Medien haben den Mut zur Wahrheit verloren, statt kritischen Journalismus betreiben sie Inzucht in ihrem Milieu (zB. auf Twitter)

Der Philosoph Paul Liessmann unterstellt Medien zu Recht, dass sie dazu tendieren Moral- und Meinungsjournalismus vor Analyse und Recherche zu stellen. Journalistische Kommunikationsstrukturen sind Filterblasen geworden. Man bewegt sich nur in seinen eigenen kulturell-geistigen Milieus. Die personenbezogenen Algorithmen der Suchmaschinen bestärken diesen Trend. Man spricht zwar davon, wie wichtig es ist, sich mit anderen auseinanderzusetzen, aber in Wirklichkeit will man das gar nicht.

Es stellt sich die Frage, worin eigentlich die Aufgabe der Medien besteht. Im klassischen Recherchejournalismus oder in der Meinungsbildung? In der Erziehung? Der Unterhaltung? Der Bestätigung von Vorurteilen?

Medien haben nur dann eine Leitfunktion , wenn sie den Mut zur Wahrheit haben, auch gegen den Strom schwimmen. Kritischer Journalismus könnte also die Filterblase zum Platzen bringen und Bildung intensivieren. Leisten könnte sich das jedes Medium und es würde das Interesse erhöhen, wenn wirklich kontroverse Auseinandersetzungen stattfinden.

Nehmen wir zwei Tageszeitungen – die Presse und den Standard – und vergleichen wir, was dort im redaktionellen Teil geschrieben wird und wie die Leser – also die Poster – darauf reagieren. Das klafft mitunter extrem auseinander.

Jedoch durch die Web-Anonymität sinkt natürlich auch die Hemmschwelle. Die Postingkultur bringt große Probleme. Es ist ja nicht so, dass die Poster immer recht hätten. Eher im Gegenteil. Es gibt Userforen, da fallen fast alle Hemmschwellen. Aber es gibt eine Differenz in der Wahrnehmung. Medien dagegen sind vorsichtig geworden , um ja nichts politisch Unkorrektes zu formulieren.

Meinungsbildende Diskussionen finden zunehmend online statt, man kann von einer „digitalen Bildungsrevolution“ sprechen. Die Frage stellt sich, ob Digitalisierung das Ende der klassischen Bildung oder Wissenserweiterung bringt. Natürlich sind die Digitalisierung und die damit verbundenen technischen Möglichkeiten der Wissensvermittlung etwas Wunderbares. Alle Klassiker sind im Internet kostenfrei zu beziehen. So arm kann gar niemand sein, dass er nicht ein Smartphone hat – und damit die Möglichkeit, sich mit Weltliteratur von Homer bis Kafka zu versorgen.

Es hängt jedoch davon ab, was die Menschen mit dem Internet machen. Empirisch zeigt sich, dass diese Möglichkeit zwar vorhanden ist, aber kaum genützt wird. Die unglaublichen Wissensressourcenim Internet werden bei Weitem nicht in dem Maße abgerufen, wie es wünschenswert wäre. Denn vorrangig wird auf Facebook oder Whatsapp kommuniziert, Bilder werden hochgeladen, runtergeladen, es wird Musik konsumiert. Was man sonst noch machen könnte, wird nur in Ausnahmefällen getan.

Digitale Bildung funktioniert nicht als autonomer Bildungsprozess und Kinder müssen daher ordentlich angeleitet werden. Dazu brauchen sie die Lehrer, die ihnen zeigen, was man in und mit dem Internet machen kann.

Die Probleme der Welt, die wir lösen müssen, sind nicht die Probleme der virtuellen Welt, sondern der Wirklichkeit. Wenn ich ein Flüchtlingsproblem lösen muss, habe ich es mit realen hungernden, verängstigten, womöglich auch aggressiven Menschen zu tun. Da hilft mir die Virtualität nicht! Da brauche ich soziale Kompetenz in einem ganz urtümlichen Sinn. Wenn ich mich ständig nur in virtuellen Welten bewege, werde ich diese sozialen Kompetenz nie erwerben.

