Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und CDU-nahe Medien haben - einen Monat vor der Bundestagswahl - eine Debatte über das Engagement des ehemaligen deutschen Bundeskanzlers Gerhard Schröder (SPD) beim russischen Erdölkonzern Rosneft (Medienberichten zufolge handelt es sich um einen Aufsichtsratsposten) begonnen.
Gerhard Schröder bezeichnete Putin 2004 als "lupenreinen Demokraten", als er (Schröder) noch Bundeskanzler war.
Der Hintergrund dieser Aussage könnte meines Erachtens folgender sein:
Mit der "Agenda 2010" zog Gerhard Schröder eine - insbesondere für einen Linkspolitiker - kontroversielle Reformpolitik durch, die zur heutigen Erfolgsgeschichte Deutschlands beitrug (Handelsbilanzüberschuss, ausgeglichenes Budget, ...), aber insbesondere in der eigenen Partei auf Widerstand stiess und zur Spaltung der SPD bzw. zur Etablierung der Linkspartei (Lafontaine, Wagenknecht, Gysi, ...) führte.
Wenn Schröder die gleichsame Parteispaltung vorausgesehen hatte, dann hatte er wegen der wohl notwendigen, aber unpopulären Agenda 2010 einen durchaus vertretbaren Grund, ein Fluchtland zu suchen.
Und Angela Merkel hätte sich fairerhalber auch bei Schröder wegen seiner Reformpolitik, deren Ernte Merkel einfuhr, bedanken können.
Und jetzt zur Russland-Frage:
ja, es gibt EU-Sanktionen gegen Russland und russische Unternehmen aus Anlaß der sogenannten Krim-Annexion.
Allerdings war die Krim bis in die 1950er Jahre russisch und wurde durch eine einsame Entscheidung Chruschtschows von Russland an die Ukraine übertragen. Der offizielle Grund (Bau einer Eisenbahnlinie über die schmale Landbrücke, die Ukraine und Krim verbindet) ist ziemlich unplausibel, weil damals sowohl Ukraine als auch Russland Teil der Sowjetunion waren.
Von Anderen wird als mögliche Erklärung für Chruschtschows Entscheidung eine Schwächung Russlands oder eine Hilfe für den befreundeten ukrainischen Präsidenten betrachtet.
Der Grund bzw. Vorwand für die EU-Sanktionen wurde später auf den Ostukraine-Krieg (Oblaste Donezk, Lugansk) geändert.
Aber in Anbetracht des Holodomor (Stalins organisierte Hungersnot in der Westukraine) und der Kluft zwischen Ost und West, die sich auch im ukrainischem Unabhängigkeits-Referendum 1991 widerspiegelt, kann die Ukraine als gescheiterter Staat betrachtet werden, dessen Auseinanderfallen nur eine Frage der Zeit war.
Und Putin reagierte (zumindest laut Vielen) nur auf den Sturz Janukowitschs, der vielfach als Putsch betrachtet wird.
Gerhard Schröder beim SPD-Parteitag 2015
(Bild-Copyright: Olaf Kosinsky / Skillshare.eu)
Die Kritik an Schröder trägt auch einen Hauch von Doppelmoral: die FAZ hatte 2008 interessante Artikel von Völkerrechtlern gebracht, die die Ereignisse in Georgien und vielleicht auch die Krim-Sache als Folge der Kosovo-Abspaltung durch den Westen 2008 betrachtete.
