Die Einblicke in die private Residenz des Söldnerführers Jewgeni Prigoschin offenbarten viel Skurriles. Auf den Fotos, die nach der Durchsuchung seines Petersburger Anwesens in den Medien kursieren und im Rahmen des von aussen eingeschränkt Wissbaren authentisch erscheinen, sind ein Schrank voller Perücken, Berge von Bargeld, eine Ikonostase und ein eingerahmtes Foto von abgetrennten menschlichen Köpfen zu sehen. Feierlich aufgestellt ist ein Vorschlaghammer mit der Inschrift: «Für wichtige Verhandlungen». Mit einem solchen Hammer wurde ein «Verräter» aus den Reihen der Wagner-Söldner hingerichtet, seitdem ist das Werkzeug in Russland ein beliebtes Souvenir, auch als Miniaturkopie.
Aber ist Prigoschin wirklich nur ein Freak, wie ihn ein deutsches Leitmedium nannte? Vielmehr ist er Teil der grossen Freak-Show, die der heutige russische Staat ist. Man kann endlos darüber spekulieren, wo Prigoschin in dessen Hierarchie steht oder wie sein Verhältnis zu Putin ist – sein Lebensstil ist für die russische Machtelite ziemlich typisch. Auch sein Haus hat viel Ähnlichkeit mit den Privaträumen anderer mächtiger Russen, in die man in den letzten Jahren unter verschiedenen Umständen hineingeschaut hat.
Am 1. Oktober 2013 berichtete die Zeitung «Kommersant» über die Hausdurchsuchung bei einem hohen Beamten der Rechnungskammer: «Er besuchte jede Woche die Kirche, reiste jährlich nach Neu-Athos, und sein Büro glich eher einer Ikonostase. Zwischen den Ikonen standen eine einen halben Meter grosse Puppe des ehemaligen Leiters der Rechnungskammer Sergei Stepaschin und ein Dutzend Gläser mit Honig.»
Der Zeitpunkt dieser Publikation war wohl kein Zufall. Am Tag davor hatte die Zeitung berichtet, Putins Sprecher Dmitri Peskow habe den Journalisten verraten, warum sein Chef den Oppositionspolitiker Alexei Nawalny niemals beim Namen nennt: «Wenn er Nawalnys Namen ausspräche, gäbe er ihm etwas von seiner Popularität ab.» Kurz danach wurde die Meldung gelöscht. Die Zeitung brachte eine Mitteilung, man habe den Bericht «annulliert», als hätte man mit dieser rituellen Formel das Gesagte ungesagt gemacht. Nawalny spottete, er habe es schon immer gewusst, Putin und seine Bande seien Heiden aus der Hölle.
Im Sommer 2020, zum 75. Jahrestag des Sieges über Deutschland, wurde in einem Moskauer Vorort der Tempel der Streitkräfte eingeweiht. Das panzergrün gestrichene Gebäude erinnert eher an ein atavistisches Heiligtum als an eine orthodoxe Kirche, im Inneren ist Hitlers Kittel ausgestellt.
Vor diesem Hintergrund erscheint das Foto der abgeschlagenen Köpfe neben der Ikonostase im Haus des Warlords Prigoschin nicht mehr so seltsam. Nawalny jedenfalls höhnte damals, nicht nur Putin, sondern auch die Oberen der russisch-orthodoxen Kirche täten nur so, als seien sie Christen, in Wirklichkeit seien sie Heiden, und verwies auf ein Ereignis, welches kurz davor in Russland für grosse Aufregung gesorgt hatte.
Ein Schamane namens Alexander Gabyschew war aus dem sibirischen Jakutien ausgezogen, um Putin mit magischen Ritualen zu entmachten. Sein Marsch nach Moskau wurde zu einem grossen medialen Spektakel, die Behörden hatten offensichtlich Angst, sich dem Magier in den Weg zu stellen. Erst Monate später wurde der Schamane verhaftet und just während der Siegesfeierlichkeiten 2020 in eine psychiatrische Anstalt eingesperrt.
Dass russische Machteliten Pseudowissenschaften und magischen Praktiken anhängen, hat eine lange Tradition, man denke nur an Grigori Rasputin und die Scharen der Wunderheiler der Breschnew-Ära. Es gibt keine Hinweise darauf, dass das magische Denken der Eliten die Form einer Lehre oder eines Kults mit festen Ritualen hat, vielmehr handelt es sich um ein archaisches Weltbild, in dem Worte Materialität besitzen und Orte Macht ausstrahlen können.
