„Alte Leute sind gefährlich, sie haben keine Angst vor der Zukunft“, das Bild von drei alten Frauen auf der Parkbank lädt nicht gerade in die Wohnung von Veronika Kritzer-Berger ein. Es ist mit Humor zu nehmen, wie vieles bei der 63-Jährigen. „Ich habe eine enorme Portion Energie“, das glaubt man der Blondine im lila Flatterkleid sofort, „die kann ich hier einfließen lassen.“ Letzteres war ein Grund dafür, dass sich die pensionierte Physiotherapeutin entschieden hatte, ins Wohnprojekt Wien zu ziehen. Ein großes Haus kann sie mit ihrer kleinen Pension nicht bezahlen, bei 800 qm Gemeinschaftsfläche ist das auch nicht notwendig: „Hier kann ich mir mehr leisten als woanders.“ Angst vor der Zukunft braucht Veronika Kritzer nicht zu haben, hat sie doch für sich Fragen beantwortet, die wir uns alle stellen: Wie möchten wir wohnen? Und mit wem?
„Wohnen gilt als ein Phänomen der Neuzeit“, konstatieren die Architekten Insa Lüdtke und Eckhard Feddersen im Buch „ Entwurfsatlas Wohnen im Alter“. Tatsächlich kann man das Hausen in Höhlen unserer Vorfahren wohl kaum als „Wohnen“ im aktuellen Verständnis betrachten. „Wohnen ist zunächst eine sehr individuelle Angelegenheit“, schreiben sie, „gleichzeitig handelt es sich um eine kollektive Erfahrung. Wohnvorstellungen sind immer Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse und damit stets im Wandel begriffen.“ Ein Wandel, der kaum zuvor so erlebbar war wie heute. Wo früher die klassische Haushaltsform - Ehepaar mit Kind(ern) – Standard war, fordern jetzt unterschiedliche Lebenskonzepte unterschiedliche Wohnformen. In Wien wächst jedes dritte Kind in einer anderen Familienzusammensetzung auf als der ihrer Geburt. „Patchwork-Situationen sind gang und gäbe. Häufige Wechsel gehen in unserer Gesellschaft mittlerweile leicht“, beschreibt Raimund Gutmann vom Institut für Alltagskultur, was die Trendforschung „Multigrafie“ nennt, „man stellt sich auf die Lebensphasen anders ein. Sie produzieren aber auch andere Wohnungsnachfragen.“ Besonders die wachsende Gruppe der „neuen Alten“ stellt unsere Industriegesellschaft auf den Kopf: Die Lebenserwartung der Mitteleuropäer steigt alle 24 Stunden um sechs Stunden. Heutige 80-jährige sind nicht nur dreimal so viele wie vor 30 Jahren, sie sind auch länger vital. Damit eine „dritte Lebensphase“ entstanden, deren vielfältige Demografie ebenso bunte Wohnformen produziert.
"Wir wohnen wie eine große Familie im Haus zusammen", erzählt Susanne Skorianz. Mit ihrem Mann und den drei Kindern lebt sie im Obergeschoß eines ehemaligen Bürogebäudes im Kärntner St. Johann. Im Erdgeschoß sind „Oma“ und „Opa“ untergebracht – nicht die leiblichen Großeltern, sondern sechs ältere Menschen aus dem Ort. Während diese sich in der neuen Familie nützlich machen, profitiert auch die junge Mutter: „Immerhin wollte ich Familie und Beruf unter einen Hut kriegen.“ Ein Gewinn für beide Seiten ähnlich dem Modell „Wohnen für Mithilfe“: Dabei holen sich ältere Menschen in deutschen Städten StudentInnen als UntermieterInnen. Diese putzen Fenster, erledigen Einkäufe – und sparen so bei der Miete. Ein Tausch-Konzept, das sich auch in einem Seniorenheim in Freiburg bewährt. Als dort bekannt wurde, dass Studierende einziehen, nahmen Wohnanfragen von Senioren zu. Kein Wunder, belegen doch Studien, dass ältere Menschen durch soziale Einbindung einen gesünderen Lebensstil führen und im Schnitt älter werden.
