Wir sind eine Gesellschaft der Abstürze und Abstiege geworden, so der Befund des Frankfurter Soziologen und Ökonomen Oliver Nachtwey in seinem neuen Buch : "Die Abstiegsgesellschaft". Zwei Debattenstränge der kritischen Sozialwissenschaften, Exklusion und Prekarisierung wird mit den Diskussionen um eine postdemokratische Entwicklung der Politik zusammengedacht. Ein lesenswerter Rundumschlag, der die gesellschaftlichen Transformationen der letzten 40 Jahre und deren Folgen für die Menschen systematisiert darstellt.
Ausgangspunkt ist dabei die Überlegung, dass sich die kapitalistische Modernisierung bis in die 1970er Jahre als Fortschritts- und Inklusionsbewegung beschreiben lässt. Auf diese oft als "soziale Moderne" bezeichnete Phase folgt dann die "regressive Moderne", in der die Einbindung der Individuen zunehmend prekären Status erhält mit immer weniger Einflussnahme auf die gesellschaftlichen Regeln.
"Aus der Gesellschaft des Aufstiegs und der sozialen Integration ist eine Gesellschaft des Abstiegs, der Prekarität und Polarisierung geworden. Unter der Oberfläche einer scheinbar stabilen Gesellschaft erodieren seit Langem die Pfeiler der sozialen Integration, mehren sich Abstürze und Abstiege. Die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs war eines der zentralen Versprechen der "alten" BRD und meistens eingelöst: Aus dem Käfer wurde ein Audi, aus Facharbeiterkindern Akademiker. Mittlerweile ist der gesellschaftliche Fahrstuhl stecken geblieben: Uniabschlüsse bedeuten nicht mehr automatisch Status und Sicherheit, Arbeitnehmer bekommen immer weniger ab vom großen Kuchen. Destruktiven Veränderungen haben aus dem „Sozialen Menschen“ den zwar umworbenen, aber mit System unmündig erzogenen „Kunden“ und „Konsumenten“ geformt mit Folgen. Problemfall „Kapitalismus (fast) ohne Wachstum“ und all den überaus nervösen Erscheinungen, die dies mit sich bringt.
Eine alamierende Diagnose belegt vor dem Hintergrund der veränderten Struktur des Arbeitsmarktes, dem Wandel der Arbeitsgesellschaft und der Verschiebung der Wirtschaftssektoren.
Stark geschrumpft sind in den letzten 60 Jahren der sogenannte primäre und sekundäre Sektor, Land-u. Forstwirtschaft sowie die klassische Produktionsindustrie. Dagegen liegt der Anteil der Beschäftigten im tertiären Sektor, dem der Dienstleistungen, bei inzwischen fast 75 Prozent.
Immer mehr Menschen in prekären Jobs:
Und das heißt auch: die Zahl von einfachen, schlecht bezahlten Jobs ist immer größer geworden. Es gibt immer mehr Paketboten, Umzugshelfer, Fahrradkuriere, Menschen mit befristete Arbeitsverträge, Angestellte von Leihfirmen, die allesamt nur selten dieselben Rechte und Versicherungsleistungen in Anspruch nehmen können wie Fixangestellte, wie Menschen in einem Normalarbeitsverhältnis. Nur noch zwei Drittel aller Arbeitenden stehen in einem Normalarbeitsverhältnis mit weiterhin sich verschlechternder Tendenz.
Der Rückgang der Arbeitslosenzahlen in Deutschland täuscht, weil er auf Schaffung von prekärer Jobs beruht, was natürlich Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft und ihre Strukturen hat. Immer mehr Frauen sind auf dem Arbeitsmarkt zu finden, vor allem jedoch als Putzfrauen, Kassiererinnen und Krankenpflegerinnen und auch die Ungleichheit unter ihnen wächst. Eine Managerin hat eine völlig andere Chance auf Gleichbehandlung als eine Reinigungskraft, umsomehr eine migrantische.
