"Gerechtigkeitstheorien" - Amartya Sen (nyaya) und John Rawls (Fairnessprinzip) -

In seinem Buch "Die Idee der Gerechtigkeit" zählt der Nobelpreisträger und Havardprofessor Amartya Sen neben dem Klassiker der Gerechtigkeitstheorien, den Briten John Rawls zu den einflussreichsten Denkern unserer Zeit.

Bei diesem Thema verliert man sich rasch in einen "akademischen Gerechtigkeitsdiskurs", dazu einige Gedanken mit Verzicht auf weitere Vertiefung.

Im Buch findet sich ein Rundgang durch die Geschichte der Gerechtigkeitslehren von der östlichen und westlichen Antike über die Aufklärung bis in die Gegenwart. Er verbindet buddhistische, hinduistische und islamische Vorstellungen mit den westlichen Ideen und eröffnet neue Perspektiven für eine gerechtere Welt über den Tellerrand des Eurozentrismus hinausschauend. Bahnbrechend waren seine Beiträge zur Interdependenz von ökonomischer Freiheit, sozialer Chancen und Sicherheit und politischer Freiheit (Demokratie), dem Zusammenhang zur Armutsbekämpfung und zur Theorie der kollektiven Entscheidungen. Er gilt als einer der prominentesten Kritiker der Theorie der "rationalen Entscheidung".

I) Nachstehend eine grobe Einteilung der Gerechtigkeittheorien:

a) Kontraktualismus (Gesellschaftsvertrag mit Gewaltenteilung) ist gerechter als der Naturzustand, wo der Stärkere immer Recht hat. Nach Hobbes und Rousseau/"contract social" gilt im Naturzustand des Menschen das Recht des Stärkeren. Es ist daher vernünftiger, einen Gesellschaftsvertrag abzuschließen, der das Verhältnis Individuum/Staat regelt durch Normen, damit ein friedliches Zusammenleben in einer Gesellschaft möglich ist.

b) Utilitarismus (Liberalismus, Libertatismus) mit Maximierung des individuellen Nutzens, also die Individualinteressen stehen im Vordergrund (= GB, USA). Der englische “Utilitarismus” (Stuart Mill) hat zur Ideen der Verteilungsgerechtigkeit beigetragen, das “größte Glück der größten Zahl von Menschen” als politisches Handlungsprinzip. Wohlfahrtsideen fanden jedoch höchsten bei Sozialliberalen Gehör.

c) Theorie of Justice (RAWLS) = schon sozialer mit "Fairnessprinzip", "Differenzprinzip" und "veil of ignorance" (Schleier der Unwissenheit); Hierarchische Ungleichheit nur im Rahmen von strengen Regeln (siehe weiter unten).

d) Kommunitarismus (Kollektivismus, Kommunismus, Genossenschaftsprinzip) = Gruppeninteressen gehen vor Einzelinteressen zB) China, Nordkorea, kommunistische Länder

e) Es gibt noch weitere Formen des Gerechtigkeits-Diskurses. Zum Beispiel die "Intergenerative Gerechtigkeit" zwischen Jung und Alt (Generationenvertrag-Pensionssystem, Klimawandel), wieviele Lasten bürden wir den Nachfolgegenerationen auf.

II) Was sagt John RAWLS, der meistzitierte Denker zur Gerechtigkeit:

Der amerikanische Philosoph und Harvard-Professor John Rawls hat mit seinem Werk „A Theory of Justice“ („Eine Theorie der Gerechtigkeit“) unsere Diskussion über Gerechtigkeit grundlegend verändert. Darin zeigt er das Dilemma auf, dass die Wohlhabenden eher einen Nachteil aus mehr politischer Gerechtigkeit hätten und die Armen wiederum nicht die politische Macht haben, mehr Gerechtigkeit zu schaffen.

a) Rawls Gedankenexperiment geht von einer theoretischen Position aus, wo ich zunächst noch nicht weiß, welchen sozialen Status (arm oder reich, welche Hautfarbe, welche Rasse, etc..) ich später einmal bekleiden werde (="Schleier der Unwissenheit";)

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b) Chancengleichheit und größtmögliche Freiheit muss gegeben sein. Ungleichheit ist nur dann erlaubt, wenn ein höheres Amt allen zugänglich wäre unter gleichen Chancen.

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c) Differenzprinzip: Der ein höheres Amt innehat, muss dabei so handeln, dass der sozial Schwächste bei Veränderungen immer den größten Vorteil davonträgt. Der Manager muss dafür sorgen, das von seiner Arbeit bei jeder Veränderung die Ärmsten/Schwächsten relativ am meisten profitieren und seine Position von jedem erreicht werden könnte (=Chancengleichheit).

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d) Maximinregel: Bei Handlungs-Alternativen soll immer jene Veränderung, die die nicht die schlimmste, sondern am wenigsten schlimmste Auswirkung für alle hat, soll gelten.

