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Joe stapfte durch die verschneite Stadt. Der Fußweg wurde von Menschen überrannt, die noch ihre letzten Einkäufe erledigten. Von oben fielen dicke weiße Schneeflocken und landeten auf den Straßen, Autos und Menschen. Doch auf der Straße sah der Schnee nicht mehr weiß aus, er sah wie eine Mischung aus dreckigem Grau und Vogelscheiße aus. Den Menschen war das egal. Selbst wenn sie weiße Weihnachten hatten, war die Freude über die Schneepracht längst gewichen und hat sich zum üblichen Ärger über den Auslöser für das weihnachtliche Verkehrschaos gewandelt. Stau und Verkehrsunfälle standen an der Tagesordnung.
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Egal, welche Zeitung man aufschlug, egal welchen Radiosender man einstellte, die Themen waren immer dieselben: Unfälle auf der Autobahn, Staus in der Innenstadt. Jeden Tag. Fast stündlich kamen neue Meldungen. „Scheiß auf Weihnachten“ grummelte Joe im Gedanken vor sich hin, während er zwischen den von vorweihnachtlichen Einkäufen gestressten Menschen dahinstapfte. Joe hatte im letzten halben Jahr eine schwere Zeit durchgemacht, daher war seine Weihnachtsstimmung praktisch nicht existent. Die Freundin hatte ihn verlassen, er verlor seinen Job und seine Freunde wandten sich von ihm ab, da er immer mehr in einem Sumpf aus zynischem Selbstmitleid geriet. Er war kein schlechter Mensch, aber die Ereignisse hatten ihn zu einem emotionalen Wrack verkommen lassen. Jeden Abend ertränkte er seine Einsamkeit in billigem Whisky. Man konnte nicht sagen dass er Alkoholiker war, er suchte einfach nur eine Möglichkeit seine Probleme zu vergessen und was lag da näher, als sie ertränken zu wollen. Doch die Bastarde konnten schwimmen und so waren all seine Anstrengungen umsonst. Joe steckte sich eine Zigarette in den Mund. Er ließ sein Feuerzeug kurz aufflammen und nahm einen tiefen Zug.
Die Stadt war geschmückt mit kitschiger Weihnachtsbeleuchtung, Weihnachtskugeln in allen möglichen Farben und Größen, Engeln und Weihnachtsmännern die von jeder Hauswand lächelten. „Weihnachtsmänner … wo ist unser altbewährtes Christkind geblieben? Warum musste es von diesem pädophilen alten amerikanischen Aushängeschild für Weihnachten verdrängt werden? Vor allem: Wie in aller Welt konnte sich der dicke alte Kinderficker gegen einen scharfen blonden Engel durchsetzen? Die Welt muss verrückt sein!“ dachte Joe immer wieder, wenn er einen Weihnachtsmann sah, der am Eingang zu jedem Shoppingcenter stand und Gutscheine für irgendwelchen Billigkram verteilte. „Und die Menschen“, dachte Joe weiter „sieh sich die erst einer an. Das ganze Jahr über treten sie sich gegenseitig auf die Füße, würden sich am liebsten ins Gesicht spucken und jetzt, nur weil Weihnachten ist, tut jeder so als sei er voller Nächstenliebe. Nichts als degenerierte Heuchler seid ihr“.
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Endlich kam Joe am Shoppingcenter an. Ein Weihnachtsmann der davor stand und seine Gutscheine verteilte drückte Joe einen Zettel in die Hand. „30% Rabatt auf alle Elektroartikel“. Joe sah den Weihnachtsmann verachtend an, zerknüllte den Zettel und warf ihn in den Papierkorb neben ihm, ohne den Blick von ihm abzu wenden. Unter den entgeisterten Blicken des Weihnachtsmanns betrat Joe das Shoppingcenter. Es waren unzählige Menschen darin, die noch ein Verlegenheitsgeschenk in letzter Minute suchten. Begleitet von Weihnachtsliedern die jeden in die richtige Shopping-Stimmung versetzen sollten. „Last Christmas“ dröhnte aus jedem zweiten Geschäft. Die Spielwarengeschäfte waren so gut wie ausverkauft, auch die Elektrogeschäfte, sowie die Parfümerien. Aber das alles interessierte Joe nicht.
