Offener Brief an die Chefredakteure STANDARD/Wien und NZZ/Zürich:
Ich habe kürzlich dem NZZ-Chefredaktor Gujer ein Email zukommen lassen, worin ich mich über seinen unausgewogenen Kommentar zum Themenkreis "Neoliberalismus" beschwerte und in nicht ehrverletzender, sondern kritischer Absicht ihn pointiert als "Claqueur des Neoliberalismus" bezeichnete.
https://www.fischundfleisch.com/ebgraz/nzz-chefredakteur-gujer-claqueur-des-neoliberalismus-26613
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Die Chefredakteurin des STANDARD Föderl-Schmid habe ich via Emails oftmals aufgefordert, das Agieren unserer politischen und ökonomischen Eliten (lobbyierte Eurokratie in Brüssel, Konzernkapitalismus, Arroganz der Eliten, etc..) kritischer zu hinterfragen und keine Rücksicht auf diverse Anzeigenkunden und Netzwerke (Consultingbranche, politische Netzwerke, etc..) zu nehmen, sondern sich ausschließlich dem kritischen Journalismus verpflichtet zu fühlen. Bisweilen ist die narzisstische Selbstbeweihräucherung der Journalisten-Community auf Twitter bisweilen schon peinlich.
Ich habe nachstehendes Email von der Chefredaktion des STANDARD erhalten, das mich nachdenklich gemacht hat, wieweit Journalisten/Innen in der beschleunigten Zeit des Onlinejournalisten überhaupt noch Ressourcen für Selbstreflexion übrig haben - es sieht nicht danach aus.
Warum ist Chefredakteur Steingart des deutschen Handelsblattes sehr wohl in der Lage, sich als Handelsblatt nicht ausschließlich der ökonomischen Eliten verplichtet zu fühlen, sondern die "Cheerleader der großen Konzerne" auch kritisch zu beleuchten als eine der Ursachen des wachsenden Populismus gegen "die da oben" (=Eliten).
Der Journalist muss in meinen Augen gegen den Strom schwimmen, um zur wahren Quelle zu kommen und darf nicht zum Handlanger politischer Eliten und agenturjournalistisch getriebenen Mainstreams werden.
In Hamburg fand die Verleihung des Hanns-Joachim-Friedrichs-Preises statt für den deutschen Dopingaufdecker Sportjournalist Seppelt und ORF-Moderator Armin Wolf für seine in großer Unabhängigkeit geführten Live-Interviews.
Der Chefredakteur des Handelsblattes hielt eine sehr lesenswerte Rede, die ich nachstehend etwas gekürzt wiedergebe. Steingart warnte vor dem Aufstieg der Populisten, ermahnte Journalisten zu mehr Neugier, nicht jedoch Gegnerschaft und sagte:
„Wir sind nicht die Chorknaben von Angela Merkel.“
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Preisträger,
der Populist geht um. Plötzlich kommt er von überall her, von links und rechts, und aus der Mitte. Seine Botschaften klingen schroff, und – gemessen an den Ritualen der bisherigen Parteipolitik – politisch unkorrekt. Die Populisten sind deutlich, klar, eingängig, zuweilen verzerrt, schrill, polternd, auch verletzend. Der Populist spricht erkennbar nicht zu den Eliten,...seine Zielgruppe No. 1 ist das Volk, ist die Masse derer, die unzufrieden sind mit dem was ist....
Der Populist kommuniziert ...über Facebook und Twitter...füllt die Stadien, aber zunehmend auch die Parlamente. In England ist ein Populist – eben noch Außenseiter und Minderheit – plötzlich Außenminister und Mainstream.
Der Populist ist der Aufsteiger der Saison.
