Im Internet spielt sich gerade ein verkürzender Shitstorm gegen die FDP bzw. gegen den früheren FDP-Politiker Rainer Stinner ab. Dieser Shitstorm beruht sehr wesentlich auf Verfälschung und Verkürzung eines (angeblichen) Zitates von ihm.

Das angebliche Zitat soll sein: "Kein Impfgegner wird wie ein Staatsfeind behandelt. Er darf nur, hoffentlich bald, nicht mehr unter die Leute gehen, weil er ein gefährlicher Sozialschädling ist. Aber er hat die Freiheit, sich nicht impfen zu lassen. Aber er hat nicht die Freiheit, mich zu gefährden."

Der übliche Verfälschungstrick in Medien und Internet beruht darauf,

1.) den ersten Satz wegzulassen "Kein Impfgegner wird wie ein Staatsfeind behandelt"

2.) die letzten 2 Sätze wegzulassen, sinngemäß "Ein Impfgegner hat die Freiheit, sich nicht impfen zu lassen, aber nicht die Freiheit, mich zu gefährden".

3.) zu vertuschen bzw. zu verschweigen, dass Stinner seit 2013 nicht mehr Bundestagsmitglied ist und sich aus der Politik zurückgezogen hat.

4.) sich auf das eine einzige Wort, das man als naziähnliche Sprache betrachten kann, zu fokussieren, nämlich "Sozialschädling".

5.) so zu tun, als wäre das aussagekräftig für alle FDP-Politiker. Während Stinner einer völlig anderen Generation angehört (geboren 1947) und vielleicht deswegen geprägt ist von der Sprache seiner Zeit.

6.) zu verschweigen, dass Stinners Hauptbetätigungsfelder Aussenpolitik und Verteidigungspolitik waren, aber nicht Gesundheitpolitik.

Ich finde eigentlich, Rainer Stinner war ein interessanter Politiker. Er beschäftigte sich mit Fragen, die heute weitgehend zu kurz kommen, insbesondere in pazifistischen (neutralen) Staaten, mit Aussenpolitik und Militärpolitik. Er war proamerikanisch und handels- und wirtschaftsorientiert, wie viele FDPler.

Eine interessante Facette im politischen Leben von Rainer Stinner war die die Reise in den Iran, für die er eigentlich nur Kritik erntete.

Wie hier in der "Zeit", die ich eigentlich schätze:

https://www.zeit.de/politik/ausland/2010-08/rainer-stinner-iran-atomstreit

Der "Zeit"-Kommentator meinte im Jahr 2010, die Zeit zu reden, sei vorbei, und Stinner habe mit seiner Reise in den Iran die EU-Politik gefährdet und die gemeinsame EU-Politik verlassen. Der Westen habe dem Mullah-Regime im Iran drei schwere Schläge verpasst, und der Untergang desselben sei daher in Kürze zu erwarten.

Allerdings sind wir nun schon 11 Jahre weiter, aber immer noch in genau demselben Dilemma wie 2010.

Auch ich zweifle schon lange, ob die Iran-Politik des Westens (USA + EU) richtig sei.

40 Jahre lang auf Wirtschaftssanktionen zu setzen, die aber die ganze Zeit nichts bringen, und schon gar nicht einen Untergang des Mullah-Regimes, und gleichzeitig durch militärisches Nichtstun zu erlauben, dass der Iran seinen Einflussbereich ständig erweitert, zum Beispiel in Syrien und im Irak, ist schon seltsam.

Ein altes, arabisches Sprichwort sagt: "Reize nie einen tollwütigen Hund, töte ihn oder lass ihn in Ruhe, aber reize ihn nicht!" Und diese Wirtschaftssanktionen, diese ständige Dämonisierung, Aktionen wie die von Trump befohlene Tötung des "Generals" der iranischen Revolutionsgarde, Soleimani, ist Reizen des Mullah-Regimes, aber weder Töten, noch in Ruhe-lassen.

Und gerade in Bezug auf den Iran hat das "Niemals halbherziges Reizen!"-Dogma eine gewisse Stimmigkeit. Entweder man führt Krieg und entmachtet das Mullah-Regime durch einen Enthauptungsschlag, oder man akzeptiert den Iran als normalen Staat, setzt auf das Prinzip "Wandel durch Handel", vielleicht sogar inklusive der Akzeptanz eines atomaren "Gleichgewichts des Schreckens" zwischen Israel und Iran. Teilweiser "Wandel durch Handel" würde bedeuten, dass man den Iran in gewissen Bereichen vordergründig so akzeptiert, wie er ist, und darauf setzt, dass Handelskontakte, die auch persönliche Kontakte sind, langsam und in ganz kleinen Mengen zu einer Transformation im Iran beitragen.

Aber einen dritten Weg in der Mitte scheint es nicht zu geben. Mit Ausnahme vielleicht eines militärischen Containment, einer Eindämmungs- und Expansionsverhinderungspolitik, die der Westen aber auch nie betrieben hat, sondern stattdessen setzte er auf die eher symbolische, aber psychologisch vielleicht kontraproduktive Wirtschaftsanktionenpolitik, die dazu führen kann, Mismanagement und Korruption im Iran zu vertuschen, weil das Regime im Iran dann alle wirtschaftlichen Probleme dem Westen und den Sanktionen zuschreiben kann. Dass der Westen eine Eindämmungsstrategie nie betrieb, hängt vielleicht auch mit einer Art Vietnam-Trauma zusammen: der Vietnamkrieg war getragen vom Versuch, den Kommunismus einzudämmen und an der Expansion zu hindern, und so eine Art globales Jalta zu implementieren.