Trotzdem gehören zu den wesentlichen Fähigkeiten der Bildung , diese technischen Medien als eine Kulturtechnik zu beherrschen. Die grundlegenden Fähigkeiten des Sprechens, Lesens, Schreibens haben jedoch weiterhin Priorität, egal auf welchem Medium. Die Fähigkeit, sich sprachlich auszudrücken, eine Botschaft vermitteln zu können, einen Gedanken exakt zu formulieren. Auch Rechnen als Fähigkeit, mit Quantitäten umgehen, ist unverzichtbar. Vielfach hört man die Kritik, dass die modernen Unterrichtsmethoden insb. des "kompetenzorientierten Unterrichts" diese Fähigkeit vernachlässigen. Auch Hausverstand und Statistiken korrekt interpretieren und hinterfragen zu lernen, wer der Auftraggeber ist und welche Intention er verfolgt, gehören dazu. Auch Werbung muss kritisch hinterfragt werden.

Vor allem aber sollten sich junge Menschen mit Inhalten auseinandersetzen. NUR "formale Fähigkeiten" zu schulen, wie es der "kompetenzorientierte Unterricht" schwerpunktsmäßig vorsieht, ist zu wenig. Wer von Inhalten der Wissenschaft, Politik, Wirtschaft, Geschichte, etc... keine Ahnung hat, der wird sich in dieser Welt nicht orientieren können und auch zu keiner niveuvollen Kommunikation fähig sein.

Zur Bildung hat immer die Konzeption gehört, in der Lage zu sein, sich aufgrund von Erfahrung, Kenntnis und Wissen aktiv mit dieser Welt auseinandersetzen. Nur konsumieren kann ich ohne Bildung auch. Die Entleerung der Bildung von allen Inhalten soll die Menschen offensichtlich auf ihr Konsumentendasein reduzieren ("shopping, ergo sum" statt "cogito ergo sum").

Durch Livevideos aus der multimedialen Internetwelt verliert der klassische Printzeitalter-Journalist seine Deutungshegemonie, weshalb alte Medien oft auf "beleidigt" spielen und schmollen.

In der Bloggingkultur findet man oft Beiträge, mit denen sich der klassische Journalismus nicht immer messen kann. Wenn es aber darum geht, dass ein Artikel Ausdruck einer Individualität ist, einer politischen Meinung, einer bestimmten Argumentationsweise, brauchen Journalisten auch keine Angst vor dem "Roboterjournalismus" haben.

Wir wissen aus der Geschichte, dass ein neues Medium – wie jetzt das Internet – nie ein altes Medium ersetzt hat und wir brauchen auch keine Angst vor einer bücherlosen Zeit haben, wir finden auch alle Bücher als eBook im Internet. Der Unterschied liegt in der Sinnlichkeit und in der Individualität. Ein Buch ist nicht immer nur Text gewesen, es ist Papier, hat einen Einband, eine bestimmte Größe, eine Schwere, es strahlt etwas aus und ist ein individuell fassbarer Gegenstand, hat eine sinnliche Inszenierung darum zu schaffen (Haptik). Kein Mensch will nur in Dateiwüsten leben.

Es ist ein Unterschied, ob ich weiß, dass in der Bibliothek Bücher stehen und ich könnte sie lesen, oder ob ich weiß, dieses Buch steht mir in seiner digitalen Form jederzeit zur Verfügung. Das führt zu einer eigentümlichen Lähmung.

Heute, nachdem ich mich einem Streaming-Dienst angeschlossen habe, weiß ich: Alle nur denkbaren Aufnahmen stehen mir jederzeit zur Verfügung. Früher habe ich immer in jeder Phase das Gefühl gehabt, da gibt es etwas, das will ich hören, das will ich haben, weil ich wusste, dass es schwierig ist, überhaupt an diese Dinge zu kommen. Jetzt weiß ich, ich kann alles sofort haben, und mache die Erfahrung, dass es mich nicht mehr interessiert. Omnipotenz lahmt, ein ganz eigenartiges Phänomen. Man wird auf eine komische Art und Weise kalt und leidenschaftslos. Eine gewisse Einstellung der Beliebigkeit beginnt um sich zu greifen, Neugier und brennendes Interesse wird sabotiert. Viele Menschen spüren dieses Verlorengegangene zumindest im Ansatz, weshalb auch die Schallplattenspieler wieder eine Renaissance erleben.