Alles was Hanns Joachim Friedrichs über das Verhältnis von Journalismus und Macht, über Nähe und Distanz gesagt hat, sein Coolness-Gebot im Umgang mit den vermeintlich Guten wie dem vermeintlich Bösen...sollte im Angesicht der Populisten nicht suspendiert werden. Ich will uns Medienmenschen dazu ermuntern, uns dem Phänomen des neuzeitlichen Populismus und den dahinter wirksamen Antriebsenergien mit Neugier zu nähern...um ihn und was seinen Erfolg ausmacht, besser begreifen, verstehen, fühlen zu können. Den Kampf – wir gegen die – hat eine freie Presse verloren, weil sie ihre Unabhängigkeit aufgibt....
Wir sind nicht die Chorknaben von Frau Merkel. Wir sind nicht die Cheerleader der großen Konzerne. Wir sind vor allem eines – neugierig.
1) Die Menschen, die den Populismus groß und wirkungsmächtig machen, sind unsere Zuschauer, Zuhörer und Leserinnen und Leser... und für Ihre Unzufriedenheit nicht zu tadeln.
Eine Gegenwart, in der die Gleichzeitigkeit von Europäisierung, Digitalisierung, Globalisierung und der Politisierung von Religion für Schwindelgefühle sorgt, in der man zuweilen das Gefühl von politischem Kontrollverlust haben musste, ist keine, die auf allgemeinen Zuspruch hoffen darf. Viele Bürger sind unzufrieden mit dem, was seitens der Eliten geboten wird und sie haben aufgehört, sich ihrer Gefühle zu schämen.
Die unterirdischen Energieströme des Politischen versiegen also nicht, wie Parteipolitiker gern behaupten, sondern sie verlagern sich vom eng begrenzten Territorium der Parteien in die Siedlungsgebiete einer unruhig gewordenen Gesellschaft. Dort lebt der Populist, aber eben nicht im politischen Niemandsland, sondern mitten unter uns, zuweilen auch mitten in uns.
Camus:
"Was ist ein Mensch in der Revolte? Ein Mensch, der Nein sagt."
2) Es gibt eine über Einzelfälle populistischer Erregung – Flüchtlingspolitik, Migration, Brexit, Euro etc. – hinausreichende, systemische Komponente, die unsere Aufmerksamkeit verdient. Es geht den Populisten nicht mehr nur darum, Angela Merkel oder Hollande abzuwählen oder der SPD oder Hillary Clinton einen Denkzettel zu verpassen. Es geht darum, die bisherigen Eliten dauerhaft in ihrem Machtanspruch zu begrenzen und die Verfahren der Gewinnung und Ausübung von Macht grundsätzlich zu verändern.
Es kommt womöglich zu dem, was die frz. Philoprofessorin Catherine Colliot-Thélène die »Demokratisierung der Demokratie« nennt.
Der Bürger, und daran erkennt man den systemischen Charakter der Veränderung, verweigert alles Vorgedachte und Vorgesetzte schon deshalb, weil es vorgedacht und vorgesetzt wurde. Es geht scheinbar um den Bahnhof, scheinbar um den Euro, scheinbar um die neue Stromtrasse, scheinbar um das Abitur in der zwölften Klasse, scheinbar um Olympia, scheinbar um die Glühbirnen Verordnung, scheinbar um TTIP. Aber vielleicht sollten wir mehr dahinter vermuten: Das Volk will sich womöglich selbst spüren.
Die Menschen überall im Westen sind nach den Jahrzehnten der repräsentativen Demokratie unruhig geworden; zunehmend unwillig ertragen sie die in ihrem Namen getroffenen Arrangements. Es kommt auf breiter Front zur Infragestellung bisheriger Verfahren und Autoritäten. Die Säkularisierung der repräsentativen Demokratie hat eingesetzt, was die Amtsinhaber und Würdenträger (=Eliten) des heutigen Systems mit der gebotenen Fassungslosigkeit begleiten.
Sie erleben die neue Aufmüpfigkeit als Respektlosigkeit gegenüber ihrem bisherigen Schaffen. Sie glaubten, mit der heutigen Form von Volksherrschaft sei das Ende der Demokratisierungsgeschichte erreicht, und plötzlich – zumindest für sie kommt es plötzlich – steht die Legitimation von Kanzlern, Ministern und Parlamentspräsidenten ebenso infrage wie die von Vorstandsvorsitzenden, IHK-Präsidenten, ARD-Intendanten und Chefredakteuren.