Aber Demokratien scheinen nicht akzeptieren zu können, dass es diesen Mittelweg in diesen Fällen nicht gibt. Dass es in gewissen Fällen nur die Wahl zwischen äußerster Grausamkeit und äußerster Unterwürfigkeit und Akzeptieren von etwas ganz Grauslichem gibt.

Noch dazu besteht die Gefahr, dass die westliche "Mullah-Regime reizen, aber weder töten, noch in Ruhe lassen"-Politik den Iran in die Arme Russlands und/oder Chinas treibt, wodurch eine mächtige anti-westliche Allianz entstehen kann. Und das, ohne irgendeinen Nutzen zu erzielen.

Den israelisch-iranischen Konflikt kann man auch betrachten als einen Vierparteienkonflikt: die israelischen Falken (die Rechte, mit Likud), die israelischen Tauben (die Linke), die iranischen Tauben (Leute wie Khatami, Rohani) und die iranischen Falken.

Dieses vierpolige Schema funktioniert nun nach der Frontstellung Taubenallianz und Falkenallianz. Wenn israelische Hardliner bei ihrer Politik zu weit gehen, dann nutzt das den Falken des jeweils anderen Lagers. Und wenn sich die Tauben beider Seiten auf irgendwas einigen könnten, dann würde das ihnen nutzen.

Die Aussenpolitik ist daher immer überlagert von der Innenpolitik.

https://de.wikipedia.org/wiki/Rainer_Stinner

https://www.facebook.com/rainer.stinner

https://christian-klingen.de/2021/08/11/fdp-politiker-gegner-der-corona-impfung-sind-gefaehrliche-sozialschaedlinge/

https://twitter.com/rainerstinner

Auf Rainer Stinners Twitter-Account ist die einzige Aktivität dieses Jahres ein Lob für Sigmar Gabriel, der mal SPD-Wirtschaftsminister war, bei Lanz´ Diskussionssendung. Aber kein einziger Tweet zu Covid-19, ebenso im letzten Jahr kein einziger Tweet zu Covid-19.

Sodass man annehmen kann, dass für Stinner die Covid-19-Frage keine besondere Rolle spielte.

Vielmehr stellt sich die Frage des Kontextes. Es erscheint irgendwie wahrscheinlich, dass Stinner diese Formulierung, die er so oder so ähnlich sonst nie verwendete, in einem spezifischen Zusammenhang und Kontext verwendete, zum Beispiel, weil er es als die einzige Methode betrachtete, einen Gedanken an vielleicht weit rechtsextreme Mitdiskutierer heranzubringen.

Stinner brachte diese Wortwahl nur auf Facebook (und sonst nirgendwo), und gerade Facebook war von allen IT-Konzernen derjenige gewesen, der am längsten Ex-US-Präsident Trump die Stange gehalten hatte, und daher hat Facebook auch einen weiter rechts stehenden Mainstream als zum Beispiel Twitter.

Es ist durchaus üblich in der Politik, dass man sich in der Wortwahl seinem Publikum anpasst. Und das ist auch hier möglicherweise passiert.

Sodass die ganze "Sozialschädlings"-Formulierung vielleicht mehr über das Publikum aussagt, an das Stinner in diesem konkreten Kontext sprach, und nur wenig oder gar nichts über ihn.

Allerdings ist auch und insbesondere Wahlkampf, nämlich deutscher Bundestagswahlkampf. Und, auch wenn man es als positiv sehen kann, dass Stinner hier möglicherweise versuchte, Leuten ein neues Argument nahezubringen, indem er eine Wortwahl verwendete, die ihnen vertraut war, so kann dieser Sager auch wahlkampftechnisch negative Konsequenzen haben.

Aber wie gesagt: Stinner ist schon lange in Pension, und hat keine politische Funktion mehr, er ist nicht mehr Bundestagsmitglied und er ist nicht Mitglied des Parteivorstand. Beides nicht mehr seit 2013.

https://www.qwant.com/?q=Rainer+Stinner+FOto&t=images&o=0%3AB038691E9A5E987F5043EF4BE1F0D548300F01CA

Ex-FPD-Politiker Rainer Stinner: wurde seine kontextspezifische Wortwahl aus Progagandagründen und Wahlkampfgründen hochgespielt und verfälscht, bzw. dekontextualisiert, also unzulässig aus dem Zusammenhang gerissen ?

Die Kleinparteien (wie die FDP) sind besonders angewiesen auf objektive und sachliche Medien, auch deswegen, weil sie keine eigenen Medien haben, die meinungsbildend wirken könnten.

Und auch der Links-Trend, bzw. Rot-Grün-Trend (Viele Studien sprechen von Zweidrittel- oder Dreivierteldominanz von Rot-Grün-Sympathisanten) unter den einfachen Journalisten kann dazu führen, dass die FDP schlechtere Darstellungschancen erhält, als sie verdient.

Zumal sie noch dazu weder die Medienunterstützung der CDU/CSU hat, und auf der anderen Seite auch von der AfD als Konkurrenz wahrgenommen wird, und von dieser Seite her falsch dargestellt wird.

Im Falle der AfD (oder der FPÖ) kommt hinzu, dass AfD oder FPÖ sich selbst entlasten und aus der Kritik bringen oder bringen wollen, indem sie auf (oft klitzekleine und kontextuell-verständliche) Ähnlichkeiten der FDP mit der NSDAP hinweisen und darauf in übertriebener Weise herumreiten, frei nach dem Motto des ehemaligen Wiener Bürgermeisters Häupl (SPÖ): "Wahlkampf ist die Zeit der fokussierten Unintelligenz".

0
Ich mag doch keine Fische vergeben
Meine Bewertung zurückziehen
Du hast None Fische vergeben
0 von 6 Fischen

bewertete diesen Eintrag

5 Kommentare

Mehr von Dieter Knoflach