“Lebensstufentheorie” (C.G.Jung) - wir müssen aktiv! lernen, von jeder Lebensstufe Abschied zu nehmen (Weggabelungen)

Lernen, von jeder Lebensstufe Abschied zu nehmen, der Weg von jugendlicher Extraversion zur Introversion im Alter. Ein 70-Jähriger, der noch Marathon läuft, wird bewundert - ist aber lächerlich! Neue Weggabelung: “Lebensmitte” zwischen 40 und 50. Was sagt C.G.Jung dazu? Ein kleiner Ausflug in die Tiefen der Psychologie zum eigenen Nachdenken.

C.G.Jung:

“Ein junger Mensch, der nicht kämpft und siegt, hat das Beste seiner Jugend verpasst”. (=Extroversion)

“Ein älterer/alter Mensch, welcher dem Geheimnis der Bäche, die von Gipfeln zu Tälern rauschen, nicht zu lauschen versteht, ist sinnlos, eine geistige Mumie, welche nichts ist als erstarrte Vergangenheit” (= Introversion)

Interview 35 min. mit C.G.Jung (Thema Archetypen, etc..):

https://www.youtube.com/watch?v=yBIhNAnOAwk

Freud: https://www.youtube.com/watch?v=Q6fsbGKhS-k

Über C.G.Jung: https://www.youtube.com/watch?v=GPMbgFIzXcQ

Die Midlife-Crisis empfinden viele als eine Weggabelung - alte Sicherheiten gehen verloren, man stellt sich plötzlich wieder die Sinnfrage, auch beim Job oder in der Beziehung hinterfragt . Für Jung beginnt dies eigentlich schon mit 36. War es bisher das , was ich wollte. Die Kinder sind langsam aus dem Haus, die Existenz wurde aufgebaut. Und plötzlich die Frage, wozu war das alles gut?

Lustlosigkeit bei der Arbeit kommt auf, die Familie gibt nicht mehr diesen Halt. Alles wird zuviel, völlig neue Emotionen kommen plötzlich hoch, die bisher im Verborgenen waren. Der Körper lässt nach, erste Wohlstandskrankheiten treten auf. Aussteigen, Ehescheidungen, Jobwechsel, psychosomatische Beschwerden, nachlassen der körperlichen Kräfte und vieles mehr können zum Thema werden.

Neue Wünsche und Sehnsüchte treten plötzlich um die Lebensmitte auf. Neue Fragen treten auf, warum arbeite ich soviel, warum hetzte ich mich so ab, wozu das alles, wo bleibt die Zeit für mich selbst? Wir stehen plötzlich vor einer Weggabelungen und müssen uns neu orientieren. Die unbewältigte Krise der Lebensmitte.

Für C.G.Jung (1875-1961) stellt die Lebensmitte eine entscheidende Wende dar. Der Weg geht einfach nicht so weiter, wie bisher.Wer es in dieser Phase verabsäumt, den Lebensquell des Unbewussten zu erforschen und zu finden, wer es verabsäumt, seinem Leben dabei eine neue Tiefe zu geben, ein neues Voranschreiten, der wird die Krise nicht ausreichend bewältigen

Ein neuer Prozess der Individuation (=Selbstwerdung):

Dieser Prozess hat zwei große Phasen, die

a) erste Lebenshälfte der “Expansion” und die

b) zweite Lebenshälfte der “Introversion”. Die Sonne hat den Zenit überschritten und wendet sich zum Abstieg, das Leben verändert sich zur Introversion und damit treten neue Lebensaspekte auf.

S. Freud war der Psychologe der ersten Lebenshälfte und Jung mit Recht der Psychologe der zweiten Lebenshälfte. In der ersten Lebenshälfte baut der Mensch seine Persona, sein ICH und seine Existenz auf. Anderes im Weg stehendes auch in sich selbst belässt er zunächst im Schatten seines Bewusstseins oder hat es verdrängt. Der weltgereiste Jung studierte auch die asiatische Philosophie und ist Anhänger der Bi-Polarität, jeder Pol hat einen Gegenpol. Das entgegengesetzte Kräftepaar als treibend Kraft im Leben. Die Gegensätze sind die Kraft der Innovation, der Veränderungen.

