Seit Beginn der kriegsbedingten Sanktionen gegen Russland wird über deren Wirksamkeit gestritten. Nun scheinen die Sanktionen dem russischen Energieunternehmen Gazprom doch so sehr zuzusetzen, dass das Unternehmen Notverkäufe vornehmen muss.
Dieser von Bona Hyun mit Rückgriff auf Recherchen von Reuters verfasste FR-Artikel beschreibt zum einen, wie sehr das Unternehmen Gazprom derzeit ökonomisch unter Druck steht. Die Gaslieferungen in den EU-Binnenmarkt – dem bisher wichtigsten Absatzmarkt für Gazprom – ist auf etwa ein Sechstel der Exportmenge vor dem russischen Überfall eingebrochen. Der Export von fossilier Energie ist allerdings die Basis der auf Extraktivismus bauenden russischen Ökonomie.
Darüber hinaus verweist Hyun in seinem darauf, dass Putin vor dem russischen Überfall auf die Ukraine versucht hat, die Abhängigkeit der EU von russischen Gaslieferungen zu steigern und zu verfestigen. In dem Artikel heißt es:
„Es sei ´Teil seiner Kriegsstrategie´ gewesen, Europa noch vor dem Ukraine-Krieg den Gashahn zuzudrehen. Putin habe beabsichtigt, ´Europa mit einem Energiekrieg zur Unterwerfung zu zwingen, um zu verhindern, dass es sich mit der Ukraine solidarisch zeigt´, so O´Donnell. ´Zu seiner Überraschung ist dies nicht geschehen.´“
Diese Einschätzung wird gestützt durch dem Beitrag „Lässt Putin den EU-Gasmarkt gezielt austrocknen?“ der „Deutschen Welle“ vom 14.10.2021. Dort heißt es:
„Besteht also eine wesentliche Ursache für den jetzigen Gasmangel darin, dass Gazprom den europäischen Börsenhandel regelrecht boykottiert, dass der Kreml die Gunst der Stunde nutzt und den Spotmarkt in der EU gezielt austrocknen lässt, um dadurch zu diskreditieren? Ist das Moskaus Kalkül?
Wer Putin bei der Auftaktveranstaltung der Energiewoche aufmerksam zugehört hat, dem war klar, dass die Meldungen, Russland wolle jetzt seine Gaslieferungen nach Europa erhöhen, vorschnell abgesetzt wurden. Der Kremlchef sprach nicht vom europäischen (Spot)markt, er meinte ausdrücklich "unsere Partner". Soll heißen: Auf zusätzliches Gas können nur die Unterzeichner von Langfristverträgen hoffen. Das ist schon kein Werbefeldzug mehr, das sieht eher nach Druck aus.
Einen ersten Achtungserfolg kann Gazprom bereit präsentieren: Gerade eben hat Ungarn mit dem russischen Staatskonzern einen 15-Jahresvertrag unterschrieben. Wenn weitere und größere EU-Länder zu langfristigen Lieferverträgen mit dem russischen Staatskonzern zurückkehren, würde das Russland dominierende Stellung auf dem europäischen Wärme- und Strommarkt für Jahre zementieren und Europa für mögliche Konkurrenten aus der Flüssiggas-Industrie noch weniger attraktiv machen.
Gleichzeitig würden solche Langfristverträge den Green Deal, die ambitionierten Dekarbonisierungspläne und Klimabemühungen der EU, konterkarieren. Denn die EU-Länder müssten bis Mitte oder gar Ende der 2030er Jahre große Mengen des fossilen Energieträgers Gas importieren, auch wenn die Erneuerbaren Energien bereits in diesem Jahrzehnt den erwarteten und angestrebten Entwicklungsschub bekommen sollten. Aber offensichtlich will Moskau genau das auch erreichen.“
Das deutet darauf hin, dass der russische Krieg gegen die Ukraine nicht alleine von großrussischen Träumen bestimmt war und ist, sondern auch von handfesten ökonomischen Interessen, nämlich der Verhinderung eines allzu schnellen Ausstiegs aus der fossilen Energienutzung im Rahmen der EU-Energiewende (selbst wenn viele die EU-Energiewende aus klimapolitischer Sicht für völlig unzureichend halten, was sicher stimmt). Wer den russischen Krieg gegen die Ukraine verstehen will, sollte die ökonomischen Interessen Russlands und die Folgen der EU-Energiepolitik für die russische Wirtschaft, die weitgehend vom Export fossiler Energieträger abhängt – wie im übrigen auch ein großer Teile des russischen Staatshaushalts, stärker in den Blick nehmen.