Er wollte nur ins Untergeschoss, in den Supermarkt. Also fuhr er mit der Rolltreppe nach unten, betrat den Supermarkt und begab sich zu der Spirituosenabteilung. Er griff nach dem billigsten Whisky und ging zur Kasse. In der Schlange standen die Leute mit ihren vorbestellten Weihnachtsessen. Mit Wurst und Käseplatten, gefüllten Gänsen und anderen schmackhaften Gerichten. Beim Anblick dieses Festschmauses knurrte Joes Magen. Er hatte seit zwei Tagen nichts mehr gegessen, weil er pleite war und alles Geld das er noch hatte in Whisky investierte. Joe dachte kurz darüber nach, den Whisky zurückzubringen und lieber ein dickes fettes Steak zu holen. „Das macht 18,99“. Die Stimme der brünetten, gut gebauten Kassiererin riss Joe aus seinen Gedanken. Er kramte seine Brieftasche hervor und kratzte das Geld für den Whisky zusammen. „Danke für den Einkauf und Frohe Weihnachten!“ sagte die Kassiererin mit ihrem automatisierten, hervorragend trainierten Lächeln. „Jaja, sie mich auch“ raunte Joe kaum hörbar zurück.
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Im Aufzug betätigte Joe den Knopf für den 9. Stock. Endlich wieder fast zu Hause. Nach einer kurzen Fahrt mit dem Aufzug ertönte ein *ding* und die Türen öffneten sich. Joe verließ den Aufzug und ging nach rechts, den Flur entlang bis zum letzten Apartment. Er sperrte die Wohnungstür auf und ließ die Schlüssel auf den Schuh Schrank fallen der im Vorzimmer stand. Es lagen schon etliche Prospekte darauf, Speisekarten von diversen Pizzerien und China Restaurants und anderer Kleinkram. Nachdem sich Joe seines Mantels und seiner Schuhe entledigt hatte, ging er mit seiner Whiskyflasche ins Wohnzimmer und platzierte sie auf dem Couchtisch, schaltete den PC ein und begab sich in die Küche. Aus einem Hängeschrank nahm er ein großes Glas und ließ es zu 2/3 mit Wasser volllaufen.
Dann ging er wieder ins Wohnzimmer, setzte sich auf die Couch und öffnete die Whiskyflasche. Er goss 1/3 Whisky auf das Wasser und trank das Glas auf einen Zug aus. Darauf stand er nochmals auf, goss wieder 2/3 Wasser ins Glas und mischte es mit 1/3 Whisky. Endlich war sein PC hochgefahren. Er öffnete sein Textprogramm und sah auf den blinkenden Cursor. „Komm schon, dir muss doch was einfallen“. Aber es tat sich nichts. Ein paar Monate zuvor, als Joes Leben noch in Ordnung war, hatte er neben seinem Job ein paar Kurzgeschichten geschrieben und eine Lokalzeitung hatte sie für ein großzügiges Entgelt sogar veröffentlicht. Dieses Geld könnte Joe nun gut brauchen, deshalb entscheid er sich, wieder etwas zu schreiben. Der Cursor blinkte auf dem digitalen weißen Papier. „Scheiße!!“ fluchte Joe und trank sein Glas aus. Er füllte wieder nach. Der Cursor blinkte. Joe schrieb ein paar Worte, löschte sie aber sofort wieder. Sein Gehirn war leer. Keine Anzeichen von einer Idee in Sicht. Der Cursor blinkte. Also nahm er ein Buch seines literarischen Idols, Hank Chinaski, zur Hand und las ein paar Seiten um wieder in die richtige Stimmung zu kommen. Danach setzte er sich erneut an den PC und starrte auf die digitale weiße leere Seite. Der Cursor blinkte. Joe sah auf sein Handy. „17:45, 24.Dez. 2014“, keine neuen Nachrichten. Den ganzen Tag über war sein Handy schon still gewesen.