Personenbezogene Algorithmen von Google, Facebook und Co. bestimmen zunehmend unser Weltbild und damit unsere Bildung.

Da können wir auch relativ wenig dafür. Der Grund der "These über die Filterblase" ist, dass bestimmte Suchmaschinen meine eigenen Suchaanfragen algorithmisch verstärken und keine Ergebnisse mehr geliefert werden, die jenseits meines Horizonts liegen. Das ist fatal, ein Wegfall der Antithese zur These. Es gehört viel Mut und Aufrichtigkeit sich selbst gegenüber dazu, wirklich mal Dinge wahrzunehmen, die dem eigenen Weltbild nicht entsprechen.

Die meisten sind sich ja gar nicht bewusst, dass Google die Ergebnisse personalisiert hat. Und zwar nicht nur danach, was ich bisher angefragt habe, sondern zum Beispiel auch danach, an welchem Ort ich mich befinde. Es ist ein ziemlich komplexer Algorithmus, den im Detail niemand kennt. Man muss also aufklären und man muss jungen Menschen kulturelle Techniken und Praktiken beibringen, durch die sie neben diesen Algorithmen, denen sie ja mehr oder weniger ausgeliefert sind, auch andere Informationsquellen nutzen.

Man sollte zB. verschiedene Suchmaschinen benutzen. Da merkt man sofort, dass man zu unterschiedlichen Ergebnissen kommt. Da fängt man an, darüber nachzudenken. Bequem ist es nicht, weil es mehr Aufwand ist. Das wäre Aufgabe von Bildung, Schulen und Lehrern. Lehrer können Schüler anweisen, nicht nur bei Wikipedia zu recherchieren. Das ist eine Quelle. Sie ist manchmal gut und manchmal weniger gut. Man kann einer Gruppe die Aufgabe geben, ein Thema in Wikipedia zu recherchieren, und eine andere schickt man in die Schulbibliothek. Es geht darum, diese Vielfalt der Möglichkeiten aufrechtzuerhalten. Das ist das Wesen von Kultur und wir nicht Gefahr laufen, einem digitalen Totalitarismus geopfert zu werden (Harald Welzer).

Journalisten müssten die ersten sein, die auf diese Art arbeiten. Es ist nach wie vor ganz wichtig, dass Journalisten vor Ort recherchieren. Vor Ort und in guten Bibliotheken. Sich nicht darauf verlassen, was Google ihnen schnell in der Früh, bevor der Artikel fertig sein muss, ausspuckt.

Aus Kostengründen bauen jedoch zahlreiche Medien Personal ab, Redakteure haben immer weniger Zeit für Recherche, Verlage kämpfen ums wirtschaftliche Überleben. Den Boulevard, denn Tratsch und Klatsch wird es weiterhin geben, den hat die Menschheit immer gemocht. Die Medienlandschaft weiter aufspalten. Auf der einen Seite wird es reine Informationsmedien geben, die in hohem Maße automatisiert erstellt werden. Auf der anderen Seite wird es ein kulturelles Segment mit qualitativen Medien geben, die teils analog, teils digital oder in beiden Varianten erscheinen. Bei diesen wird es zusätzlich um Fragen wie Urteilskraft, Aufmachung, Stil, Persönlichkeit, Eleganz, Rhetorik, etc.. gehen. Also um jene Elemente, die einen Menschen auszeichnen und einen Text oder Autor interessant machen. Wir leben immer in mehreren Welten. Das hat ja schon begonnen.

Qualitätsmedien sollten daher auch weiterhin existieren und von Menschen gelesen werden, die imstande sind, Vorbilder zu sein. Auch der Boulevard als Unterhaltungsmedium hat daneben seine Berechtigung und sollte nicht gleich beunruhigen. Wichtig ist, dass es aber auch anderes gibt, das gelesen werden kann. Nämlich Inhalt, der Substanz für die Zukunft hat und Menschen bildet, die dafür bereit sind.

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fischundfleisch

fischundfleisch bewertete diesen Eintrag 19.04.2016 23:12:51

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