("Kein Recht auf Abspaltung", Georg Nolte, FAZ, 13.2.2008; er argumentierte in diesem Artikel, dass die Anerkennung des Kosovo ein gefährlicher Präzedenzfall in Hinblick auf den Kaukasus/Georgien und andere Regionen sein könnte;
http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/f-a-z-gastbeitrag-kein-recht-auf-abspaltung-1515789.html
Zitat: "Einseitige Auslegungen von Sicherheitsratsresolutionen begründen aber Präzedenzfälle, die in anderen Fällen gegen die westlichen Staaten gerichtet werden. Sie schwächen die Handlungsfähigkeit und die Autorität des Sicherheitsrates, welche die westlichen Staaten sonst gern in Anspruch nehmen. Es könnte sich herausstellen, dass die westlichen Staaten um einer kurzfristigen Linderung einer regionalen Spannungslage willen einen Präzedenzfall gesetzt haben werden, der ihnen an anderem Ort noch erhebliche Schwierigkeiten bereiten wird - etwa in Georgien. Es liegt in der politischen Verantwortung der westlichen Regierungen, ob sie eine mit guten Gründen bestreitbare völkerrechtliche Rechtsauffassung zur Grundlage ihrer Politik machen möchten."
)
Und Merkel / CDU kritisierte Schröder, aber Lindner (FDP), der ähnliche Positionen vertrat, nicht.
Ost-West-Spaltung der Ukraine bei der Wahl von 2012. Ideologie war nicht entscheidend. Auch linke Arbeiterschaft in den Städten gegen konservative Landbevölkerung spielte keine Rolle.
Ukraine-Referendum 1991: die mit Abstand niedrigsten Zustimmungsraten gab es auf der Krim, die nächstniedrigsten in den östlichsten Oblasten Donezk und Lugansk. Diese Abstimmung fand unter der Schirmherrschaft des damaligen russischen Präsidenten Jelzin statt. Zahlreiche von Jelzins Entscheidungen (er war ein schwerer Alkoholiker) erwiesen sich später als völlig falsch. Dies dürfte auch die "Legitimität" des Ukraine-Referendums von 1991 beschädigt haben.
https://en.wikipedia.org/wiki/Ukrainian_independence_referendum,_1991
(Bild-Copyright Karten: Wikipedia / Alek K. / Olegzima)
https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_der_Ukraine
Die völkerrechtliche Brisanz der Entscheidung Chruschtschows aus den 1950er Jahren ergibt sich daraus, dass bereits damals die UN-Charta galt, auch für die Sowjetunion, und diese UN-Charta enthielt das Selbstbestimmungsrecht der Völker.
Man kann das in der UN-Charta enthaltene Selbstbestimmungsrecht der Völker so interpretieren, dass Chruschtschow die Krim gar nicht ohne Volksabstimmung von Russland an die Ukraine hätte übertragen dürfen; dass Chruschtschows Entscheidung daher völkerrechtswidrig war, und Putin im Jahr 2014 durch die sogenannte Annexion der Krim keine Völkerrechtswidrigkeit beging, sondern eine Völkerrechtswidrigkeit rückgängig machte !!!! Und diese Rückgängigmachung einer Völkerrechtswidrigkeit hätte er vielleicht sogar ohne Volksabstimmung machen können.
Was Angela Merkel gemeint haben könnte, war, dass Schröder problematisch viel verdient. Während durchschnittliche Russinnen und Russen viel weniger haben. Für Merkel könnten auch "sündiger Reichtum"-Passagen in der Bibel eine Rolle spielen, den "Enrichissez vous!"-Sozialismus ("Bereichert Euch!"-Sozialismus) zu kritisieren. Allerdings haben viele CDU-nahe CEOs ein gleich hohes oder höheres Einkommen als Schröder, und das verurteilt Merkel nicht. Vielleicht meinte sie gar nicht die Russland-Sanktionen, konnte es aber als CDUlerin nicht offen sagen.
Helmut Schmidt wurde nach seiner politischen Laufbahn Herausgeber und Publizist in der Wochenzeitung "Die Zeit". Das kann auch wegen des vergleichsweise geringen Einkommens als Gegenbild zum "Bereichert Euch!"-Sozialismus betrachtet werden.
https://de.wikipedia.org/wiki/Enrichissez-vous
Der "Bereichert Euch!"-Sozialismus steht auch in einem Naheverhältnis zu dem "Holen Sie sich, was Ihnen zusteht!"-Mentalität, die aus den gegenwärtigen SPÖ-Plakaten trieft.