Zu gut um es unserer Elite hier vorzuenthalten:
Die Kolumnistin fragt sich nach den Wahlen in Thüringen und in Sachsen, was mit ihren Brüdern und Schwestern los ist. Darf man sich 35 Jahre später immer noch "abgehängt" fühlen? Und warum AfD? Und was wäre, wenn alle ausgewanderten Ossis zurückkämen in ihre Heimat?
Fast eine Woche sind die Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen nun her und Deutschland hat sein blaues Wunder erlebt - aber not in a good way. Es ist wie es ist, und die Gedanken mahlen unermüdlich, der Kopf rattert. Wie konnte das alles nur so in die Hose gehen?
Bei dem Wort Wiedervereinigung, da bekomme ich als West-Berliner Kind, geboren und aufgewachsen auf der Insel der Glückseligen, noch immer eine Gänsehaut, wenn ich nur dran denke, an diese Nacht vor 35 Jahren, als die Mauer fiel und alle gefühlstrunken und alkoholisiert die neuen Mitbürger an der ehemalischen Mauer in Empfang nahmen.
Kurz darauf habe ich damals die ehrenvolle Aufgabe übernommen, in einer Filiale am Stuttgarter Platz Begrüßungsgeld auszahlen zu dürfen. Schon damals habe ich den einen oder anderen "Ossi" für seinen Erfindungsreichtum und seine große Kinderschar bewundert. Also, dumm sind die nicht, unsere Brüder und Schwestern, das war uns hinter dem Schalter sofort klar. Aber wohin nun mit dem blauen Hunni? Denn bei aller Liebe: Mit 100 D-Mark kam man auch damals schon nicht wirklich irre weiter. Abgeschobene Straftäter bekommen heute mehr.
Anderes Thema, denn aktuell treibt mich um, was heute los ist in der Republik. Klar war damals, als wir voller Tatendrang anfingen, die Gegend und das Leben hinter der Mauer, die Berlin umzingelte, zu erkunden, dass wir auf Menschen stießen, die gar nicht so anders waren, als wir - und doch Lichtjahre entfernt. Ich erinnere mich an Ausflüge mit den Kommilitonen, nach Görlitz und nach Halle und Dresden und Leipsch, und ich erinnere mich auch, dass diese Ausflüge meine Liebe zur sächsischen Sprache neu beflügelten. Einer meiner Großväter kam schließlich aus Kötzschenbroda und sächselte zur Belustigung seiner Enkel, indem er den Unterkiefer vorschob und einfach sprudeln ließ. Mitunter verlor er dabei sein Gebiss und wir Kinder schrien fasziniert und angeekelt zugleich auf und hüpften über die knarzenden Dielen der großen Lichterfelder Wohnung, der Großvater immer hinter uns her.
In Görlitz und in Ostberlin, in Potsdam und in den kleinen Dörfern sah es 1989 noch immer so aus, als wäre der Krieg gerade beendet worden: So viele Lücken, Einschusslöcher aus dem Krieg in Hauswänden, bröckelnder Putz, so wenig Farben - wir hatten damals allergrößtes Verständnis für unsere Landsmänner und -frauen aus dem Osten, wenn sie sich eine Zukunft im Westen ausmalten. Sie waren so hungrig nach diesem anderen Leben - und hatten super schnell einen auberginefarbenen Renault, ein auberginefarbenes Jäcket und ein Räcket (wir sagten weiterhin Tennisschläger) in der Hand, so schnell konnte man gar nicht bis drei zählen. Meine Freundin Uschi und ich (Uschi, wenn du das hier liest, bitte melde dich, deine Uschi!), fuhren weiter die klapprigen VWs und Pandas, oder Fahrrad wegen Smogalarm, während die Kollegen von drüben den Kapitalismus inhalierten.
Es war nicht alles schlecht
Wir fanden das okay, es gab viel nachzuholen, und als der erste Maik mit A und I unseren Weg kreuzte und die ersten Sachsen mit uns in einer Gondel in der Schweiz saßen und wir versuchten, uns nicht kaputtzulachen ("Nu, Elfriede, sö anders sind die Berge hier in der Schweiz nu och nicht als in der Tschechei"), da war uns klar: So isses jetzt. Für immer. Sie waren gekommen, um zu bleiben. Und das war auch gut so.
