Im Jahr 2004 beschloss ein SPÖ-Bundesparteitag, "mit einer rechtspopulistischen FPÖ nicht zu koalieren". 2014 wurde dieser Beschluss auf einem weiteren SPÖ-Bundesparteitag bekräftigt, mit dem Zusatz "auf keiner Ebene".
Im Jahr 2015 gab es dann die spektakuläre Koalition SPÖ-FPÖ im Burgenland.
http://derstandard.at/2000016923614/Burgenland-nach-der-Wahl-SPOe-und-FPOe-rufen-Pressekonferenz-ein
Der Bruch der eigenen Parteitagsbeschlüsse wurde vielfach als Glaubwürdigkeitsverlust für die SPÖ und als Katastrophe für die SPÖ betrachtet.
http://derstandard.at/2000016927209/Eine-Katastrophe-fuer-die-SPOe
Allerdings hätte jeder, der ein bisschen etwas von Politikwissenschaft versteht, es vorher wissen können:
Im Jahr 1962 veröffentlichte der US-Politikwissenschafter William H. Riker das Buch "A Theory of Political Coalitions" (Die Theorie der politischen Koalitionen), in der er die These vertrat, dass am wahrscheinlichsten "minimum winning coalitions" gebildet werden, bzw. dass eine Großpartei immer lieber mit einer Kleinpartei koaliert als mit einer anderen Großpartei, alleine schon aus Gründen der Regierungssitzmaximierung:
wenn die burgenländische SPÖ (42%) mit der ÖVP (29%) koaliert hätte, dann hätte sie einen Regierungssitz weniger erhalten, als sie in der Koalition mit der kleineren und daher bescheideneren FPÖ (15%) erhalten hat.
42 / (42+29) * 7 = 4,14
hingegen
42 / (42+15) * 7 = 5,16
Dasselbe gilt natürlich auch für den programmatischen Einfluss auf das Regierungsprogramm: wenn eine Großpartei mit einer anderen Großpartei koaliert, dann kann sie nur zur Hälfte das Regierungsprogramm bestimmen, wenn sie hingegen mit einer Kleinpartei koaliert, dann hingegen zu drei Vierteln oder mehr.
Riker´s Theorie ist völlig unabhängig von Ideologie und Parteitagsbeschlüssen. Und sein Buch ist ein Standardwerk der Politikwissenschaft, das eigentlich auch viele SPÖ-Funktionäre und -innen, die Politikwissenschaft studiert haben, kennen müßten.
Also, wie konnte es zum einem als blödsinnig einstufbaren Parteitagsbeschluss kommen, von dem von vornherein vorhersehbar war, dass er in Zukunft gebrochen werden würde ?
Man muß sich dabei eines vor Augen halten:
Die Wiener SPÖ ist die mit Abstand stärkste SPÖ-Landesorganisation, und hatte bzw. hat in sehr vielen Fragen eine fast totalitäre Macht innerhalb der SPÖ. Das Burgenland hingegen ist zusammen mit Vorarlberg das kleinste (bevölkerungsärmste) Bundesland Österreichs und entsendet daher wenige Delegierte auf einen SPÖ-Bundesparteitag.
Zusätzlich spielen die Koalitionsvarianten eine Rolle:
In Wien hat die SPÖ am meisten Koalitionsoptionen: nach der letzten Wahl hätte die Wiener SPÖ auch mit ÖVP und Neos eine Koalition bilden können, oder mit den Grünen (was verwirklicht wurde). Wien ist also das einzige Bundesland, in der die SPÖ mehrere FPÖ-lose Koalitionsoptionen hat. D.h. die SPÖ Wien kann auf die FPÖ-Option verzichten und hat dennoch eine privilegierte Verhandlungsposition.
In vielen anderen Bundesländern (Vlbg, Tirol, NÖ) hat die SPÖ - falls überhaupt - eine einzige Koalitionsoption: die mit der ÖVP. Auch hier spielt die FPÖ-Option keine Rolle, weil SPÖ und FPÖ zusammen keine absolute Mehrheit erreichen.
Das kleine Burgenland ist anders: es ist das einzige Land, in der die SPÖ ohne die FPÖ-Option auf Gedeih und Verderb der ÖVP ausgeliefert ist. Mit anderen Worten: hätte die burgenländische SPÖ sich an den Bundesparteitagsbeschluss gehalten, nicht mit der FPÖ zu koalieren, wäre sie extrem erpressbar durch die ÖVP gewesen, weil die ÖVP dann mit zwei Koalitionsoptionen eine privilegierte Position gehabt hätte.
Die burgenländische SPÖ hätte jedes noch so schlechte ÖVP-Angebot annehmen müssen, und eben dieses für die SPÖ wegen ÖVP-Verhandlungspositionsstärke schlechte Koalitionsabkommen hätte dazu geführt, dass die burgenländische SPÖ bei den nächsten Wahlen schwere Verluste erlitten hätte.
Daher war die burgenländische SPÖ praktisch gezwungen, den Bundesparteitagsbeschluss, auf keiner Ebene mit der FPÖ zu koalieren, zu brechen, völlig egal, wie stark die Kritik daran, insbesondere aus Wien, ist.
Und umgekehrt: der Wiener SPÖ, die bei diesem Budnesparteitagsbeschluss, auf keiner Ebene mit der FPÖ zu koalieren, die treibende Kraft war, war es völlig egal gewesen, dass sie mit diesem Bundesparteitagsbeschluss die burgenländische SPÖ in die Wahlniederlage treibt.
Das passt aber in Bild der Bulldozer-SPÖ-Wien: schliesslich war es ja die "Ein echter Sozialdemokrat redet nicht wie einer von der Pegida"-Aussage von Häupl (SPÖ Wien) gerichtet an Voves (SPÖ Steiermark) gewesen, die Voves knapp mit 29.3% (Landtagswahlen Steiermark) unter die 30%-Rücktrittsmarke gedrückt hatte, und den Rücktritt von Voves und den Verlust des SPÖ-Landeshauptmannsessels bedeutet hatte.
Auf jeden Fall hat die Wiener SPÖ in den letzten Jahren soviele Fehler gemacht, und soviele andere SPÖ-Landesparteiorganisationen schäbig behandelt, dass sie innerparteilich in eine kaum haltbare Position gekommen war.
Und das ist einer der Gründe, warum Niessl (SPÖ Burgenland) mit seinem angeblichen "Tabubruch", eine laut Riker ganz normale Koalition zu bilden, durchkam.
Das sollte der Wiener SPÖ in mehrerlei Hinsicht vielleicht eine Lehre sein:
.) nie mehr Erkenntnisse der internationalen Politikwissenschaft ignorieren.
.) nie mehr über andere SPÖ-Landesorganisationen quasi-diktatorisch "drüberfahren".
https://en.wikipedia.org/wiki/William_H._Riker
https://de.wikipedia.org/wiki/Landtagswahl_im_Burgenland_2015
https://de.wikipedia.org/wiki/Landtagswahl_in_der_Steiermark_2015
"Macht korrumpiert, und absolute Macht korrumpiert absolut", sagte Lord John Acton einmal.
Und da die Wiener SPÖ die mächtigste SPÖ-Landesparteiorganisation ist, ist sie laut dem John-Acton-Theorem die korrupteste.
https://de.wikipedia.org/wiki/John_Emerich_Edward_Dalberg-Acton,_1._Baron_Acton