Dieses Weltbild verbindet Magie mit Heimlichkeit: Ist das Geheimnis gelüftet und ein Ort der Macht entweiht, verliert er seine Wirkung. Es fällt auf, dass Putin seine Privatsphäre geradezu manisch vor der Öffentlichkeit versteckt, als würden ihn fremde Blicke genauso schwächen wie der Name seines Widersachers. Nawalny seinerseits glaubte, dass seine Enthüllungsvideos den russischen Machthabern grossen Schaden zufügen, und sein engster Mitarbeiter Leonid Wolkow fabulierte kürzlich sogar, sie würden dem Regime ebenso schaden wie die ukrainische Armee.
Als Reaktion auf Nawalnys Verhaftung im Januar 2021 veröffentlichte sein Team einen Film über Putins geheime Residenz am Schwarzen Meer. Der Bericht über Prigoschins Residenz, den der Sender Ren-TV vor einigen Tagen ausstrahlte, hatte eine nicht zu übersehende Ähnlichkeit mit diesem Video. Der Sender ist neben der Zeitung «Iswestija» ein Teil der Mediengruppe NMG, deren Vorstandsvorsitzende Putins mutmassliche Lebensgefährtin Alina Kabajewa ist und die laut dem Investigativmedium «Projekt» teilweise Putin selbst gehört.
Die Vorführung der kitschigen Interieurs, die sich kaum von Putins blossgestellten Gemächern unterscheiden, wird von der Aufzählung der Aktiva von Prigoschins Familie und den Instagram-Videos seiner wild feiernden Tochter begleitet, die schreiend geschmacklosen italienischen Möbelstücke werden mit Herstellernamen und Preis vorgestellt. Nach den spektakulären Durchsuchungen soll Prigoschin alles zurückerhalten haben. Ihm wird nur seine Macht genommen, sein Besitz ist Nebensache.
Im Film über Putins Palast wird ein geheimnisvolles «Schlammzimmer» erwähnt. Bei Prigoschin wird länger in einem Raum für medizinische Behandlungen verweilt. Er sei, mutmasst der Sender, in der Covid-Zeit als eine Art private Intensivstation entstanden. Denkbar ist auch eine andere Verwendung: Die russische Machtelite ist besessen von verjüngenden und lebensverlängernden Therapien.
Im April 2022 veröffentlichte «Projekt» eine Recherche über Putins Gesundheit. Daraus geht hervor, dass er und seine nächste Umgebung buchstäblich im Blut baden, nämlich im Blut der Marale, einer im Altai-Gebirge beheimateten Art der Rothirsche mit einem besonders prächtigen Geweih. Im Frühjahr beginnt das Geweih zu wachsen, in dieser Zeit ist es noch nicht verknöchert und voller Blut.
Um es zu gewinnen, werden die Tiere in eine spezielle Konstruktion eingespannt, hochgehoben, und die noch lebenden Hörner werden mit einer Säge abgeschnitten. Die Einheimischen, von denen viele dem traditionellen Schamanismus anhängen, auch wenn sie formal Buddhisten oder Russisch-Orthodoxe sind, schreiben dem Blut der Tiere Verjüngungskräfte zu.
Einer von ihnen, der russische Kriegsminister Sergei Schoigu, soll Putin noch Mitte der nuller Jahre für diese Prozedur begeistert haben. Seitdem habe sich die Mode in der russischen Führungsriege verbreitet. Ihr sollen der Moskauer Bürgermeister Sergei Sobjanin und der Gazprom-Chef Alexei Miller verfallen sein, und sie lassen sich angeblich das Blut der Marale mit einem Business-Jet bringen.
Einer der wichtigsten Wirkungsorte von Prigoschins Wagner-Gruppe war die Zentralafrikanische Republik. Man kommt nicht umhin, an den einstigen dortigen Diktator Bokassa zu denken, sein Name ist in Russland ein Begriff. Nach seinem Sturz 1979 wurden bei ihm menschliche Körperteile gefunden. Bokassa behauptete, sie gehörten seinen Feinden und er habe sie nicht zum Verzehr, sondern für magische Zwecke aufbewahrt.
Im allgemeinen russischen Sprachgebrauch werden brutale Machtfiguren wie Prigoschin oder Putin Menschenfresser genannt. Man sagt, man lebe in kannibalischen Zeiten im Gegensatz zu relativ ruhigen, vegetarischen. In einem populären Schmähreim, im Umlauf seit 2012, frisst Putin kleine Kinder. Und zu aller guten Letzt sei erwähnt, dass der quasi offizielle Sänger der Z-Ideologie den Künstlernamen Schamane trägt. Dem Westen mag Prigoschin wie ein Freak vorkommen. In seinem Umfeld ist er völlig normal.