Vom Wirtschaftswunder zur Abstiegsgesellschaft:
Aufstiege gibt es zwar weiterhin, nur sind diese mehr auf dem Papier sichtbar, Pseudoaufstiege. Das „Arbeiterkind“ wird Anwalt oder Journalist, bekommt aber nur noch Kurzzeitverträge und lose Anstellungen. Auch die Bürgerkinder werden es nie mehr so gut haben wie ihre Eltern, zumindest die allermeisten von ihnen. Karrieren und Berufswege sind brüchig, wie noch nie geworden.
Nachtwey zeichnet in seinem Buch "Die Abstiegsgesellschaft" auch nach, wie es zur Blütezeit der sozialen Moderne kam, zur Aufstiegsgesellschaft, in der aus Proletariern Bürger wurden, wie es nach dem Krieg zum Wirtschaftswunder kam. Der Sozialstaat wuchs stetig, ebenso das Bildungssystem und die Gewerkschaften erstarkten, Klassenschranken wurden abgetragen. Der Zenit dieser Entwicklung wurde in den 70er-Jahren erreicht und mit gleichzeitig einsetzenden Krisen (Ölkrise, etc..) begann der Postkapitalismus. Die erste weltweite Wirtschaftskrise Mitte der siebziger Jahre, weitere Krisen (Dot.com – Technologiekrise 2000, etc..) bis zur Finanzkrise um 2008 folgten, von der wir uns bis heute noch nicht erholt und ihre Probleme nicht gelöst, sondern auf die lange Bank geschoben haben (EZB-Politik, Negativzinsen, deflationäre Tendenzen, etc..).
Eine abstürzende Mittelschicht , eine neue Unterklasse:
Vor dem Hintergrund der fünfziger bis siebziger Jahre riefen die Soziologen gerne das Ende der Klassengesellschaft, der Klassen an sich aus. Vom "kollektiven Fahrstuhleffekt" war die Rede, weil alle immer nach oben fuhren und deshalb Ungleichheiten keine größere Rolle mehr spielten. Nachtwey setzt dem die Rolltreppe entgegen, heute geht es nach oben wie nach unten mit unterschiedlichen Abständen, wobei es für die meisten jedoch eher wieder nach unten geht.
Die Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer – was auch heißt, dass die Oberklasse in ihrer eigenen Welt lebt, die obere Mittelklasse sich "koproduziert durch die zunehmende Praxis sozialer Schließungen und kultureller Distinktionen (=Unterscheidung, Abgrenzung)", sich also ebenfalls abschottet, und der große Rest mit den vielen prekären Jobs in einer abstürzenden Mittelschicht und einer neue Unterklasse aufgeht.
Bisher traten nur sporadische Arbeitskämpfe auf. Es gibt verschiedene Ausprägungen des Aufbegehrens gegen diese neuen Zustände . Von einem "demokratischen Klassenkonflikt" spricht er, von einer "politischen Entfremdung in der Postdemokratie" mit neuen Bürgerprotesten, wie „Wutbürger“. Krankenschwestern und Erzieherinnen, denen es nicht nur um mehr Geld, sondern auch um die Anerkennung ihrer Arbeit geht, andererseits die (inzwischen schon wieder Vergangenheit gewordene) Occupy-Bewegung. Dort Pegida, die AfD, soziale Abgrenzungen und antidemokratische Effekte, aber auch eine gewisse Apathie („Lethargiebürger“). Es gab bislang nur sporadische Arbeitskämpfe trotz immer mehr Niedriglohnjobs und gestiegener Prekariate .
Die hohe Jugendarbeitslosigkeit auch in Hinblick auf Länder, wie Griechenland oder Spanien werden die sozialen Konflikte zunehmen und die Jobverluste infolge der digitalen Transformation werden auch vor dem dzt. Noch stabilen Deutschland oder Österreich nicht Halt machen, somit ist mit einer Zunahme sozialer Konflikte zu rechnen.
Die Schwächen auch in diesem Buch liegen beim Aufzeigen von Alternativen und Auswegen aus der Abstiegsgesellschaft. Jedoch die Analyse macht klar, dass auch Deutschland oder Österreich nicht auf einer Insel der ökonomisch Seligen liegt, das wäre ein Trugschluss.