Unter dem Motto "Für eine offene und freie Gesellschaft – Solidarität statt Ausgrenzung!" und dem Hashtag #Unteilbar rufen viele Organisationen, Politiker, Prominente etc zu einer Großdemo am 13.10.2018 in Berlin auf. Der Aufruf, der in viele Sprachen übersetzt worden ist, u.a. auch in die so genannte (daß es sowas gibt!) "einfache Sprache", kann hier nachgelesen werden und ist so unsauber formuliert, so hinterfotzig perfide und herumeierig, daß ich eine Weile brauchte, die von ihm induzierte Blödheit wieder los zu werden und die Sprache wieder zu finden.

Ja, die Sprache. Was steht drin? Fangen wir hiermit an:

Das Sterben von Menschen auf der Flucht nach Europa darf nicht Teil unserer Normalität werden.

Der Satz hat's in sich, mehrfach. Ja nee is klar, Murat, Sterben ist schon scheiße an sich, daheim im Bett mag das ja noch angehn, im Kreis der Familie, jeder stirbt mal, da kann man nix machen. Oder im Straßenverkehr. Aber auf der Flucht? geht ja mal gar nicht. Da müssen unbedingt sichere Fluchtkorridore her! am besten betreutes Flüchten, auf daß mir nichts mangele im Angesicht meiner Feinde, und sei einer dieser die Meerhaftigkeit des Mittelmeeres, welches für diese seine Eigenschaft gar nix kann.

Und dann das darf nicht Teil unserer Normalität werden. Ja Herrschaftsnein, das wußt' ich gar nicht, das passiert erst seit gestern und droht gerade jetzt zur Normalität zu werden? Drittens - wieso ist die Grundlage unser Normalität nur "Teil" derselben?

Hagen Rether - den ich nicht unter den Unterzeichnern entdecken konnte, guter Mann - hat es schön auf den Punkt gebracht:

(...) unsere Lebensweise ist deren Fluchtursache, von Klamotten bis Landwirschaft, vom Ehering bis zur Stereoanlage und zum Waffenhandel (...) Das ganze läuft ja auch schon mindestens seit 1444 so, seit die ersten Sklavenschiffe in Lissabon angekommen sind. Haben wir ernsthaft geglaubt, das geht jetzt nochmal 600 Jahre so? Haben wir gedacht, das merkt keiner? (...) Uns fliegen jetzt gerade 600 Jahre Kolonialismus um die Ohren, und wir müssen das irgendwie mit Anstand über die Bühne kriegen, ohne zu verrohen, ohne Barbaren zu werden wie unsere Vorfahren.

Da ist 'ne Wohlfühldemo doch ein guter Ansatz, nicht wahr. Und auch bitter nötig. Warum? Deshalb:

Es findet eine dramatische politische Verschiebung statt: Rassismus und Menschenverachtung werden gesellschaftsfähig. Was gestern noch undenkbar war und als unsagbar galt, ist kurz darauf Realität. Humanität und Menschenrechte, Religionsfreiheit und Rechtsstaat werden offen angegriffen. Es ist ein Angriff, der uns allen gilt.

Gestern noch... wann war denn gestern? Und wie war das damals? Seit wann gibt es die NPD, wann gab's die DVU? gibt's die noch? Haben die etwa nicht offen agiert und, statt etwas zu sagen, sich verschämt Kassiber zugesteckt?

Weiß noch wer, wie das in den Neunzigern war? Ich hab hier noch eine Titanic aus den frühen 90ern rumliegen, darin eine Anzeigen-Persiflage einer Bausparkasse. Darauf sind Ne... 'tschulligung, Farbige zu sehen, die von einer Meute mit Kapuzen gejagt werden, Sensen und Mistgabeln und sowas dabei. Der Slogan lautete:

Rasant, rasant, Herr Asylant. Am 31.12. ist Abschiebetag.

Dazu muß man wissen, daß die Titanic ein überaus geschmackloses Satire-Magazin ist, welches Tagesgeschehen aufspießt und ganz widerwärtig pointiert auf seine Seiten spuckt. Schon damals gab es Bestrebungen, das Asylrecht abzuschaffen, Abschiebungen usw. - nicht jedoch von der Titanic, versteht sich.