Jeder Mensch trägt sowohl das Männliche (animus), als auch das Weibliche (anima) in unterschiedlicher Verteilung in sich. Biochemisch könnte man sagen, die Frau hat Östrogenüberschuss und der Mann Testosteronüberschuss. Mit zunehmendem Alter wird der Mann “weiblicher” und die Frau “männlicher” durch Veränderung des Hormonmixes.

Dass in der ersten Lebenshälfte des ICH-Aufbaues anderes verdrängt wurde, ist es deswegen nicht verschwunden, sondern verharrt im Unterbewussten. Die neue Aufgabe heißt, das ins Unbewusste Verdrängte langsam in das Bewusstsein zu integrieren und so aus unserem “EGO” unser “SELBST” zu erleben. Zulassen, dass sich die Gesamtpersönlichkeit entfalten kann.Wir können mit den Mitteln und Methoden, die wir in der ersten Lebenshälfte angewendet haben, nicht auch die zweite Lebenshälfte meistern.

Statt Expansion muss der neue Weg in unser Inneres führen, Jung nennt es “Introversion”. Introversion bedeutet Reduktion auf das Wesentliche, der Weg nach innen, schweres Gepäck zuvieler Äußerlichkeiten oder Statussymbolen abwerfen. Was die Jugend außen fand und finden sollte, soll der Mensch der zweiten Lebenshälfte innen finden, nämlich:

o die Relativierung meiner Person (Selbstreflexion)

o die Annahme des bisher im Schatten (Unbewussten) Gelegenen oder Verdrängten. Jung sieht das ganze menschliche Leben in Gegensätzen, die in unser Selbst integriert werden müssen ähnlich dem dialektischen Prinzip aus der griechischen Philosophie mit These + Antithese = Synthese (Integration beider).Die These wäre die erste Lebenshälfte, die Antithese die zweite und Ziel in der zweiten Lebenshälfte soll es sein, beide Lebenshälfte in der Synthese einer neuen Gesamtpersönlichkeit zusammenzuführen.

o die Integration von animus (männliche) und anima (weibliche) in uns.Ich darf nicht krampfhaft an der Person der Jugend festhalten (Beispiel 70-jähriger Marathonläufer). Ich darf nicht kramphaft an alten Prinzipien festhalten, sondern muss mich wandeln.

o Entfaltung unseres Selbst auch unter der Annahme des einmal Sterben müssens. Der Mensch wir nur dann ganz er selbst, wenn er die Gegensätze nicht ausscheidet, sondern in sich integriert. Gutmenschen versuchen immer das Gegenteil dazu in ihnen zu verdrängen. Es ist die Angst vor unseren Gegensätzen, die uns am Alten festhalten lässt, daran erstarren lässt.Eine Überreaktion wäre jedoch, alles Alte und Bisherige plötzlich über Bord werfen zu wollen. Es geht nicht um Ausscheiden des einen, sondern um das Integrieren von beidem in einer gereiften Gesamtpersönlichkeit.Wer plötzlich bisher verdrängte Hassgefühle in der Liebe entdeckt, muss sie integrieren lernen anstatt Scheidung. Wir müssen auch nicht gleich unseren Job quittieren, auch hier ungeliebte Gegensätze integrieren lernen.

Übrigens hat Jung auch beobachtet, dass Männer und Frauen in der Lebensmitte verstärkt auch die Eigenschaften des anderen Geschlechts annehmen (besonders auffällig bei Südländern), sprich:

o die Frau wird männlicher (=animus)

o der Mann wird weiblicher (=anima)

Bei älteren Ehepaaren beobachtet man oft, dass die Frau noch rüstiger ist.

anima = östrogengetriebene Weibliche, Fürsorgliche…

animus = testosterongetriebene kämpferisch Männliche, narzisstische, etc….

Wenn der Mann jetzt nur sein Männliches betont, verdrängt er seine anima ins Unbewusste mit der Folge von Launen und negativen Affekten.Die anima muss integriert werden, weil ohne die Kräfte der anima verliert der Mensch an Lebendigkeit, Flexibilität und Menschlichkeit. Der verdrängte animus bei der Frau führt zu Sturheiten und Starrsinn, Meinungen um ihrer selbst willen (“selbstreferenziell” und nur weil etwas immer schon so war, muss es richtig sein).