Meist begannen später am Abend die üblichen Weihnachtsgrüße verschiedenster Leute per SMS einzutreffen. Joe trank sein Glas aus und füllte wieder nach. Diesmal ließ er das Wasser weg, er hatte keine Lust in die Küche zu gehen und füllte daher sein Glas zu 1/3 mit Whisky. Mit dem Glas in der Hand ging er zu einem Wohnzimmerfenster und öffnete es. Die kalte Luft drang sofort in den Raum. Joe lehnte sich aus dem Fenster und sah sich die beleuchteten Fenster des Nachbarhauses an. In jedem Fenster spielte sich dieselbe kleine Weihnachtsgeschichte ab. Ein Weihnachtsbaum, Eltern die mit einem Grinsen auf den Lippen zusahen, wie ihre Kinder voller Vorfreude das Geschenkpapier aufrissen und sich über den Inhalt des Geschenks freuten. Fast keiner schenkte seinen Kindern mehr Kleidung. Die meisten Geschenke waren digitaler Natur. Ein Notebook, ein Computerspiel oder irgendetwas anderes, dass die Kinder an die Couch fesselte. „Geht bloß nicht nach draußen, draußen warten nur noch Tod und Verderben auf euch. Bleibt lieber im wohlbehüteten Heim“ dachte Joe. „Zu unserer Zeit war es noch eine Strafe wenn man im Haus bleiben musste, heute ist es eine Strafe, wenn man die Kinder zum Spielen nach draußen schickt. Witzig und beängstigend wie sich die Dinge ändern“. Joe leerte sein Glas, schloss das Fenster und setzte sich wieder vor den PC. Plötzlich wurde ihm schwindlig, er fiel auf die Couch und verlor das Bewusstsein. Der Cursor blinkte.
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Als Joe die Augen öffnete, dröhnte sein Schädel. Er war durch den übermäßigen Whisky-Konsum für kurze Zeit weggetreten. Joe sah auf sein Handy „23:31, 24.Dez. 2014“, keine neuen Nachrichten. Niemand hatte ihm geschrieben. Wer sollte ihm auch schrieben? Seine Familie feierte Weihnachten entweder im Ausland, wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben oder manche von ihnen waren einfach schon tot. Seine Ex-Freundin hatte einen neuen Freund und wer schreibt auch schon seinen Verflossenen einen Weihnachtsgruß? Joe tat es gelegentlich, aber meistens kam keine Reaktion zurück. Höflichkeit und Anstand waren so gut wie vergessen in der Welt. Und Joes Freunde schrieben auch nichts. Nur unpersönliche Massennachrichten auf diversen sozialen Netzwerken. „Yeah, ihr habt begriffen worum es sich zu Weihnachten wirklich dreht. Um die Massenabfertigung. War Weihnachten früher noch ein Fest der Liebe, geht es heute nur noch darum, möglichst viele Leute mit sinnlosem Schrott zu bombardieren. Egal ob verbal oder per Geschenk. Weihnachten bedeutet nichts mehr heutzutage. Weihnachten ist nur mehr ein weiterer Tag, an dem die Industrie ihren billigen, von Kindern gemachten ‚Made in China‘ Schrott den dummen Kunden andrehen kann und so massenhaft Umsatz macht. Die Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer.“ Joe trank sein Glas aus.