III) Was sagt Nobelpreisträger und Havardprofessor Amartya Sen:

Der indische Wirtschaftswissenschaftler und Philosoph hat sich neben seinen Arbeiten zu Wohlfahrtsökonomie, für die er 1998 den Nobelpreis erhielt, in mehreren Veröffentlichungen auch mit Fragen der politischen Theorie befasst und ist Mitglied mehrerer internationaler Expertengruppen, die sich weltweit mit Fragen einer gerechten Ordnung in einer globalen Welt befassen. Die besondere Kompetenz des Autors beruht nicht zuletzt auf seiner indischen Herkunft und seiner akademischen Karriere in den USA, Großbritannien und Indien.

Als Sen noch jung war, sah er, wie in Indien einem muslimischer Taglöhner auf offener Straße von extremistischen Hindus in den Rücken gestochen wurde. Er floh in das Haus der Familie Sen. Auf dem Weg ins Krankenhaus erzählte der Taglöhner, dass er von seiner Frau davor gewarnt wurde, in einem Gebiet mit lokalen Unruhen zu arbeiten. Seine wirtschaftliche Lage zwang ihn jedoch, solche Gefahren in Kauf zu nehmen. Im Spital verstarb er. Dieses Erlebnis öffnete Amartya Sen die Augen dafür, wie eng soziale Ungerechtigkeit und der Mangel an Freiheit beisammen liegen. Das zweite wichtige Erlebnis war die Hungersnot von Bengalen im Jahre 1943. Obwohl sie drei bis fünf Millionen Menschenleben kostete, konnte Sen in seiner nächsten Umgebung nicht die geringsten Anzeichen der Katastrophe erkennen, denn betroffen waren nur die untersten, die „unsichtbaren“ Schichten der Gesellschaft.

Sen vertrat die Auffassung, dass es vorrangig nicht um die Verteilung von Gütern geht, sondern um Verwirklichungschancen, die Menschen erreichen können. Entscheidend für die Qualität des Lebens sei nicht immer das Einkommen, denn auch bei einem guten Einkommen können Unterdrückung und Unfreiheit bestehen.

Die traditionelle Ökonomie muss auch zur Kenntnis nehmen, dass neben dem egoistischen Selbstinteresse auch andere Werte für das menschliche Handeln maßgeblich sind, auch wenn sich beides regelmäßig gegenseitig beeinflusst.Er kritisiert die Theorien von Rousseau, Rawls, Hume und Kant, weil sie laut ihm nur die idealtypische gerechte Welt definieren, was die ethische Bewertung von realen Zuständen kaum möglich macht.

Sen bewertet Gerechtigkeit sowohl auf Grundlage von tatsächlich Erreichtem ("nyaya" ) als auch der dazu führenden Institutionen ("niti" ) , eine Unterscheidung aus altindischer Jurisprudenz zwischen "niti" (Gerechtigkeit im Sinne von Institutionen) und "nyaya" (Gerechtigkeit im Sinne des individuell tatsächlich Realisierten). Ein weiterer wichtiger Aspekt für ihn ist "Objektivität" und "Unparteilichkeit" (hier baut er auf einer Denkfigur von Adam Smith auf, dem impartial spectator = unparteiische Betrachter als Richter). Immer wieder führt der Autor seinen westlichen Lesern vor Augen, dass das Thema Gerechtigkeit sich nicht nur durch das abendländische Denken seit Platon und Aristoteles zieht, sondern dass auch in anderen Kulturkreisen Beiträge geleistet wurden, die es wert sind, in die aktuelle Diskussion aufgenommen zu werden. In der westlichen Tradition des neuzeitlichen politischen Denkens steht der Begriff der Gerechtigkeit in engem Zusammenhang mit der Denkfigur des Gesellschaftsvertrages (Hobbes).

SEN bezweifelt jedoch die Rawl'sche Annahme, dass sich die Teilnehmer des Gesellschaftsvertrages im Urzustand einstimmig auf seine zwei Grundsätze einigen würden.

Wem es, wie SEN darum geht, unsere vielgestaltige Welt, so wie sie ist, gerechter zu machen, der sollte sich, Sen zu Folge, nicht auf die Suche nach idealen Grundsätze machen, sondern von der alltäglichen Erfahrung offensichtlicher Ungerechtigkeit in der Welt ausgehen. Den Zugang zur Gerechtigkeit gewinnen wir durch die Feststellung von Ungerechtigkeiten.

Mit zwei Ausdrücken aus der altindischen Rechtsphilosophie bezeichnet der Autor die beiden Perspektiven von Gerechtigkeit als „niti“ bzw.als „nyaya“. Nyaya ist die indische Schule der Logik und der Erkenntnistheorie. Demnach hat die Erkenntnis vier Quellen: die alltägliche (wie yogische) Wahrnehmung, das Schlüsse daraus , die Analogie und die Bezeugung.