Und die Jahre davor? Wann hat das angefangen? Wer aufmerksam gelesen hat, denkt sich: siehe oben, Zitat Hagen Rether. Aber es war schon viel früher so. Ist es nicht so, daß all das immerfort erkämpft werden mußte, am effektivsten ohne Jammerei, daß angegriffen wird, was erst verwirklicht werden soll? Wann wurden Humanität und Menschenrechte, Religionsfreiheit und Rechtsstaat denn nicht angegriffen, als sie sich durchzusetzen begannen? Aber das Hier und Jetzt ist wichtig. Endlich geschieht mal was! Na, was denn?

Gemeinsam werden wir die solidarische Gesellschaft sichtbar machen! Am 13. Oktober wird von Berlin ein klares Signal ausgehen.

Ein Signal geht aus, man wird ein Zeichen setzen! Aber ein selten dämliches. Ich geh doch nicht auf die Straße und skandiere "ich bin ehrlich! gegen die Betrüger!" oder "ich habe nie meine Frau geschlagen" und "mein Hund ist immer gut gefüttert", etwa mit diesem Text auf einem Banner:

Wer seine Frau schlägt, läßt auch seinen Hund verhungern!

Gegen Frauendemolierer! gegen Hundeverhungerer!

Denn dadurch wird Grundsätzliches plötzlich verhandelbar als Position und Gegenposition. Man handle aus der eigenen Integrität heraus und stelle sie nicht hin als Option in Konkurrenz zur Korruption. Wer das tut, ist schon zum Teil korrumpiert und kämpft im Äußeren und Inneren gegen eine denkbare Alternative. Ach, wenn heute doch nur gestern wäre, dann wäre das alles gar nicht denkbar, man spräche Satisfaktionsfähigkeit ab und befaßte sich nicht weiter damit. Und dann müßt man sich auch nicht des morgens im Frühnebel gegenseitig abknallen im Beisein der Adjutanten.

Moment mal... was war das da vor dem Signal? die solidarische Gesellschaft sichtbar machen - nein wirklich, das steht da! Kennt jemand von euch eine Gesellschaft, dies sich als solche schimpfen kann und nicht irgendwie solidarisch ist? Auch eine Kumpanei ist auf ihre Art solidarisch. Die Botschaft des unsäglichen Postulats hier ist aber, daß diejenigen, die sich so sichtbar machen, die Solidarischen seien, im Gegensatz zu den Unsichtbaren, die wohl leider unsolidarisch sind, weil die sind ja nicht dabei, und gemeinsam sind die auch nicht. Was für eine Anmaßung.

Während der Staat sogenannte Sicherheitsgesetze verschärft, die Überwachung ausbaut und so Stärke markiert, ist das Sozialsystem von Schwäche gekennzeichnet: Millionen leiden darunter, dass viel zu wenig investiert wird, etwa in Pflege, Gesundheit, Kinderbetreuung und Bildung. Unzählige Menschen werden jährlich aus ihren Wohnungen vertrieben. Die Umverteilung von unten nach oben wurde seit der Agenda 2010 massiv vorangetrieben. Steuerlich begünstigte Milliardengewinne der Wirtschaft stehen einem der größten Niedriglohnsektoren Europas und der Verarmung benachteiligter Menschen gegenüber.

Ei, was das für Worte sind! Der Staat markiert Stärke (pinkelt gezielt wohin), das Sozialsystem ist gekennzeichnet, etwas pasiert, wurde vorangetrieben, und das Eine steht dem Anderen gegenüber. Da ist für mich Schluß mit lustig. Die Gegenübersteher sollten sich mal die Hände reichen und gemeinsam zu einer Lösung finden, zefix!

Weder werden hier Roß noch Reiter benannt, wer vertreibt wen, wer verschärft irgendwas, treibt irgendwas voran, noch gibt es irgendein Ziel des Protestes, man ist ja die solidarische Gesellschaft - aber immerhin

Nicht mit uns – Wir halten dagegen!

Wir treten für eine offene und solidarische Gesellschaft ein, in der Menschenrechte unteilbar, in der vielfältige und selbstbestimmte Lebensentwürfe selbstverständlich sind. Wir stellen uns gegen jegliche Form von Diskriminierung und Hetze. Gemeinsam treten wir antimuslimischem Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus, Antifeminismus und LGBTIQ*- Feindlichkeit entschieden entgegen.

man hält dagegen und tritt ein. Hereinspaziert, steigen Sie ein, fahren Sie mit, das macht Freude, das macht Spaß, spüren Sie das wohlige Kribbeln im Bauch der Demo, während Sie das Leben umeinanderkugelt im Gegenstellen gegen die Gegensteller! Und nicht nur Sie, alle anderen machen mit! Mach auch du mit!

