In Anbetracht der angeblichen Regierungskrise und des angeblichen möglichen zukünftigen Befangenheitsverdacht gegen Kickl, der diese auslöste, wurde auch die Möglichkeit einer Expertenregierung diskutiert.
1.) So wie´s derzeit aussieht, war möglicherweise überhaupt nicht die offiziell genannte Begründung Befangenheitsverdacht der Grund für das Platzen der Regierung, sondern die Möglichkeit für die ÖVP, bei den EU-Wahlen gut abzuschneiden. Durch das Platzen der Regierung wurde die EU-Wahl zu so einer Art Volksabstimmung über den Misstrauensantrag gegen Kurz.
Und die Folgen war laut Vorläufigem Wahlergebnis in der Tat drastisch und für Viele überraschend: nicht nur, dass die ÖVP um 8% dazugewann, sondern noch mehr, dass die Wahlbeteiligung um 15% stieg (von 45% auf ca. 60%), erstaunt. Das ist möglicherweise die größte Steigerung der Wahlbeteiligung bei Bundeswahlen, die es in der Geschichte der österreichischen Demokratie überhaupt jemalds gegeben hat.
Vom Muster her praktizierte Kurz etwas Ähnliches wie sein Vorgänger Wolfgang Schüssel im Jahr 2002: Koalition sprengen, um die Wahlen zu gewinnen.
Dass die ÖVP praktisch Koalitionen mit der FPÖ sprengen muss, hängt auch mit dem Ruf der FPÖ (egal, ob und inwieweit sie diesen zu Recht hat oder nicht) zusammen. Wenn die ÖVP mit dem Koalitionspartner FPÖ in die Wahlen ginge, würde sie zahlreiche Wählende der politischen Mitte, auch zahlreiche Frauen als Wähler verlieren, die beide die FPÖ und Koalitionen mit der FPÖ ablehnen.
Der de-facto-Zwang, Koalitionen mit der FPÖ zu sprengen, war so von den Verfassungsvätern nicht angedacht: damals im Jahr 1919, dominierte ein Zweiparteiensystem mit Sozialdemokratie und Christlich-Sozialen, damals gab es kaum Wechselwähler, und die Treue zur eigenen Partei war sehr hoch.
Dass wir in Umständen arbeiten, die überhaupt nicht das waren, was die Verfassungsmacher sich vorstellen konnten, erhebt die Frage, ob nicht eine Verfassungsänderung längst überfällig ist.
Umgekehrt ist auch die rot-grüne "Ausgrenzung" (Versprechen, mit der FPÖ nicht zu koalieren), eine Art Garantie, dass ehemalige FPÖ-Wähler praktisch nur zu ÖVP wandern, zu anderen Parteien nicht oder kaum. Die SPÖ machte aber auch zusätzliche gravierende Eigenfehler, z.B. das Inserat "Stabilität statt Chaos" mit Rendi-Wagner, das als Bestätigung des ÖVP-Kanzlers Kurz gesehen werden konnte.
Damals, bei der Nationalratswahl 2002, waren die Verhältnisse ÖVP-Dazugewinn/Wahlbeteiligung gewissermaßen umgekehrt: die ÖVP gewann damals 17%, die Wahlbeteiligung stieg um 3,5%.
2.) In absoluten Zahlen hat die FPÖ dazugewonnen: von ca. 560.000 Wählenden auf ca. 650.000. Aber da diese Steigerung (ca. ein Sechstel) geringer ist als die Steigerung der Wahlbeteiligung (um ein Drittel), sinkt der Wählendenanteil der FPÖ (von 19% auf 17%).
3.) Die Formulierung der Expertenregierung oder des Expertenministers ist vielleicht irreführend oder vielleicht sogar undemokratisch.
Erstens ist Transparenz ein hoher demokratischer Wert. Bei Parteipolitikern weiss man wenigstens, welcher Partei sie angehören oder nahestehen, bei "Experten" weiss man das nicht.
Daher ist das Gerede von der "Expertenregierung" sehr oft eine intransparente Verschleierung der Parteinähe oder der Nähe zur Agenda einer Partei. Der "Experte" oder der parteilose Minister ist sehr oft ein Etikettenschwindel.
Entscheidend ist immer, wer die sogenannten "Experten" auswählt. Was der Eine als "Experten" anerkennt, können für den Anderen Scharlatane sein.
Angenommen, es gäbe unumstrittene Experten für alle Felder: dann bräuchte man diese nur zu Ministern erklären und es bräuchte gar keine Demokratie und gar keine Wahlen.
Ein Kollateralschaden der sogenannten "Experten" ist, dass dadurch der Eindruck entstehen kann, "normale" Politiker seien keine Experten, sondern Idioten und/oder Intriganten.
So kann das "Experten"-Gerede auch zu Politikverdrossenheit und sinkender Wahlbeteiligung führen.
Das Experten-Gerede hat auch eine Nähe zur Theorie des wohlmeinenden Diktators in der Wirtschaftswissenschaft.
Alles, was man braucht, um einen Staat am Funktionieren zu halten, ist ein Diktator, der die Experten anhört und umsetzt, was sie empfehlen.
Als Beispiel für einen wohlmeinenden Diktator, der die Experten einsetzt, bzw. ihre Empfehlungen umsetzt wurde immer wieder der chilenische Diktator Augusto Pinochet genannt, der einen Kreis von chilenischen wirtschaftsliberalen "Wirtschaftsexperten" im ideologischen Umfeld von Milton Friedman in wichtige Positionen (sowohl exekutiv als auch beratend) hievte.
Eine weitere Problematik besteht darin, dass die sogenannten "Experten" sehr oft aus einer einzigen soziologischen Schicht kommen: sie sind Akademiker, meist aus der Hauptstadt.
Interessanterweise geht in Frankreich gerade ein Stück Expertenregierung zugrunde, das in Österreich gerade im Aufwind zu sein scheint:
jahrzehntelang waren Regierungsposten in Frankreich ENA-Absolventen vorbehalten, also Absolventen der Ecole Nationale d´Administration.
Auch Emmanuel Macron entstammt wie alle französischen Premiers und Präsidenten dieser Schule/Hochschule.
Allerdings hat das Ganze auch einen Beigeschmack von Apartheid; die Proteste der Gelbwesten richteten sich sowohl gegen Emmanuel Macron als auch gegen die ENA (Emmanuel Macron und seine Partei erlitten bei der EU-Wahl schwere Verluste im Vergleich zu Parlaments- und Präsidentenwahl und fielen hinter Marine Le Pen und ihr RN zurück).
Die Proteste gingen so weit, dass Emmanuel Macron versprach, die ENA, also die Eliten- und Expertenschmiede vergangener Jahrzehnte, abzuschaffen.
Einer der Gründe für Gelwesten und Proteste gegen Macron dürfte sein, dass Menschen sich lieber von Ihresgleichen führen lassen, als von jemandem, der einer völlig anderen Schicht und Klasse angehört.
CC https://de.wikipedia.org/wiki/Augusto_Pinochet#/media/File:Pinochet_crop.jpg
Wozu Demokratie ? Um Experten oder "Experten" als Minister einzusetzen, reicht auch ein Diktator wie Augusto Pinochet.
Er muss nur genug Macht haben, zum Beispiel durch einen Militärputsch.