Er hatte schon mehr als die halbe Flasche geleert und ordentlich einen sitzen. Deshalb griff er sich die ganze Flasche und nahm nochmal einen kräftigen Schluck. Dann ging er zu seinem Fenster und öffnete es wieder. Er lehnte sich aus dem Fenster und dachte über sein Leben nach. „Wenn ich mich umbringen würde, käme überhaupt jemand zu meiner Beerdigung? Würd mir irgendjemand die letzte Ehre erweisen? Würde es überhaupt jemandem auffallen?“ Die Gedanken in Joes Kopf wurden immer düsterer. „Oder sollte ich besser Amok laufen? Leute töten. Unschuldige abschlachten. Vielleicht hatte Raskolnikow Recht. Vielleicht sollten die Menschen in gewöhnliche und außergewöhnliche Menschen aufgeteilt werden. Und die außergewöhnlichen haben, aufgrund ihres höheren Ranges, das recht jemanden zu töten wenn er einer guten Sache im Weg steht. Und wenn zwischen mir, einem genialen Schriftsteller, und meinem neuesten literarischen Meisterwerk jemand steht, zum Beispiel ein Bankier, dann dürfte ich ihn auch töten. Es wäre ja nur zum Wohle der Allgemeinheit, immerhin würde sonst vielleicht mein Buch nicht erscheinen und es würde die Menschen nicht zum Nachdenken bringen und die Menschen würden weiter ein trübes Leben führen ohne dass ihnen die Augen geöffnet würden.“ Joe wurde immer ein wenig überheblich wenn er getrunken hatte. „Aber“, besann er sich plötzlich „ woher würde ich wissen dass ausgerechnet ich ein außergewöhnlicher Mensch bin? Woher würde ich wissen, dass ich kein gewöhnlicher Mensch bin, der sich lediglich für einen außergewöhnlichen Menschen hält?
Vielleicht bin ich nur ein gewöhnlicher Mensch und alles was ich niederschreibe ist Scheiße. Vielleicht hilft es den Leuten auch nicht, vielleicht missinterpretieren sie die Moral in meinen Geschichten und die Welt wird durch mich noch verkommener als sie ohnehin schon war.“ So schnell wie Joes Hochmut gekommen war, verschwand er wieder und schlug um in tiefe Depression. 5 Minuten stand er schweigend am Fenster und starrte in die finstere Nacht. Kein Gedanke fuhr ihm durch den Kopf, kein Laut kam aus seinem Mund. Joe ließ das Leben für 5 Minuten an sich vorbeiziehen. Dann kam er aus seiner Trance wieder zu sich. Er sah nochmal zu seinem PC. Der Cursor blinkte. Schwarze blinkende Pixel auf weißem digitalem Papier. Kein Wort geschrieben, keine Idee im Kopf. Joe lehnte sich aus dem Fenster. „Ich trinke auf meine grandioses Leben und die schöne Welt in der ich lebe. Keine Liebe, kein Job, keine Freunde, keine Familie“ lallte Joe in die schwarze Nacht hinaus. Er sah nach unten. 9 Stockwerke unter ihm flackerte eine einsame Straßenlaterne vor sich hin. „Du resignierst wohl auch schon, aufgrund deiner Einsamkeit, nicht wahr Kumpel?“ dachte Joe. Er nahm noch mal einen kräftigen Schluck aus der Flasche. Die Flasche glitt ihm aus den Händen und fiel nach unten. Joe wollte sie noch auffangen und lehnte sich nach vorne, verlor aber das Gleichgewicht und stürzte ebenfalls aus dem Fenster. 9 Stockwerke noch bis zum Aufschlag auf den harten kalten Beton. „Scheiße, ich werd draufgehen, ich werd draufgehen, elendig krepieren werd ich“.
7 Stockwerke noch. „Ach, was solls, ich hatte ein nettes Leben. Und wenn es jetzt endet, ist es vielleicht ganz gut so. Ich dachte zwar dass es irgendwann wiedermal bergauf geht, aber es ist wie's ist: wenn du am Boden liegst, kommt immer irgendjemand daher und tritt nochmal auf dich ein“. 4 Stockwerke noch. „Naja, wenn ich schon sterbe, dann sollen wenigstens meine letzten Gedanken etwas Schönes sein.“ Joe dachte an seine Freunde und Familie, seine Ex-Freundin und an all jene, die ihm wichtig waren im Leben. 2 Stockwerke noch. Joe schloss die Augen. Er wartete darauf, dass sein lebender, weicher, warmer Körper und der tote, harte, eisige Beton des Gehweges aufeinander prallten. Kurz bevor er auf dem Boden aufschlug, kam ihm noch einmal ein Bild in den Kopf: unbeschriebenes, weißes, digitales Papier. Und der schwarze Cursor blinkte darauf.
Ende