Dieser Beitrag geht auch persönlich an NZZ Chefred. Gujer:
Sehr geehrter Herr Chefredaktor Gujer,
als begeisterter Leser der NZZ bin ich mit Ihrem Kommentar und Aufruf zu einem "Neo-Neoliberalismus" absolut nicht einverstanden und habe ihn nachstehend unter PS auch entsprechend scharf kommentiert. Denken Sie darüber noch einmal nach.
Schönes Wochenende und Gruß aus Österreich.....EBgraz
Als Claqueur bezeichnet man jemanden, der ein Theaterpublikum - diesmal für das Welttheater des Neoliberalismus und der Globalisierung - zum Klatschen bringen soll.
Der neoliberale und degenerierte Kapitalismus ist längst aus dem Ruder gelaufen und trotzdem gibt es noch einige wenige, welche diese Marktideologie beklatschen. Dazu gehört offensichtlich auch der NZZ-Chefredakteur Gujer, liest man seinen Kommentar aufmerksam.
Sein Kommentar ist eine Ansammlung von Platitüden, die das ideologisch völlig verblendete Weltbild des Autors erklärt. Sein blinder Rundumschlag gegen rechts und links zeugt von einem äußerst undifferenzierten Weltbild.
Sie sind ein Dogmatiker des Neoliberalismus, einer Wirtschafts-Ideologie, die mit Downsizing und Outsourcing und Deregulierung die Arbeitsbedingungen massiv verschlechtert hat. Mit dieser Iedeologie wurde die Schere zwischen Arm und Reich auch auf Kosten des politisch stabilisierneden Mittelstandes immer größer und führte zu ersten, politischen Spaltungstendenzen in unserer Gesellschaft.
Wir stehen heute vor dem "Scherbenhaufen des Neoliberalismus" und Sie fordern einen "Neo-Neoliberalismus" am Ende ihres Kommentars. Der Neoliberalismus ist eine einzige Bankrotterklärung. Es gibt immer weniger Gewinner und immer mehr Verlierer der "working poors" und "Prekariate" nach dem US-Prinzip: "the winner takes it all".
Der Gewinnmaximierungs-Fetischismus reduziert den Menschen auf einen reinen Kostenfaktor, auf sog. Humankapital (ein Unwort) und beraubt ihn seiner menschlichen Würde.
Ich bin ein begeisterter Leser der NZZ.ch, jedoch Ihr Kommentar hat meine Begeisterung um einiges geschmälert.
Gujer: "Die Prinzipien des Freihandels und der Deregulierung insgesamt sind inzwischen bedroht. Ein Plädoyer für einen neuen Neoliberalismus.Es geht längst nicht mehr nur um die Personenfreizügigkeit".
http://www.nzz.ch/meinung/rechter-und-linker-protektionismus-ld.121252#kommentare
EB: Abgesehen davon, dass die Personenfreizügigkeit nicht zwingend an den freien Warenhandel geknüpft sein muss, hat Gujer noch immer nicht realisiert, dass die neoliberale Marktideologie immer größere Schäden an Demokratie und Gesellschaft und Umwelt verursacht. Eine "Entsolidarisierung" und "Kälterwerden" unserer Gesellschaft, ein "Kapitalismus ohne menschlichem Antlitz", ein "Primat des Marktes" über der vom Bürger legitimierten Politik auf Basis demokratischer Prinzipien. Die wachsende Ungleichheit und der Abbau des politisch stabilen Mittelstandes.
Gujer: "Das Prinzip des freien Wirtschaftsverkehrs kann nicht mit zusätzlichen Handelsverträgen ersetzt werden".
EB: Eine Aussage, die einfach nicht richtig ist und das beste Beispiel für bilaterale Verträge ist die Schweiz selbst.
Gujer: "Doch das Prinzip des freien Wirtschaftsaustauschs ist politisch unter Druck geraten: in der Schweiz durch die Masseneinwanderungsinitiative, in Westeuropa und in den USA durch die Opposition gegen Freihandelsabkommen. Der Widerstand kommt ebenso von links wie von rechts, einträchtig agitiert eine globale Koalition der Nein-Sager und Verhinderer.
EB: Kein Mensch will "Freihandelsabkommen" als Wohlstandsmehrer per se verhindern, sondern nur einige darin enthaltene, unverschämte Bestimmungen abändern, sodass es zu keinem Abbau von Umwelt- Gesundheits- sozialen- und arbeitsrechtlichen Standards kommen kann.
Überdies dürfen demokratische Prinzipien, wie Rechtsstaatlichkeit, nicht durch das Hintertürl privater, lobbyierter Schiedsgerichte ausgehebelt werden und der Staat durch Schadenersatzklagen seitens privater Investoren in der Erfüllung seiner demokratischen Pflichten behindert werden. Die derzeitigen Gerichte reichen zumindest in westlichen Rechtskulturen völlig aus. Wir benötigen keine Parallelljustiz des Konzernkapitalismus.