Für ein Europa der Menschenrechte und der sozialen Gerechtigkeit!

Für ein solidarisches und soziales Miteinander statt Ausgrenzung und Rassismus!

Für das Recht auf Schutz und Asyl – Gegen die Abschottung Europas!

Für eine freie und vielfältige Gesellschaft!

Solidarität kennt keine Grenzen!

Man soll also für etwas sein, wogegen man vernünftigerweise nicht sein kann. Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit sind mittlerweile zivilisatorische Standards, die unsere Vorfahren, mit herben Rückschlägen und Tod und Teufel, längst erfochten haben. Wer dagegen ist, der hat nur noch nicht begriffen, was diese Errungenschaften auch für ihn selbst bedeuten. Das Recht auf Schutz und Asyl ist gesetzlich verbrieft - noch, und anstatt hinaus zu posaunen, daß man für dieses Recht sei, wehre man sich dagegen mit politischen Mitteln, daß der Rechtsstaat demontiert und uns dieses Recht genommen wird. Denn es ist unser Recht, nicht das Recht der "Asyltouristen und Kanaken", es ist unser Recht und schützt uns davor, auf dem Kairoer Sklavenmarkt verkauft zu werden wie weiland der Gauthammer Sieghard aus Butterau bei Miesbach. Man stelle sich vor wie es für einen selbst wäre, wenn man fliehen müßte vor dem bösen Nachbarn aus der Hölle des Dorfes und dieses Recht auf Asyl nicht hätte bei der Oma. Du glaubst nicht, daß das Recht auf Asyl deines ist? Warte nur, bis der Seeweg von Mekka nach Andechs wieder hergestellt ist und die Sarrazenen Baiern überrennen. Oder die Tschuschen stehen vor Wien. Was dann?

Zur Abschottung Europas siehe oben, Hagen Rether. Die ist längst Fakt, und ihre Überwindung erfordert Änderungen jedes Einzelnen genauso wie Änderungen im Kollektiv, also politsche Änderungen. Man kann gerne gegen die Abschottung sein, man kann gerne auch dafür sein - am besten ist aber ein Zustand, in dem die Abschottung gegenstandslos wird und nicht mehr gebraucht wird. Und dazu müssen wir weder alle Afrikaner einladen, noch sie umbringen.

Für eine freie und vielfältige Gesellschaft? was für ein Nullspruch. Als ob wir diese Gesellschaft nicht hätten, in dem Maße in dem wir selbst frei und vielfältig sein können. wie? was? ich höre Widerspruch? sind wir nicht? können wir nicht? Dann müssen wir gegen die Hindernisse angehen, im Inneren wie im Äußeren, und im Äußeren heißt: politisch.

Wohlfeile Phrasen dreschen hilft da gar nix. Ach ja, fast vergessen: natürlich hat Solidarität Grenzen. Wie bei jeder Kumpanei. Geht mit der Demo mit, und sammelt Bankverbindungen von Leuten, die bereit sind, in einen Solidaritätsfond ein Zehntel ihres Gehalts einzuzahlen, damit die Millionen HartzIV-Empfänger die Möglichkeit haben, gegen ihre Kujonierer zu streiken, also in einen Gewerkschaftsfond der Mittellosen. Da werdet ihr sehen, wo die Grenzen der Solidarität liegen.

Damits ihr etwas Kultur in den Ranzen kriegts, hier zum Schluß noch die Vier Ernsten Gesänge des Herrn Brahms, vorgetragen von der wunderbaren, unvergessenen Kathleen Ferrier. Ich vergeß ja sonst so viel, das aber nicht.

Besonders der dritte, ab 9:07, hört's gut zu.

Denn glaube keiner, die Flüchtenden hätten nicht den Tod vor Augen, aber der in der Heimat Umgehende ist schrecklicher.

Und es geht nicht um das Sterben sondern ums nicht leben können dort, wo die Heimat war, und darum, wie solches Elend verursacht wird und von wem. Keiner flieht nur so zum Spaß, und auch das ist eine Binse.

Q.

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