Die Entscheidung Erdogans, die Hagia Sophia vom Museum in eine Moschee umzuwandeln, schlägt hohe Wellen und wird oft als "Provokation" und als Kulturkampf gegen den Westen oder gegen das Christentum gesehen.
Allerdings entbehren die Vorwürfe nicht einem gewissen Maß an Doppelmoral und Heuchelei: wenn z.B. genau die Rechtspopulisten, die in Europa die Moschee- und Minarettbauten entweder durch direktdemokratische Instrumente verboten wie in der Schweiz oder durch baurechtliche Verbote wie in Österreich/Kärnten, dann stellt sich schon die Frage, wer hier provoziert und ob die Provokation nicht vom Westen, vom Christentum ausging.
Dies umso mehr, als der Islam (zumindest in seiner hanafitischen Version) seit 1911 in Österreich anerkannte Religion ist, was aber niemand kritisierte.
Das Schweigen war sehr weitgehend, als in der Türkei anläßlich des Putsches alle christlichen Bürgermeister und -innen entmachtet wurden. Damals gab es keinen Aufschrei. So, als wären Mauern wichtiger als Menschen.
Aber vielleicht ist es so eine quasi-Trump´sche Denke, Mauern höher zu bewerten als Menschen, die sich auch im europäischen Rechtspopulismus und Rechtsextremismus findet.
Und es hat natürlich auch einen Beigeschmack eines Rassismus-Verdachts, wenn in Zusammenhang mit der Hagia-Sophia-Umwandlung niemand eine Islam-Reform fordert, sondern nur monoton Erdogan dafür dämonisiert wird, dass er etwas tut, was im Islam-Mainstream eigentlich mehr oder weniger normal ist.
CC / Arild Vågen https://de.wikipedia.org/wiki/Hagia_Sophia#/media/Datei:Hagia_Sophia_Mars_2013.jpg
Hagia Sophia, einst eine wichtige Kirche des Ostchristentums
In der Debatte fehlen auch zahlreiche Aspekte:
1.) Es wird übersehen, dass diese Funktionsänderung insofern positiv sein könnte, als sie die Beziehungen zwischen Russland und Türkei verschlechtert, die wegen Streitigkeiten mit der EU Tendenzen zeigten, zusammenzuarbeiten.
2.) Der rein rhetorische Protest bleibt ohne Wirkung: dieselben Leute, die lauthals so tun, als würden sie den Verlust der Hagia Sophia beklagen, gehen selbst meist nicht in die Kirche und tun auch ansonsten nichts, bzw. sind nicht bereit, irgendetwas gegen den steigenden Einfluss der Türkei zu tun, z.B. in Somalia.
3.) Es dürfte Erdogan nicht so sehr um "Provokation" gegangen sein (wie "unsere" Rechtsextremisten behaupten), sondern eher erstens um Innenpolitik und Stabilisierung seiner Mehrheit, und zweitens um Festigung der Beziehung zur islamischen Welt.
4.) Eine weitere Doppelmoral ergibt sich daraus, dass diejenigen, die für das eigene Land und die eigene Kultur den absoluten Herrschaftsanspruch innerhalb der eigenen Landesgrenzen beanspruchen, eben diesen absoluten Herrschaftsanspruch Anderen, z.B. Erdogan verwehren. Dass die europäischen Nationalisten sich über Erdogans türkisch-islamischen Nationalismus beschweren, entbehrt in seiner Doppelmoral nicht einer gewissen Ironie. Internationalismus ist keine Einbahnstrasse - von Erdogan Internationalismus verlangen, aber selbst keinen geben, wird nur schwer gehen.
5.) Man kann die Argumentationsmängel und den hohen Anteil an Doppelmoral auch als Verfall des Westens, als Verfall der christlich-geprägten Kultur sehen.
6.) Die europäischen Nationalisten behaupten auch, die Türkei oder Erdogan habe Zypern (Nordzypern) militärisch erobert oder besetzt. Allerdings war Zypern immer schon gemischt gesiedelt, sodass sich die Frage der Selbstbestimmung der Zypern-Türken immer schon stellte, und der Zypernkonflikt ist einer von vielen ähnlich gelagerten (dass es oft dieselben Leute sind, die die "Annexion" der Krim durch Russland loben, hingegen die "Annexion" Nordzyperns durch die Türkei kritisieren, ist ein weiterer Aspekt dieser Doppelmoral) . Und an der Teilung Zyperns 1964, an der auch das türkische Militär seinen Anteil hatte, ist Erdogan sicher nicht schuld, weil das ca. 40 Jahre vor seiner Amtseinführung war, auch wenn europäische Populisten behaupten, er wäre es. Was wieder ein Indiz wäre, dass es den Erdogan-Kritikern gar nicht um Religion oder um Erdogan geht, sondern um anti-türkischen Rassismus.
7.) Auch die Frage der EU-Beitrittsverhandlungen wird über Gebühr hochgespielt: ob man verhandelt und zu keinem Ergebnis kommt oder nicht verhandelt, läuft vom direkten Resultat her auf dasselbe hinaus. Derzeit hat die Türkei sowieso - egal, ob die Verhandlungen abgebrochen werden oder nicht - keine Chance auf einen EU-Beitritt, weil sie zahlreiche der EU-Beitrittskriterien nicht erfüllt. Aber ein Abbruch der Verhandlungen könnte moderate und erdogan-kritische Türken entfremden, und das ist vielleicht genau das, was unsere Rechtsextremisten wollen, wenn sie den völligen Abbruch der Verhandlungen fordern. Die Kritik der Rechtsextremen am formalen Fortbestehen der Beitrittsverhandlungen scheint so gesehen reine Anti-Regierungs- oder Anti-EU-Propaganda zu sein, und Erdogan oder Hagia-Sophia-Umwandlung nur Vorwand. Ein Abbruch der Verhandlungen könnte aber auch ein endgültiger sein, d.h. selbst einer Erdogan-Abwahl und einer Umorientierung der Türkei Richtung Laizismus könnte u.U. keine Wiederaufahme der Beitrittsverhandlungen folgen, und das ist vielleicht, was die Rechtsextremisten wollen. Außerdem stellt sich die Frage, ob ein Abbruch der ohnehin lahmgelegten Beitrittsverhandlungen reine Symbolpolitik ist, die Gefahr läuft, von wirklich etwaig zielführenden Maßnahmen (Krieg oder Wirtschaftssanktionen) abzulenken.
8.) Es gibt auch Medienberichte darüber, dass Nicht-Muslime die Hagia Sophia auch nach Umwandlung betreten dürfen, allerdings nicht zu den Gebetszeiten, womit für die Hagia Sophia dann genau dieselben Regeln gelten würden wie für den Stefansdom.
Abschliessend: natürlich kann und soll man Erdogan und den politischen Islam kritisieren, aber mit Konsistenz, mit Vernunft, und nicht mit Doppelmoral mit Zweierlei-Maß und mit falschen Argumenten.
Denn Erdogan mit Doppelmoral, mit Zweierlei-Maß und mit falschen Argumenten zu kritisieren, nutzt letztlich nur Erdogan, weil es zu einem Solidarisierungseffekt z.B. zahlreicher Erdogan-kritischer Türken oder zahlreicher Muslime mit Erdogan führt.