Gujer: "Auch die Proteste der TTIP-Kritiker gegen Schiedsgerichte lassen sich kaum sachlich begründen, ............... Alle diese Argumente sind nur Vorwände, Ausflüchte und Nebelpetarden"....."Im Zentrum steht vielmehr der ideologisch motivierte Kampf gegen die Idee der Liberalisierung, die in den achtziger Jahren mächtig Auftrieb erhielt und einen weltweiten Siegeszug antrat. Damals setzten sich so unterschiedliche Politiker wie Ronald Reagan, Helmut Kohl und Margaret Thatcher für Deregulierung auf nationaler wie internationaler Ebene ein.
EB: Nach der Weltwirtschaftskrise 1929 ging es spätestens mit dem New Deal Roosevelts in den USA wieder bergauf, auch wenn er von den Neoliberalen als sozialistisches Teufelswerk angesehen wird. Roosevelt führte eine progressive Einkommensbesteuerung, soziale Mindeststandards und gegenüber dem Fordismus fairere Arbeitsverhältnisse ein mit Gewerkschaften.
Mit Reagan wurde ab 1981 alles wieder abgeschafft. Seit 2012 verdienen somit die oberen 10% der Einkommensbezieher über 50% des Gesamteinkommens, den kleineren Rest müssen sich die übrigen 90% der Bürger teilen. Das Vermögen betreffend verfügen die reichsten 2% der Weltbürger rd. 50% des Weltvermögens (siehe auch Piketty).
Die Ideologie der Deregulierung hat übrigens auch dazu geführt, dass in Asien ausbeuterische Arbeitsbedingungen herrschen unter Missachtung einfachster Umweltstandards. Der Billigst-Kleidermüll infolge unfairer "Terms of Trade" landet wiederum in Altkleidercontainern, von wo die ausrangierten Kleidungsstücke dann wiederum die Reise in die armen Länder antreten. Ein dysfunktionaler, absurder Kreislauf des globalen, degenerierten Kapitalismus.
Gujer: ... der Binnenmarkt stützt sich auf vier Elemente, die nach der Ansicht seiner Gründer notwendig zusammengehören: freier Warenverkehr, Personenfreizügigkeit, Dienstleistungsfreiheit und freier Kapitalverkehr. Ein in sich schlüssiges Paket, das bis zu Beginn des neuen Jahrtausends von allen massgeblichen Kräften mitgetragen wurde. Die positiven Folgen der gern als Neoliberalismus apostrophierten Deregulierungs-Offensive liessen nicht lange auf sich warten. So verfünffachte sich der weltweite Warenhandel seit 1990, das globale Bruttoinlandprodukt wuchs um knapp 60 Prozent.
...............Die Globalisierung schafft in den USA und Westeuropa Wohlstand, aber sie vernichtet dort auch Arbeitsplätze – und den Betroffenen solcher Verlagerungen hilft es wenig, wenn die Gesamtbilanz positiv ausfällt. Deshalb verwundert es nicht, dass irgendwann das Pendel in die Gegenrichtung ausschlug und die öffentliche Meinung die negativen Aspekte in den Vordergrund rückte.
Damit hat Gujer Recht.Für die Opfer der Globalisierung infolge Arbeitsplatzverluste wurde seitens der politisch Verantwortlichen wenig getan. Ich denke dabei an die englischen Stahlarbeiter, tausende verloren ihre Jobs wegen chinesischer Dumpingpreise.
Gujer: Es entspricht dem Zeitgeist wie Donald Trumps Tiraden gegen den Freihandel oder die sozialdemokratische Suada zu TTIP. Die Skepsis gegenüber internationalen Verträgen und «fremden Richtern» teilen SVP-Wähler, rechte Amerikaner und die deutsche Linkspartei.
Diese Skepsis besteht infolge der Praktiken des Lobbyismus und Zusammenspiels diverser Netzwerke nach dem Prinzip, eine Hand wäscht die andere, nicht zu Unrecht. Bei Monsantos erhalten Beamte von Genehmigungsbehörden, wenn sie infolge Präsidentschaftswechsel ihr Amt verlieren, sofort wieder einen Job, sofern sie "brav" waren.
Gujer: Die unbewältigte Finanzkrise von 2008, die verbalen und finanziellen Exzesse der Wirtschaftselite in den Jahren zuvor......bilden den fruchtbaren Boden für eine Systemkritik, von der man nicht mehr sagen kann, ob man sie rechts oder links nennen soll.
EB: Es geht um die unzufriedene breite Mittelschicht, die zunehmend den zum Teil kriminellen Machenschaften des Finanzkapitalismus und Konzernlobbyismus zum Opfer fällt und von Abstiegsängsten geplagt wird. Die sind primär zwischen rechts und links verortet, scheinen in Ihrer rechts-links (schwarz/weiß) Weltsicht nicht vorzukommen.
Gujer:...kritisiert das postideologisches Zeitalter, in dem nicht mehr grosse Theorieentwürfe gedeihen, sondern kleinliches Ressentiment und diffuses Unbehagen. Wen beschleicht kein ungutes Gefühl angesichts der Politik unbegrenzter Liquidität zum Nulltarif? Wie jedes süsse Gift droht sie die moralischen und materiellen Grundlagen der Gesellschaft zu zerfressen.
