Der EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat also die "Rede zur Lage der Union" gehalten.
Ich habe mir diese Rede im Rahmen einer Veranstaltung im "Haus der EU" angesehen, in der Folge diese Rede auch diskutiert bzw. "analysiert" wurde.
Die Art und Weise der Diskussion war irgendwie symptomatisch für die Blasenhaftigkeit heutiger Politdebatten, wo es nur mehr um "Verkauf", um Kommunikation vorgefertigter und einzementierter Positionen ging, aber nicht mehr um demokratische Meinungsvielfalt. Was man als Bestätigung der Colin-Crouch-These von der Postdemokratie betrachten kann.
Ich persönlich stimmte zahlreichen Positionen von Juncker nicht zu:
Juncker hatte bei der Brexit-Debatte von Anfang an eine "Brexit means Brexit"-Position verfochten, obwohl das Brexit-Referendum in Großbritannien sowohl durch einen Parlamentsentscheid als auch durch ein zweites Referendum aufgehoben werden könnte.
Die von vielen Briten geteilte Forderung nach mehr Freihandel hat durchaus Vorteile (wie zum Beispiel größere Immunität gegenüber rechtspopulistischen Parteien), die von kontinentaleuropäischen Medien allerdings totgeschwiegen werden; und das ist genau ein Problem der EU: es gibt keinen europäischen Diskurs.
Ob die niedrigeren britischen Nettobeiträge, die es früher gab, dadurch gerechtfertigt waren, dass Großbritannien einen geringeren Landwirtschaftssektor hat als die anderen großen EU-Staaten, blieb unerwähnt, aber nicht nur in der Juncker-Rede unerwähnt. In Kontinentaleuropa betrachtete man den früheren Britenrabatt als unfair, in Großbritannien betrachtete man als unfair, dass Großbritannien zuletzt das schlechteste Verhältnis von Einzahlungen und Auszahlungen hatte, ein durchaus legitimer Standpunkt, der aber von Kontinentaleuropäern und ihren Medien immer in schlechtes Licht gerückt wurde, was wohl zum Brexit beitrug.
Auch das Argument, dass die Briten der EU nicht 1973 hätten beitreten dürfen, wenn sie den 1993 gegründeten Kohäsionsfonds ablehnen, kann ich nicht unterstützen, alleine schon wegen des Zeitablaufs.
Juncker erteilte dem Unilateralismus eine Absage und bekannte sich zum Multilateralismus. Gleichzeitig forderte Juncker stark erhöhte Verteidigungsausgaben, was insofern absurd ist, als weder eine ernstzunehmende militärische Bedrohung besteht, noch ein Wille innerhalb der EU, geschlossen an Out-Of-Area-Militäraktionen teilzunehmen, vielleicht gedeckt durch ein UNO-Sicherheitsratsmandat. Und erhöhte Rüstungsausgaben zum einzigen Zweck, dass Rüstungskonzerne höhere Profite machen, egal, ob nationale oder europäische, halte ich für falsch.
Apropos Nationalismus: den Nationalismus zu dämonisieren, so wie unter Pro-Europäern, egal ob glühend oder blind-liebend, verbreitet, läuft Gefahr, den Nationalismus und seine Ursachen eher zu steigern.
So gesehen könnte die EU eine jugoslawisches Schicksal ereilen: eine übertriebener "Bratstvo i Jedinstvo"-Kult (ein "Brüderlichkeit-und-Einheit-Kult" ) läuft Gefahr, Konflikte zu unterdrücken und sie nicht zu bearbeiten, solange, bis sie dann explosive Sprengkraft gewinnen.
Auch auf die wichtige Frage, ob Koalitionen der Willigen handlungsfähiger seien als als eine europäische Armee, deren Handlungsfähigkeit durch einzelne Regierungen mit Pazifistenbeteiligung stark gebremst oder verhindert werden kann, ging Juncker nicht ein.
Auch, dass Frankreich durch den Brexit eine dominierende Position hat, weil es das einzige EU-Land ist, das ein Vetorecht im UNO-Sicherheitsrat hat und - als einziges Land - damit jede EU-Aussenpolitik blockieren kann, blieb in der Juncker-Rede unerwähnt. Vielmehr lobte Juncker, der früher durch Frankreich-Kritik (wegen der folgenlosen Verletzung der Masstricht-Kriterien durch Frankreich) aufgefallen war, den EU-Chefverhandleer Michel Barnier über alle (vernünftigen ?) Maße.
Juncker sagte zwar, die EU müsse "global player" (global mitentscheidend) sein, und nicht nur "global payer" (weltweiter Zahler), aber mit seiner defensiven Haltung (nur Verteidigung, keine Out-Of-Area-Einsätze) dürfte er die Position der EU als "global payer" (globaler Zahler) eher zementieren als korrigieren.
Juncker bekannte sich auch dazu, dass Internetkonzerne stärker dort besteuert werden sollen, wo sie Gewinne erwirtschaften, und weniger stark dort, wo sie produzieren. Allerdings könnte diese Forderung ein fürchterlicher Bumerang für die EU werden, wenn z.B. die USA, bzw. Trump fordern, dass dieses Prinzip auch auf europäische Konzerne (z.B. deutsche Automobilkonzerne) angewandt werden soll.
Juncker war auch völlig unkritisch, was die Vergangenheit der EU betraf: dass die EZB-Nullzinspolitik zum Brexit und zum Wahlsieg Trumps in den USA beitrug, verschwieg Juncker.
Die durch die EZB-Nullzinspolitik verursachten gefährlich hohen EU-Handelsbilanzüberschüsse, die langfristig zu neuen Finanzkrisen führen können, verschwieg Juncker.
