Demokratie und Freiheitkann sich der Rechtsstaat vor seinen Feinden schützen?

Der Putsch in der Türkei ist ein Beispiel dafür, wie schwierig es für einen Rechtsstaat ist, sich mit rechtsstaatlichen Mitteln zu schützen. Das demokratische Dilemma lässt sich nicht auflösen.

Die Volksabstimmung über den Anschluss Österreichs ans Deutsche Reich im März 1938 ist auch formal rechtsgültig zustande gekommen und hat Hitlers Schreckensherrschaft des Nationalsozialismus zur Folge.

Sämtliche europäischen Regierungen erklärten die Niederschlagung des Aufstands gegen Erdogans AKP-Regime zu einem Sieg der Demokratie und Martin Schulz, Präsident des EU-Parlaments, sprach sogar von einer «Rückkehr zur Herrschaft des Rechts». Erdogans Regierung also eine Herrschaft des Rechts?

Was in der Türkei stattfindet, ist nichts anderes als eine Demontage der Demokratie. Unter Erdogan hat die Türkei in der vergangenen Dekade einen dramatischen Demokratieabbau erlebt, der vor allem von Vertretern der EU immer stets mit Sorge und Kritik begleitet wurde. Von einer Herrschaft des Rechts kann angesichts dieser Entwicklung in Ankara schon lange keine Rede mehr sein.

Adolf Hitler und seine NSDAP waren verfassungskonform an die Macht gelangt. Innerhalb weniger Monate hatten sie die Umwandlung des demokratischen Rechtsstaats in einen totalitären Staat mit rechtlich legalen Mitteln vollzogen. Der Schlussstein im Parlament, dem Mausoleum der Demokratie in Deutschland am 23. März 1933 gesetzt und zwar nicht mit Terror und Gewalt, sondern dank einer Zweidrittelmehrheit im Parlament, das sich mit dem sogenannten Ermächtigungsgesetz selbst entmachtete und die Verfassung de facto ausser Kraft setzte (=formelle Demokratie).

5 Jahre vor der Machtergreifung hatte Joseph Goebbels in einem Zeitungsartikel offen über die Strategie der Nationalsozialisten geschrieben: «Wir gehen in den Reichstag hinein, um uns im Waffenarsenal der Demokratie mit deren eigenen Waffen zu versorgen.» Einige Jahre später bedachte Goebbels (Reichgspropagandaminister) die wehrlose Demokratie der Weimarer Republik mit beissender Häme: "Man hätte 1925 ein paar von uns in Haft nehmen können, und alles wäre aus und zu Ende gewesen".

Etwa zur gleichen Zeit waren andere, weit entfernt, zu einem ganz ähnlichen Ergebnis gekommen, das sie jedoch diametral deuteten. 1937 prägte der deutsch-jüdische Staatsrechtler Karl Löwenstein im amerikanischen Exil den Begriff der «militant democracy», den der Soziologe und Philosoph Karl Mannheim später in seinen Überlegungen aufgriff. Staatrechtler Löwenstein gab der relativistisch-wertneutralen Verfassung der Weimarer Republik die Hauptschuld am Untergang der Demokratie in Deutschland. Die strikte Geltung des Mehrheitsprinzips und die Tolerierung auch offen antidemokratischer und verfassungsfeindlicher Meinungen hätten der Demokratie letztlich den Todesstoss versetzt.

Löwenstein forderte daher für die Demokratie einen festen, nicht verhandelbaren Grundwertekanon, den es mit allen Mitteln zu verteidigen gelte (=materielle Demokratie).

Die Demokratie müsse an ihre eigene Überlegenheit glauben und dürfe sich nicht zu schade sein, notfalls die gleichen Waffen zu nutzen wie ihre Feinde. Löwensteins demokratischer Fundamentalismus geht darum so weit, die Einschränkung und Verletzung selbst grundlegender Rechte und Prinzipien des demokratischen Verfassungsstaats für rechtmässig zu erklären, wenn die Demokratie als Ganzes damit geschützt werden kann. Der demokratische Zweck würde undemokratischen Mittel zum Schutz der Demokratie rechtfertigen.

Das Dilemma, Demokratieist vor allem der durch die Verfassung garantierte Schutz der Freiheit – auch der Freiheit, sich gegen die bestehende politische Ordnung zu wenden. Wo sie nicht gegeben ist, kann von einem demokratischen Rechtsstaat keine Rede sein.

Auf der anderen Seite birgt ein Maximum an politischer Freiheit eben auch ein maximales Risiko, sie zu verlieren.

Der Verfassungsrechtler Preuss sprach vom "Paradoxen Dilemma der Demokratie":

o Das eine Paradox ist, wenn sich die Demokratie mit ihren eigenen demokratischen Mitteln abschafft.

o Das andere Paradox ist, wenn sich Demokratie mit undemokratischen Mitteln schützen muss.

Welcher dieser Wege ethisch weniger fragwürdig ist, darüber wird bis heute gestritten, wie auch ein jüngst in der "FAZ" ausgetragener Disput veranschaulichte.

Die westlichen Demokratien scheinen mir zunehmend gefährdet, sie solle sich ihrer Feinde bewusst sein und sie gegebenenfalls auch bekämpfen. Zu diesen Feinden zählt auch Parteien die "Front national", die es schaffen, Mehrheiten hinter sich zu versammeln.