Mit dieser Perspektive sieht Sen sich in der Tradition von Denkern wie Adam Smith, Condorcet, Kenneth Arrow, interessanterweise auch von Karl Marx, setzt sich andererseits aber vehement gegen den Utilitarismus (= "gerecht ist, was der größten Zahl der Menschen nützt";) ab. Gerechtigkeit lässt sich für ihn nicht auf Nützlichkeit zurückführen.

Entscheidend für Sens Gerechtigkeitskonzept des „nyaya“ ist die Rolle der Vernunft. Sen verwirft den in der ökonomischen Theorie verbreiteten Rationalitätsbegriff des den eigenen Nutzen maximierenden Individuums ("homo oeconomicus" als Maximierer des eigenen Nutzens und Profits/Adam Smith) .

Auch altruistisches oder solidarisches Verhalten kann rational sein ("das Glück des Gebens und nicht nur des maximierten Nehmens";)

Vollständige Objektivität wird auch hier nicht zu erreichen ist. An dieser Stelle führt Sen die Denkfigur des "unparteiischen Zuschauers" ein, die er bei Adam Smith gefunden hat. Der unparteiische Zuschauer ist in der Lage, die Probleme mit den Augen anderer Menschen zu sehen, er nimmt einen Standpunkt ein, den die Menschen als gemeinsame Basis akzeptieren. Damit tritt der unparteiische Zuschauer an die Stelle des Gesellschaftsvertrages bei Rawls. Anders als dieser ist er offen, bezieht alle relevanten Standpunkte ein, er konzentriert sich auf reale kulturelle Verhältnisse und befasst sich mit sozialen Verwirklichungen. Eine Gerechtigkeitstheorie, der es um die schrittweise Entwicklung zu mehr Gerechtigkeit durch öffentlichen Vernunftgebrauch geht. Eine solche Politik bedarf der Meinungs- und Pressefreiheit, der Versammlungsfreiheit, sie bedarf einer politischen Kultur der Toleranz, die jedes vernünftige Argument gelten lässt und keines ausschließt, die öffentlichen Protest zulässt und nicht unterdrückt. Kurzum: sie bedarf einer Kultur der DEMOKRATIE. Entsprechend seiner Perspektive des „nyaya“ betont der Autor, dass Demokratie mehr ist, als ein System von Gesetzen und Verfassungsbestimmungen. In dieser Einsicht trifft Sen sich mit der Diskurstheorie von Jürgen Habermas. In einer Demokratie gilt nicht nur die Mehrheitsregel, sondern auch die Achtung von Minderheitsrechten.

SEN widerstrebt der Gedanke, Gerechtigkeit durch Gesetze herzustellen, deren Befolgung der Staat mit seinem Monopol der legitimen Gewalt durchsetzt. Allzu leicht könnte der Staat irren und neue Ungerechtigkeit schaffen. Die die Qualität sozialer Entscheidungen kann erheblich verbessert werden kann, wenn die Informationsbasis, auf der sie getroffen werden, verbreitert wird.

Dabei bleibt Sen sich der Grenzen dieses Verfahrens bewusst. Vollständige Objektivität ist nicht zu erreichen. Unsere menschliche Vernunft ist begrenzt. Auch die gründlichste Diskussion konkurrierender Ansprüche auf Gerechtigkeit kann angesichts der unaufhebbaren Pluralität rationaler Gründe nicht zu vollständigen Lösungen führen. In Fragen der Gerechtigkeit müssen wir uns mit partiellen Lösungen zufrieden geben. Auch partielle Lösungen können die Entwicklung zu mehr Gerechtigkeit in der Welt voranbringen. „Wir gehen so weit, wie die Vernunft uns leitet.“

Die Besinnung auf die Idee der Gerechtigkeit, verstanden im Sinne Sen als „nyaya“, bietet einen vernünftigen Maßstab für die Beurteilung politischer Zustände und Vorgänge weltweit. In dieser pragmatischen Perspektive liegt die Stärke des Sen'schen Ansatzes und in ihrer Anwendung eine große Hoffnung für unsere Welt.

Ob die Ideen des Herrn Nobelpreisträger SEN auch den Boden akademischer Hörsäle verlassen werden, wage ich zu bezweifeln. https://de.wikipedia.org/wiki/Amartya_Sen

Dekoriert mit akademischen Würden ist Herr Sen jedenfalls wie ein General. Wenn ich zwischen den Nobelpreisträgern Sen und Bob Dylan wählen darf, ist mir Dylan um das zehnfache lieber.

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ausmoff

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Petra vom Frankenwald

Petra vom Frankenwald bewertete diesen Eintrag 25.10.2016 23:32:44

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