„Generationenwohnen ist ein Ziel – war es immer, wird es immer sein“, bestätigt Gutmann, „aber es gibt Zwischenstufen und Nuancen. Die 80jährigen wollen nicht immer den Kindergarten vor der Nase haben, sondern brauchen Ruhe und Privatheit. Sie wollen aber gleichzeitig nicht abgeschottet sein, sondern schätzen den Zugang zum normalen Leben.“ Das Ziel echter Integration scheint beim Wohnprojekt Wien aufgegangen zu sein. „Bei uns verschwimmen die Grenzen der Generationen“, schwärmt Kritzer-Berger. Bei 67 Erwachsenen und 25 Kindern zwischen 0 und 69 Jahren durchaus eine Herausforderung – eine, die sich nicht auf das Alter beschränkt. „Die markanten gesellschaftlichen Trennungslinien im Bereich Wohnen gehen oft stärker durch das Soziale und über den Bildungsaspekt als über das Faktum Alter“, so Gutmann, der sich mit seinem Unternehmen wohnbau:consult mit dem Thema auseinandersetzt. Das geänderte Altenbild ist für ihn nur eine Frage von vielen: Die Integration verschiedener Ethnien sei genauso zu betrachten wie Aspekte unserer Patchwork-Gesellschaft. Das Wohnprojekt Wien ist dafür das beste Beispiel hausen doch hier Menschen, die 20 Sprachen sprechen, über 40 verschiedene Berufe haben, homo- und heterosexuell lieben, allein, in Paaren oder WGs leben. Neben den Wohneinheiten teilen sie sich unter anderem Gemeinschaftsküche, Kinderspielraum und Dachterrasse.
Neu ist die Idee vom „geteilten Wohnen“ nicht: Schon 1820 entstand in Frankreich die erste Wohnanlage mit Clubräumen, gemeinsamer Essensversorgung und Kinderbetreuung. Das Sowjetreich stampfte Kollektivhäuser aus dem Boden und auch in Wien existierten vor dem Wohnprojekt Wien bereits alternative Projekte wie die Sargfabrik. Das Modell klingt einfach: Um Hausverwaltungen nicht ausgeliefert zu sein, schließen sich Mieter zusammen, bauen oder kaufen gemeinsam ein Haus, in dem alle gleichberechtigte Eigentümer sind. Der finanzielle Aspekt ist jedoch nur eine der Fliegen, die mit der Klappe geschlagen werden soll. Gerade der Wunsch nach gelebter Nachbarschaft ist für viele der Vorteil „kollaborativen Wohnens“.
„Es ist aber falsch, zu denken, die Gemeinschaft kommt von allein, wenn wir nur die Räume dafür bauen“, zerstört die Wiener Architekturstudentin Silvia Forlati etwaige Hoffnungen, doch: „Je ähnlicher die Werte und Einstellungen der Bewohner sind, desto eher funktionieren solche Wohnkonzepte“. Das kann auch Experte Gutmann bestätigen. „Meistens verlieren technische Probleme zunehmend an Wichtigkeit“, weiß er, dass die passende Infrastruktur zwar vorhanden sein muss, aber nur anfangs bedeutend ist, „Wohnzufriedenheit läuft über Soft-Facts ab.“ „Wohnen heißt einfach „sich wohlfühlen““, bringen es Lüdtke und Feddersen auf den Punkt, „es braucht Hunderte von kleinen Stellschrauben, um jedem Menschen sein individuelles Wohlgefühl zu ermöglichen.“ Und weil diese für jede und jeden anders aussehen, wird es auch künftig Hunderte Alternativen des Wohnens und Zusammenlebens geben.