Aber die Bürger sind nicht alle Politik verdrossen – sie besitzen nur andere Vorstellungen von der Art des Zustandekommens von Politik. Ihre Statistenrolle verdrießt sie. Das In-sich Geschäft der politischen Elite macht sie ärgerlich. Deren wohltemperierte Mutlosigkeit finden sie angesichts des Veränderungsbedarfs empörend. Die These des Immanuel Kant, wonach die Ablehnung von Bevormundung die Vorbedingung der Möglichkeit von Freiheit ist, wird vor unser aller Augen einem Praxistest unterzogen.
3) Wie populistisch ist der Populist eigentlich?
Die Schere zwischen Arm und Reich weitet sich. Das festzustellen ist nicht populistisch, sondern wahrhaftig.
Die Spirale von Gewalt und Gegengewalt bringt keinen Frieden, sondern erzeugt neuen Krieg, neue Flüchtlinge, neue Terroristen. Das zu erkennen ist nicht populistisch, sondern klug.
Eine unbegrenzte Zuwanderung überfordert jede Gesellschaft. Das den Flüchtigen und den hier Ansässige zu sagen ist nicht populistisch, sondern verantwortungsbewusst.
Die Stabilität des Euro wird durch eine nie dagewesene Geldflutung sichergestellt – mit der Nebenwirkung, dass die Schuldner belohnt und die Sparer teilenteignet werden. Das zu adressieren ist nicht populistisch, sondern überfällig.
Die Verschuldung in Europa, wird in 2017 erstmals die 10 Billionen Grenze nehmen, das neue Griechenland heißt Italien, wer die Kreditsucht des europäischen Südens klar benennt ist kein Sendbote der Populisten, sondern ein kühler, ein besorgter Kopf.
Schon Ralf Dahrendorf mahnte uns in seinem Essay „Acht Anmerkungen zum Populismus“ davor, die Bezichtigung für den Beweis zu halten: „Der Populismus-Vorwurf kann selbst populistisch sein“, schrieb er. Als Beleg dürfen wir getrost Frau Merkel anführen, die sich angewöhnt hatte alle, die nicht synchron zu ihr die Lippen bewegen, als Populisten zu etikettieren. Vielleicht ist ja so mancher Populist in Wahrheit ein größerer Realist als diejenigen, die ihn beschimpfen.
4) Aber ist Trump nicht furchtbar, Le Pen grausam anzuhören, Wilders inakzeptabel? Diese Populisten sind keine Alternative aber sie erfüllen die Funktion einer Sirene, die laut ertönt, weil eine Havarie bevorsteht. Laut, nicht schön. Was wir da hören tut weh in den Ohren – dennoch würde niemand einer Sirene ihre nützliche Funktion absprechen.
Diese Sirene sagt uns: Die Parteifunktionäre sind für Millionen von Menschen nicht mehr die Vorhut der Gesellschaft, sondern deren tragische letzte Kompanie, der man vergessen hat mitzuteilen, dass die Schlacht irgendwo zwischen Antragskommission und Programmparteitag verloren worden ist.
Ihre Rituale wirken verwelkt, die demokratische Leidenschaft ist vielerorts verflogen, die Sinnesorgane vieler Mandatsträger haben sich unschön verformt, drei Münder, kein Ohr. Einen leidenschaftlichen Politiker, bei dessen Worten die Menschen das Radio lauter drehen, haben die Parteien schon lange nicht mehr hervorgebracht.
5) Wenn Sie mir bis hierher gefolgt sind müssen sie mit mir jetzt auch umkehren. Denn: Ob die Sache wirklich auf der Haben-Seite unserer Demokratie abzugeben ist, ist offen. Alles ist noch frisch und fluid, was auch bedeutet: vergänglich und widersprüchlich. Was wir sehen, ist noch nichts Festes und Bleibendes, sondern der sichtbarste Teil einer gesellschaftlichen Suchbewegung.