Dass diese EZB-Nullzinspolitik und das dadurch erhöhte Wirtschaftswachstum auch erhöhte Umweltverschmutzung verursacht und Flüchtlingswellen verstärkt, verschwieg Juncker.
Juncker widersprach sich auch selbst, als er einer seits Kompromisswillen einmahnte, aber andererseits Abstimmen mit qualifizierten Mehrheiten statt mit Einstimmigkeit forderte, damit man über Minderheiten drüberfahren kann und keinen Kompromiss suchen muss. Gerade Juncker als Luxemburger sollte wissen, dass insbesondere Kleinstaaten leicht Gefahr laufen, durch qualifizierte Mehrheitsmechanismen entmündeigt zu werden drohen, während Großstaaten wie z.B Deutschland oft schon alleine oder mit geringer Unterstützung Sperrminderheiten erzielen können.
Juncker sprach in der Beziehung von Afrika so, als wäre Afrika ein homogener Block. Dies wurde auch unterstrichen durch die Betonung eines Treffens mit Kagame, dem derzeitigen Vorsitzenden der Afrikanischen Union. Allerdings ist die Afrikanische Union viel weniger integriert, viel weniger Union als die Europäische Union. So gesehen suggerierte Juncker, die Afrikanische Union sei ein gleichwertiger Partner für die Europäische Union, was sie nicht ist. Die Problematik der Bevölkerungsexplosion in zahlreichen afrikanischen Ländern, die Kriege, Hungernöte und/oder Flüchtlingswellen verursacht, sprach Juncker nicht an. Vielleicht hofft er wie viele Konservative auf bessere Geschäfte, je höher die afrikanische Bevölkerung ist, und ignoriert die Nebeneffekte.
Auch die Beendigung der Zeitumstellung feierte Juncker als Erfolg, auch als demokratischen Erfolg, obwohl sich an der Online-Befragung nur ca. 1% der EU-Bürger beteiligten, und davon waren 60% Deutsche. Die Befragung erlaubte Medienberichten zufolge Mehrfachabstimmungen, was eine Verletzung des gleichen Wahlrechts ist, und sie grenzte die Prekären aus, die keinen oder einen schlechten Zugang zum Internet haben. Diese Online-Befragung, die Juncker als großen Erfolg feierte, war vielen wahlberechtigten EU-Bürgern unbekannt, und die Debatte in allen Staaten mit Ausnahme von Deutschland vielleicht war mangelhaft bis nichtexistent.
Bzgl. britisch-irischer Grenze forderte Juncker eine "Weichheit" ein, aber es könnte das Reziprozitätprinzip und eine Grenzkorrektur nach dem Prinzip "Gleichviele katholische Iren in Nordirland wie protestantische Pro-Britische in der Republik Irland" könnte wichtiger sein als die Weichheitsfrage, die die EU alleine gar nicht durchsetzen kann.
Juncker pries weiter die vorige EU-Wahl, die man auch als Mißbrauch einer Parlamentswahl betrachten kann. Eine Alternative wäre eine separate Wahl des EU-Kommissionspräsidenten, ähnlich der Direktwahl von Bürgermeistern im österreichischen Recht, getrennt von Gemeinderatswahlen. Die Trennung von Exekutive und Legislative, so wie bei Gemeinden praktiziert, entspricht auch den Prinzipien von Demokratie und Rechtsstaat, während der Mißbrauch von EU-Parlamentswahlen (also eine Legislativwahl) für die Bestellung eines EU-Kommissionspräsoidenten (also einen Exekutivorgans) fundamentalen Prinzipien von gewaltenteilung, Demokratie und Rechtsstaat widerspricht. Und obwohl EU-Wahlmechanismen gewaltenteiliungswidrig sind, schwingt die EU sich auf, um den rest der Welt zu kritisieren, mit oft moralisch überhoch erhobenem Zeigefinger.
Juncker beschwerte sich zwar, zum Sündenbock gemacht zu werden (Das Scheitern des EU-Kommissionvorschlags zur Flüchtlingsquotenaufteilung dürfte hier noch nachgewirkt haben), drehte den Spiess aber um und forderte die österreichische Ratspräsdidentschaft auf, das zu lösen, woran die Kommission gescheitert war.
Jetzt zum formalen: die Juncker-Rede war mehrsprachig, d.h. vielfach wurden nur hölzerne Übersetzungen übertragen, die Debatten im EU-Parlament unsexy machen.
Aber jetzt zur Blasenhaften und innengerichteten Diskussion von Berufseuropäern, die bei der Veranstaltung im Haus der EU zahlreich vertreten waren: die Frage, ob Junckers Forderung nach einem europäischen Gesetz zum Plastikverbot durch mehr Bilder begleitet werden soll oder nicht, hielt ich für überflüssig, für Zeitverschwendung, die eher vom Wichtigen ablenkt.
Auch was die angebliche Jugendinkompatibilität der Juncker-Rede in Hinblick auf die kommende EU-Wahl betraf, so stimme ich nicht zu: Juncker tritt bei der EU-Wahl im Mai 2019 nicht mehr an, seine Rede empfand ich eher an Politexperten und Auskenner und -innen gerichtet, und nicht an einfache und uninformierte Wählende.
Bei allem Respekt für die Notwendigkeit von Edutainment: Politik ist nicht immer lustig, und manchmal muss man sich durch riesige Zahlenberge durcharbeiten, um sich ein Bild zu verschaffen.
Die "Infantilisierung" der Demokratie (wie der frühere ORF-Generaldirektor Gerd bacher bezeichnete), der Trend, alle Politik auf 16-jährige Teenager, ihre Unerfahrenheit und ihre Wissenmängel auszurichten, kann ich nicht gutheissen.