Der Rechtspositivist und Vater unserer Verfassungs, Hans Kelsen sagte dazu: «Eine Demokratie, die sich gegen den Willen der Mehrheit zu behaupten, gar mit Gewalt sich zu behaupten versucht, hat aufgehört, Demokratie zu sein. Wer für die Demokratie ist, darf sich nicht in den verhängnisvollen Widerspruch verstricken lassen und zur Diktatur greifen, um die Demokratie zu retten"

Einige Staaten haben sich dafür entschieden, legale Schutzmechanismen gegen Verfassungsfeinde in ihr Grundgesetz einzubauen. Dass sie in den falschen Händen selber zu Waffen gegen die Demokratie werden können, gehört zu dem unauflösbaren Widerspruch, der sich aus der demokratischen Wehrhaftigkeit ergibt.

So bietet die "Ewigkeitsklausel" des deutschen Grundgesetzes, der wohl «militantesten» demokratischen Verfassung der Welt, dem Staat die Möglichkeit, seinen Bürgern bei missbräuchlicher Anwendung ihrer Grundrechte (also gegen die demokratische Grundwerte) diese zu entziehen – in einer dysfunktionalen Demokratie der Traum aller Diktatoren.

Mit der sogenannten "Ewigkeitsklausel" etwa ist sowohl dem deutschen Volk als auch dem Parlament de iure die Möglichkeit entzogen, sich jemals für eine andere als die demokratische Grundordnung zu entscheiden. Mit dieser Regelung wollte man den Erfahrungen aus der Zeit des Nationalsozialismus begegnen und naturrechtliche Grundsätze in Form der Menschenwürde (Artikel 1) sowie Strukturprinzipien in Artikel 20 (Republik, Demokratie, Bundesstaat, Rechtsstaat und Sozialstaat) mit einer zusätzlichen Sicherung versehen. Durch diese Ewigkeitsklausel ergibt sich selbst innerhalb des Grundgesetzes eine Normenhierarchie. Die Ewigkeitsklausel kann also nach heute herrschender Meinung nicht aufgehoben werden. Ihr unterliegen und sind damit von einer Änderung sind insbesondere ausgeschlossen:

o der Schutz der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG),

o die Anerkennung der Menschenrechte als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft (Art. 1 Abs. 2 GG),

o die Bindung der staatlichen Gewalt an die Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG),

o das Bundesstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) (wir sagen, Föderalismus blähe Bürokratie und Verwaltung auf, jedoch wie die Erfahrungen der EU gezeigt haben, ist der Zentralismus auch nicht das Gelbe vom Ei wegen nicht ausreichend funktionierender Kontrollmechanismen )

o die Staatsform der Republik (republikanisches Prinzip) (Art. 20 Abs. 1 GG),

o das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG),

o das Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 2 GG),

o das Prinzip der Volkssouveränität (Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG),

o die Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG),

o die Bindung der Gesetzgebung an die Verfassung (Art. 20 Abs. 3 Hs. 1 GG),

o die Bindung der Exekutive (ausführende Gewalt) und Judikative (Rechtsprechung) an die Verfassung und das sonstige Recht (Art. 20 Abs. 3 Hs. 2 GG).

Nach dem Wortlaut von Artikel 79 Abs. 3 GG können die in den Artikeln 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätze nicht geändert werden. Die Ewigkeitsklausel oder Ewigkeitsgarantie ist in Deutschland eine Regelung in Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes (GG), nach der bestimmte Verfassungsprinzipien auf ewig einer Verfassungsänderung entzogen sein sollen.

Artikel 79 Absatz 3 GG lautet:

„Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig.“

Das Konzept der streitbaren Demokratie ist in erster Linie ein Präventivschutz gegen offen antidemokratische Kräfte. Was geschieht, wenn es dennoch einmal gelingt, alle Hürden zu umgehen? Darf eine bereits vom Volk legitimierte Regierung im Dienste der Demokratie illegal abgesetzt werden? Abgesehen von den Bürgern selbst hat ansonsten keine Institution das Recht hat, sich eigenständig ein Mandat zu geben, um die Demokratie zu bewahren.

War nun also der Putschversuch in der Türkei unrechtmässig, seine Niederschlagung ein Sieg der Demokratie? Die Frage zielt auf den Kern des Streitbarkeitsdilemmas und lautet eigentlich: Wie weit darf man gehen, um die Demokratie zu schützen, ohne selbst zu ihrem Feind zu werden? Ethische Grundsatzfrage, auf die es keine endgülige, allgemeingültige Antwort gibt. So wird daraus ein Konflikt von Weltanschauungen.

Wer die Demokratie als absoluten Wert versteht, dessen Erhalt jede Massnahme rechtfertigt, darf im Sinne Löwensteins auch vor undemokratischen Mitteln nicht zurückschrecken und läuft dabei Gefahr, selbst zum Despoten zu werden.

Die Putschisten hatten hehre demokratische Absichten verkündet, doch in der Praxis sind bisher so gut wie alle Militärcoups – nicht nur in der Türkei – mit groben Menschenrechtsverletzungen einhergegangen.

Die Frage, wie viel Wehrhaftigkeit einer Demokratie erlaubt ist, lässt sich nicht so einfach beantworten. Am Ende läuft es auf die Wahl hinaus zwischen einer "tyrannischen Demokratie" und einer "demokratischen Tyrannei". Und das ist das Dilemma.

Cancillería del Ecuador

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