattfand. Seine Anhänger waren anfangs gar nicht glücklich, dass Obama die friedliche Machtübergabe an Trump zum "Inbegriff der Demokratie" erklärte, aber die USA und die US-Demokraten haben die durchaus problematische Amtszeit von Trump durchaus souverän gehandhabt. Man hätte sich nur manchmal gewünscht, dass Trump sich ähnlich fair verhalten hätte wie hier Obama oder auch wie der Republikaner George W. Bush (Präsident 2000-2008), der den Demokraten Dank für den Machtverzicht und die Concession Speech anläßlich der knappen Wahl 2000 (damals gegen Al Gore) ausgesprochen hatte, und der als Republikaner Trumps Verhalten 2020/2021 als einen Putschversuch im Bananenrepublik-Stil bezeichnet hatte. (Die Concession Speech ist die Wahlniederlageneingeständnis-Rede, mit der der Verlierer der Wahl seine Niederlage einräumt, was das Ende des Wahlkampfs darstellt; die USA sind kein austro-style-Beamtenstaat, wo ein Behördenleiter oder manchmal umstittener Innenminister das "amtliche Wahlergebnis" bekannt gibt, sondern in den USA zählen die einzelnen Parteiapparate separat und einzeln aus und auch daher kommt der Concession Speech große Bedeutung zu. Die Ö-Wendekrise des Jahres 2000 zeigt, dass auch der Beamtenstaat keinen friedlichen Regierungswechsel garantiert). Im ZUsammenhang mit dieser Obama-Rede sei auch wieder darauf hingewiesen, dass im US-Sprachgebrauch "Government" nicht nur "Regierung" bedeutet, sondern auch "Staat". Man kann an Obama einiges durchaus zu Recht kritisieren, aber diese Rede ist irgendwie sehr gut, auch dieses "Nononono", das er in Richtung seiner kritischen Anhänger sagt, die er dann im Laufe der weiteren Rede doch noch herumkriegt.
Und diese Obama-Rede scheint geradezu hellsichtig-prophetisch in Anbetracht der Aufstachelung zum Kapitol-Sturm, die Trump 2020 tätigte. Bzw. Trumps Anwalt Giuliani mit seiner "Trial by Combat"-Rhetorik ("Gerichtsprozess durch Kampf" , Trump war deutschstämmig, Giuliani italienisch-stämmig, keiner der beiden ein Jude, nur um Verwechslungen zuvorzukommen, allerdings der Schwiegersohn von Trump ist ein Jude und spielte in der Nahostpolitik eine Rolle, die eigentlich zu groß war für jemanden, der weder Mitglied des US-Aussenministeriums noch US-Präsident ist).
Bereits im Wahlkampf in den Debatten zwischen Hillary Clinton und Trump 2016 war die Frage, ob Trump eine Wahlniederlage akzeptieren würde, von Clinton aufgeworfen worden, auch gewissermaßen prophetisch in Hinsicht auf Trumps Verhalten 2020.
Sowohl der Fall des von Trump aufgestachelten Kapitol-Sturms mit 5 Toten wie auch die Wendekrise des Jahres 2000 in Österreich sind Beispiele für einen absolut unnormalen unfriedlichen Regierungswechsel. So gesehen ist Israel und die von Netanjahu tolerierte Ermordung von Rabin nicht der einzige Fall eines unnormalen Übergang der Regierungsgeschäfte. Allerdings scheint der Fall der Rabin-Ermordung in Anbetracht der politischen Bedeutung für das Land im Falle Israels am größten zu sein.
Bei der Wendekrise im Jahr 2000 wurde die schwarz-blaue Regierung Schüssel-Haider sanktioniert von den EU-14, unter Führung des rot-grün-regierten Deutschland, des PS-regierten Frankreich, flankiert von Belgien.
Und einige wenige Jüdinnen und Juden spielten bei diesem Fast-Abdriften von Österreich in bürgerkriegsähnliche Phänomene im Jahr 2000 eine durchaus negative Rolle, auch wenn es mir vielleicht verboten ist, darauf mit Details einzugehen.