EB: EZB-Boss Draghi kommt jedoch aus der Schule des Neoliberalismus und war auch einige Zeit Goldmann-Sachs Jünger. Die Ursachen der Krise sind großteile im deregulierten Finanzkapitalismus zu finden. Casinokapitalismus, Bankenskandale, Geldwäsche mit Banken als Mittäter, Libor-und Kursmanipulationen, Steuerparadiese, etc....allein die Deutsche Bank wurde von US-Behörden mit 14 Mrd. Strafe verdonnert.
Gujer: Und dennoch bleibt das Prinzip des freien Wirtschaftsverkehrs und der umfassenden Liberalisierung zum allseitigen Nutzen richtig...... Es ist an der Zeit, sich auf die Einsichten der achtziger Jahre wieder zu besinnen. Es ist Zeit für einen Neo-Neoliberalismus.
EB: Ich glaube nicht richtig zu lesen, wonach Gujer meint, es wäre wieder Zeit für einen Neo-Neoliberalismus . Wir leben doch seit den 90er-Jahren diese neoliberalistische Marktideologie und ihre Früchte sind reif geworden, jedoch nur wine Minderheit erlangt Zugriff.
Der Chefredakteur des deutschen Handelsblattes spricht in seinem neuen Buch von "Weltbeben" als Buchtitel. Über Europa schreibt er: „Nirgends ist man weiter weg von der europäischen Idee als in Brüssel . Emotionalisiert und banalisiert werden wir zu Zuschauern der eigenen demokratischen Entmündigung. In der Finanz- und Geldpolitik ist der Illusionscharakter europäischer Politik am deutlichsten zu erkennen. Banken retten Staaten, Staaten retten Banken, und wenn beide nicht mehr weiter wissen, gehen sie zur Notenbank und ersuchen um Aktivierung der Geldpresse ("Quantitative Easing") genannt . Die Politiker nennen das Krisenbewältigung. In Wahrheit bereiten sie die nächste Weltwirtschaftskrise vor. Das Gefühl für Maß und Mitte ging verloren....das schreibt Steingartmann/Handelsblatt.“
Gujer: Im nach wie vor stark regulierten Rahmen des Binnenmarkts trägt die Freizügigkeit zum Wohlstand bei.
EB: Diese These bezweifle ich zunehmend, wenn ich allein an die Flüchtlingszuwanderung denke, die unser sozialpolitisches System und die Arbeitsmärkte sprengen würde.
Gujer: Im Fokus steht längst nicht mehr nur die Personenfreizügigkeit. Es ist die Politik der Liberalisierung insgesamt, die auf Ablehnung stösst..... Thatchers langjähriger Schatzkanzler hofft, dank dem Brexit werde es gelingen, Grossbritannien aus den Fesseln der Regulierung zu lösen und fit für den Weltmarkt zu machen. Der Brexit war kein Plädoyer für mehr Freiheit, sondern im Gegenteil ein Hilferuf angesichts der Zumutungen des grenzenlosen Wettbewerbs.
EB: Das Zünglein an der Waage für das BREXIT-Votum war meines Wissens die "Willkommenskultur-Politik" Merkels im Zuge der Flüchtlingskrise - die Briten wollten nicht überschwemmt werden.
Gujer: Auch in der Schweiz wird immer wieder neues Geschütz gegen den Freihandel aufgefahren, ...überdies Sperrfeuer von links in Form der Konzernverantwortungsinitiative. Würden deren überrissene Haftungsregeln Realität, schwebte über international tätigen Schweizer Unternehmen beständig das Damoklesschwert von Prozessen und Schadenersatzzahlungen.
EB: Ich kenne als Österreicher den Inhalt dieser "Linksinitiative" zwar nicht, jedoch der deregulierte Konzernkapitalismus mit seinen Steuervermeidungsstrategien hat damit einen negativen Beitrag für das Gemeinwohl, die "res publica" geleistet. Eine an sich begrüßenswerte Transformation der Konzerne vom "Shareholdervalue-Denken" zu eine "Stakeholdervalue-Denken" findet nur propagandistische in Geschäftsberichten ihren Niederschlag, nicht jedoch in der Realität. Genauso das "CSR-Gefasel" (Corporate Social Responibility), Geschäftsberichts-Behübscher.
Gujer: Gegen den Zeitgeist braucht es eine Koalition der Vernunft, die ohne taktische Schlaumeiereien und falsche politische Rücksichtnahmen die Prinzipien des Freihandels und des Liberalismus verteidigt: gegen Wirtschaftsnationalismus und die Protektionisten von links und von rechts.
EB: Wirtschaft und auch Globalisierung sind nicht Selbstzweck, sondern haben den Menschen zu dienen. Darum geht es und nicht um das Gerede von links oder rechts oder liberal. Worum es mir geht, ist ein Kapitalismus mit "menschlichem Antlitz" und es geht dabei auch um mehr Respekt vor der Würde des Menschen. Das Werteethos des Neoliberalismus ist genau die Antithese dazu.