"Wirtschaftskriminalität" ist heute normaler Bestandteil wirtschaftlichen Handelns.

Das E-Mail eines VW-Ingenieurs, "ganz ohne Bescheissen" werde man die US-Grenzwerte für Stickoxide nicht einhalten, erstaunt heute nicht mehr. Die Zeit der ehrbaren Kaufleute ist längst vorbei. Banken haben beschönigenden Euphemismen (kreative Bilanzierung, Marktversagen, systemisch, etc..) für ihre Zinsmanipulationen, Untreue, Bestechungen, Bilanzfälschungen, Steuertricks, Softwarebetrug, Geldwäsche, Umweltschäden und dazu in bester Gesellschaft auch grosse Industrieunternehmen in der westlichen Welt. Wenn die Dinge jedoch auffliegen, bedeutet das nicht selten den Ruin.

Wenn sich Merkel angesichts der Verfehlungen von VW, Siemens und der Deutschen Bank um den guten Ruf der deutschen Wirtschaft sorgt, daraus können höchstens Krokodilstränen werden. Der "gute Ruf" ist im neuen Werteethos des Neoliberalismus kaum mehr Ziel unternehmerischen Handelns. In den Chefetagen der Konzerne bestimmen offenbar andere Strategien das Handeln. Waren "Skandale" früher einmal "Sonderfälle", gehören sie heute zum alltäglichen Normalfall.

Erfolgskalkül "Wirtschaftkriminalität, Regelverletzungen":

Heute gehören Regelverletzungen nicht mehr zu den Ausnahmen , sondern sind eine feste Grösse im komplexen Kalkül modernen Wirtschaftens. In den veralterten, akademischen Lehrplänen der Ökonomie gibt es noch keine Vorlesungen zu diesem Thema, die unter dem Titel "Risikomanagement des Betrugs" laufen könnte. Nur Marketing-Romantiker hängen noch an dem Glauben, dass der Markt "unethisches Verhalten bestraft".

Adam Smith 1776 in seinem Buch "Wohlstand der Nationen" zählte die Ehre zu den wirksamen Mächten, die für eine höhere Ordnung im Gemeinwesen sorgen. Wenn heute Unternehmer und Bankiers mit einem rechts- und moralwidrigen Erfolgskalkül durchkommen, weil es offenbar alle Spieler auf dem Markt so treiben, handelt es sich keineswegs um das gern zitierte "Marktversagen". Korruption in der Geschäftswelt und Vetternwirtschaft.

In den Gründerjahren der modernen Handels- und Industriegesellschaften zählte es zu den unvermeidlichen Bestrebungen des Kaufmanns, sich durch Verlässlichkeit, Ehrlichkeit, Verschwiegenheit und massvolle Lebensführung ein Ansehen zu sichern. Leitbild der seit 1517 "Versammlung Eines Ehrbaren Kaufmanns zu Hamburg".

Diese protestantische Ehrbarkeit und innerweltliche Askese bestimmte diese ökonomische Kultur, die in den angelsächsischen Ländern, den Niederlanden, der Schweiz und in Deutschlands Norden . Gewiss gab es auch in jenen Zeiten, da die Moral stark und die Sanktionsmacht des Staates noch schwach war, unseriöse Geschäftsleute.

Inzwischen treten Regierungen selbst als Akteure dieses Spieles auf und mit unfairen Steuervorteilen Grossinvestoren. Die moralische Autorität des Staates geht damit verloren.

Während sich Konzerne mit "Codes of Conduct" in holprigem Deutsch ("Wir verlangen von unseren Geschäftspartnern die Einhaltung sämtlicher geltender gesetzlicher Bestimmungen";) schmücken, herzergreifende "Corporate Social Responsibility"-Aktionen starten, von "Stakeholder-Value" statt "Shareholder-Value" als neues Unternehmensziel halluzinieren oder an philosophischen Fakultäten Lehrstühle für Unternehmensethik stiften, entwickelt sich die globale Wirtschaft nach Prinzipien, die weder moralische Verantwortung übernehmen noch gesetzliche Bestimmungen beachten. Das "Betrugskalkül" wird eine akzeptierte, ökonomische Größe. Wie weit kann man es treiben - bis die Vorboten eines Desasters erscheinen.

Moralische Leistungen werden heute nicht mehr honoriert, wie denn schon immer der Heilige ohne Boni auskommen musste.

Es gibt keinen Skandal mehr. Die Gehälter und Erfolgsprämien verdienen die Führungsspitzen grosser Unternehmen nicht nur als Äquivalent ihrer Leistungen, sondern auch als Ausgleich für die persönlichen Risiken, die eine gefährliche, Recht und Anstand verletzende Unternehmensstrategie mit sich bringt.