Da C.G.Jung im GGs. zu Freud auch mystische Anwandlungen hatte, sieht er in der Religion einen wichtigen Weg für den Mann, die Anima (das Weibliche in Ihm) zu integrieren. Unter Religion versteht Jung nicht das Narrativ (Story), das uns die Theologen vorschreiben, sondern die “Ergriffenheit” über Dinge, wo wir etwas “Göttliches” (Luminoses) dahinter vermuten.

Im YouTube Talk führt er ein Erlebnis bei den Pablo-Indianern in Arizona an, welche “Ergriffenheit” durch den Aufgang der Sonne verspüren. Sie verehren nicht die Sonne selbst, sondern ihr Aufgehen als das Göttliche und helfen ihr dabei durch Rituale. Damit bekommt ihr Dasein Sinn, weil sie der Sonne aufgehen helfen und damit der ganzen Menschheit dienen. Religion ist für ihn eine innerpsychische Realität, die sich insb. in schwierigen Lebenssituationen von selbst oft aufdrängt. Eine höchstpersönliche Realität jedoch, die den Theologen oder kirchlichen Institutionen nichts angeht. Religion also als Beziehung zu dem, was mich ergreift, zum Luminosen.

Wieweit man Jung hier noch folgen kann, hängt von der eigenen Sichtweise auch ab. Der Mensch muss sich jedenfalls seiner biologischen Lebenskurve der auf-und untergehenden Sonne beugen und auch auf das Ziel des Todes schauen, weshalb in der zweiten Lebenshälfte viele in die Vergangenheit flüchten dem Tod scheinbar entrinnen zu wollen. Ab der Lebensmitte muss sich der Mensch auch mit dem Tod vertraut machen, darf ihn nicht verdrängen. Aus psychohygienischen Gründen findet Jung den Glauben an ein Weiterleben nach dem Tod vorteilhaft.

Das Leben hat ein Ziel:

In der Jugend beginnt es damit, sich in der Welt einzurichten und etwas zu erreichen. Mit der Lebensmitte ändert sich das Ziel.

Das Ziel liegt nicht mehr auf dem Gipfel, sondern im Tal, dort wo der Aufstieg begann. Wer kramphaft am Leben festhält, dessen biologische Lebenskurve entzweit sich mit der psychologischen Lebenskurve. Die Angst vor dem Tod wächst damit. Ein typisches Zeichen der Angst vor dem Altern ist das festhalten an der nicht ewigen Jugend. Immer gerade in dem Alter gerne leben, in dem man gerade ist. Mit Schulen bereiten wir die Menschen nur auf die erste Lebenshälfte vor. Keine Schulen gibt es für die Vorbereitung für das Geheimnis der zweiten Lebenshälfte.

Jung ist überdies der Ansicht, dass jemand, der die Übergabe seines Lebens an Gott verweigert, nicht zu seiner Ganzheit und seelischen Gesundheit findet. Religion ist auch ein archetypisch unbewusstes Verhaltensmuster. Für Jung sind Archetypen unsere Instinkte, die uns antreiben

Auf der Eingangstür des Hauses von C.G.Jung steht:

“vocatus atque non vocatus, deus aderit”

“Gerufen oder nicht gerufen, Gott wird da sein”

Er machte die zweite Lebenshälfte auch zu einem religiösen Problem, das ist eben seine Sichtweise, sich dem Willen einer inneren göttlichen Macht, eines Ergriffenen, zu unterwerfen. Jung zitiert Beispiele von Notlagen und schon meldet sich die Religion zurück, sie gehört zu den archetypisch instinktiven Verhaltensmustern des Menschen, genetische Ablaufprogramme.

Versuchen wir am besten, im Augenblick zu leben, für das Schöne dankbar zu sein und weiterhin offen für neue, tägliche Herausforderungen zu sein. Aber auch die Enttäuschungen sind Bestandteil des Lebens.

Eines der schönsten Gedichte von Herman Hesse passt hier dazu:

STUFEN (Hermann Hesse)

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend

Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,

Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend

Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.

Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe

Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,

Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern

In andre, neue Bindungen zu geben.

Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,

Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,

An keinem wie an einer Heimat hängen,

Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,

Er will uns Stuf' um Stufe heben, weiten.

Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise

Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,

Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,

Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde

Uns neuen Räumen jung entgegensenden,

Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden ...

Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

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