Der Osten wurde leerer. Die Jugend verließ das Land. Manche gingen nur ein paar Kilometer gen Westen, andere wanderten gleich ganz aus. Haben wir verstanden, wir hatten Amerika, Italien und Frankreich, Schweden, Bali und Marokko schließlich schon bereist. Doch jetzt habe ich etwas gelesen, das mich wirklich zutiefst berührt hat: In der Süddeutschen Zeitung fragt sich ein Autor, offenbar ein ehemaliger Ostdeutscher, ob er angesichts der katastrophalen, politischen Umstände in seiner alten Heimat nicht zurückkehren müsste. Um den Mutigen, den Dagebliebenen, den anderen, die nicht AfD gewählt haben, zur Seite zu stehen? Er geht sogar so weit, sich zu fragen, ob das ganze Desaster gar nicht erst passiert wäre, wenn er und die anderen vier Millionen nicht "abgehauen" wären nach dem Fall der Mauer? Ob es ein ganz anderes Gefüge gäbe in den sogenannten neuen deutschen Bundesländern?
Remigration 2.0
Er spielt nun mit dem Gedanken, zurückzukehren, und wagt das Experiment zu denken, was wäre, wenn die Jungen von damals, die gut Ausgebildeten, die Weltoffenen, zurückkehren würden? Gut, jung wären die Rückkehrer nun auch nicht mehr, aber anders. Keine AfD-Wähler wahrscheinlich. Und an denen fehlt es ja am meisten in den blauen Regionen. Auch an Ideen, Nachwuchs und Steuern herrscht Mangel. Was nützt es, wenn das Erzgebirge blitzblank geputzt ist und dennoch keine Kinder in den Straßen spielen? Was nutzt es der Lausitz, wenn Görlitz aussieht wie ein kleines Schmuckkästchen, aber keiner mehr dort arbeiten kann, außer, wenn ein historischer Film gedreht wird?
Der SZ-Autor fragt sich, wie es wäre, wenn 4,1 Millionen ausgewanderte ehemalige DDR-Bürger wieder an Ort und Stelle wären, und er malt eine schöne Utopie: "Es wäre eine ganz andere Form von Remigration. Eine, die Björn Höcke nicht gefallen dürfte. Eine, die jene Orte, die wir trotz allem unser Zuhause nennen, verwandeln könnte. Idealerweise in Orte, in denen es überall - am Gartenzaun oder am Kneipentresen, auf dem Schulhof oder auf dem Fußballplatz, im Wohnzimmer oder in der Fitnessstudio-Umkleide - mehr Widerspruch und weniger Menschenfeindlichkeit gäbe."
Das klingt toll. Er vergisst nur leider, dass der einzige Fußballtrainer, der noch Bock hat, sich mit den Blagen zu beschäftigen, dieser gemäßigte, auf den ersten Blick sympathische AfD-ler aus dem Ort ist. Und dass die Jungs bei der freiwilligen Feuerwehr eventuell gar nicht erst anrücken, wenn ein Flüchtlingsheim brennt. Will man sich das antun nach Jahrzehnten im Ausland? Will man das seinen Kindern antun? Darf man das?
Ich habe damals nicht so ganz verstanden, warum alle endgültig abgehauen sind: Endlich waren die Grenzen offen, man hatte die Chance, sein Land zu gestalten und mitzubauen. Immer, wenn ich gegangen war, kam ich wieder. Vielleicht habe ich den Absprung einfach nicht geschafft, vielleicht war meine Liebe zu Stadt, Land und Familie und Freunden aber auch zu groß. Dann kamen die Spekulanten, die sich die blühenden Landschaften einverleibten, es kamen Gewinnler und Profiteure - aber wenn die 4,1 Millionen geblieben wären, dann hätten die fiesen Wessis doch keine Chance gehabt. Bedauerlicherweise wird es nicht reichen, wenn Maik mit A und I und all die anderen einfach nur zurückkämen, zu viel ist geschehen. Aber einen Versuch wäre es wert, denn sonst wird man sich das vielleicht ewig vorwerfen, dass man seine Brüder und Schwestern im Stich gelassen hat.
Quelle: ntv.de