Aber sollen wir uns mit den neuen Exzessen des globalen und degenerierten Kapitalismus abfinden? Adam Smith ging davon aus, dass der Wettbewerb der Eigeninteressen höheren gesellschaftlichen Nutzen stiftet als der direkte Einsatz für das Gute. Werden wir also jetzt an eine neue "unsichtbare Hand" glauben, die aus dem Wettlauf der Regelüberschreiter aus aller Herren Ländern ein neues Heil hervorgehen lässt? Wie weit geht die Verantwortung von Firmen? Die schauts mit der Ethik des Gewinnes aus?

In den vergangenen zwei Dekaden hat sich in Wirtschaft und Politik eine Mentalität der Wette etabliert. Aufsehen erregte ein im Jahre 2003 bekannt gewordener Plan des damaligen US-Verteidigungsministeriums, eine sogenannte "Terrorbörse" im Internet einzurichten. Die geplanten 10 000 Teilnehmer sollten ähnlich wie im Optionshandel "Erwartungszertifikate" für zukünftige Ereignisse erwerben: zum Beispiel für die Möglichkeit eines terroristischen Angriffs auf Israel oder eines Attentats auf einen Präsidenten oder eines Raketenangriffs durch Nordkorea. Wäre ein solches Ereignis eingetreten, dann hätten die Veranstalter erhebliche Gewinne ausbezahlt bekommen. Als das Pentagon mit dem Gedanken spielte, eine Börse für zukünftige politische Unfälle, für Attentate, Revolutionen oder auch Kriege einzurichten, da wollte es ein aus Spekulationen und Profithoffnungen gewobenes Frühwarnsystem einrichten.

Hinter diesem Online-Projekt standen vermeintlich gute Erfahrungen mit den "künstlichen Märkten" oder "prediction markets". Das sind Internetspiele, die mit Vorhersagen auf zukünftige Ereignisse Handel treiben. Wie inzwischen eifrige Mathematiker nachgewiesen haben wollen, erbringen solche Börsenspiele und Wetten im Internet bisweilen sehr viel bessere Prognosen als etwa Umfragen oder Expertenmeinungen. Der Glaube an die Orakelkraft der Wetten ist nicht ausgestorben.

Zuletzt haben jedoch die Wetten zur Brexit-Entscheidung die prognostische Blindheit der Zocker erwiesen. Man könnte auf die Fehlerhaftigkeit der Wettprognosen wetten. Auffällig und besorgniserregend ist jedoch die Wettmentalität der neue Big-Data-Industrie. Aus Datenmengen werden Erfolgswahrscheinlichkeiten zu errechnet und Wetten daraus gemacht. Man denke auch an die Inflation der Sportwetten und ihren fatalen Einfluss auf den Sport oder an Börsenwetten, wo es nicht mehr die Unterscheidung von gut und böse , sondern erfolgreich und nicht erfolgreich geht. In den Datenmengen, die gesammelt werden, um Erfolgswahrscheinlichkeiten zu errechnen, spielen moralische oder rechtliche Unterschiede kaum mehr eine Rolle. Ein solcher Mentalitätswandel begünstigt daher die moralische und rechtliche Indifferenz, die viele Unternehmer und Wirtschaftskapitäne bei wichtigen Entscheidungen an den Tag legen. Dass VW und die Deutsche Bank ihre Betrugswetten verloren haben, heisst zugleich, dass viele Spieler auf dem gleichen Markt gewonnen haben. Das Risiko, "erwischt" zu werden, bildet im Erfolgskalkül rechnerisch die gleiche Grösse wie andere Zufallsfaktoren, der Einbruch des Konsums oder der Auftritt eines starken Konkurrenten. Die Regelverletzer wetten auch darauf, dass ihr Lügen und das "Bescheissen" nach kurzer Zeit der Amnestie anheimfällt. In seiner epochalen Untersuchung zur protestantischen Ethik und zum "Geist des Kapitalismus" erinnerte Max Weber , dass man im alten Ägypten dem Toten einen Skarabäus aufs Herz legte, weil damit der Verstorbene den Totenrichter erfolgreich über seine Lebenssünden täuschen konnte. Es sieht so aus, als müssten Skarabäusse heute deshalb unter Tierschutz gestellt werden.

2
Ich mag doch keine Fische vergeben
Meine Bewertung zurückziehen
Du hast None Fische vergeben
4 von 6 Fischen

bewertete diesen Eintrag

Margaretha G

Margaretha G bewertete diesen Eintrag 25.10.2016 13:18:28

Petra vom Frankenwald

Petra vom Frankenwald bewertete diesen Eintrag 24.10.2016 15:27:43

3 Kommentare

Mehr von EBgraz