Fragen von großer Tragweite drängen sich auf:
Bringt die Selbstregierung des Volkes durch das Volk auch jene Resultate hervor, die dem Wohlstand und dem Sicherheitsbedürfnis unserer Gesellschaft zuträglich sind? Dass die alten Institutionen verrostet sind, ist unverkennbar; jedermann hört, wie sie unter der Last der Überforderung durch Globalisierung und Digitalisierung ächzen und quietschen. Aber sind bereits neue Regelkreisläufe in Sicht, die dafür sorgen, dass Mehrheitsentscheidungen nicht zur Diktatur über die Minderheiten entarten? Und letztlich: Kann die Demokratisierung der Demokratie gelingen, wenn ringsum autoritäre Systeme und religiöse Fanatiker das Sagen haben? Ist die neue Bürgergesellschaft nicht nur im Innern demokratisch und fortschrittlich, sondern auch im Äußeren wehrhaft?
Die Fragen sind aufgeworfen. Die nächsten Jahre werden uns Teilantworten liefern, womöglich auch solche der unbequemen Art.
Doch wer glaubt, in Erwartung von Schwierigkeiten sich der Demokratisierung der Demokratie verweigern zu können, bereitet den Schaden vor, den er vorgibt, verhindern zu wollen. Insofern sind wir zur Zuversicht verdammt.
Wir wollen, dass uns unsere Leser, Zuhörer und Zuschauer vertrauen. Aber vielleicht sollten wir ihnen auch Vertrauen entgegenbringen. Diese Gesellschaft ist unzufrieden, aber nicht verrückt. Die Menschen wollen eine andere Zukunft, aber nicht den Untergang. Ich glaube, sie wollen auch Europa – aber demokratisch. Sie wollen auch ihre vertrauten Medien – aber nachdenklicher als bisher. Und sie wollen nicht nur zuhören, sondern mitreden und mitentscheiden. Oder wie Willy Brandt, der Journalist, Zuhörer und Kanzler sich in seiner ersten Regierungserklärung 1969 ausdrückte:
"Wir stehen nicht am Ende unserer Demokratie, wir fangen erst richtig an"
Dieser Blog ergeht via Email an:
eric.gujer@nzz.ch
alexandra.föderl-schmid@derstandard.at
und
steingart@handelsblatt.com
dem ich meinen Dank für diese kritische, hervorragende Rede aussprechen möchte.
Gleichzeitig meine Aufforderung an die Blogger-Community, auch Ihren Unmut kundzutun, sollten Sie mit Gouvernantenjournalismus, Mainstreamjournalismus, Selbstbeweihräucherungs-Journalismus, etc.. ebenso nicht einverstanden sein. Die Demokratie und Art. 10 EMRK gibt und das Recht, von unserer Meinungsfreiheit Gebrauch zu machen und wird sollten dies auch tun.
Der Journalismus steckt tief in der Krise (KPMG-Studie: 30% Umsatz- und 50% Werbeerlöseinbrüche). Die Gatekeeperfunktion ging verloren, der digitale Plattformenkapitalismus (instant articles) macht die Medien zum Spielball von Facebook und Google. Die digitale Transformation (Onlinejournalismus, Onlinebanking) hat Bankern und dem Geschäftsmodell des Journalismus eine schwere Schlagseite verpasst (1/3 Personalabbau), die Verleger sind verzweifelt, die Bilanzen weisen großteils rote Salden auf.
Wo bleibt der Appell an Jungjournalisten zu neuen Experimenten, "out of the box - thinking", die jungen Ideen, um Zeitungen über Wasser zu halten. In realiter haben sie Angst um ihren Job und keiner wagt es, den Kopf zu weit hinauszulehnen. Damit stellen sich die Medienwelt und auch der investigative Journalismus zunehmend in Frage und sägen an ihrem eigenen Ast. Mehr Mut, gegen den Strom zu schwimmen.