Heuchelei als hochinfektiöse Volkskrankheit…

11. Februar 2015, ich wache relativ früh auf, dann der obligatorische Blick aufs Smartphone. Einige Benachrichtigungen und Spammails. Ich scrolle den Facebook-Feed durch.“Fu** hate, fu** extremists and fu** you if you support the killing of innocents.. i can’t describe my feelings, ya allah grant their family strength” schreibt ein Freund aus Amerika und verweist auf einen Link von WRAL.com:

Deah Shaddy Barakat, 23, his wife Yusor Mohammad, 21, and her sister Razan Mohammad Abu-Salha, 19 were shot dead in a suburban neighbourhood of North Carolina, USA. Unconfirmed reports say they were killed “execution-style”.

Der Mörder und Nachbar der Opfer, Craig Hicks, 46 Jahre alt, bekennender “Anti-Theist”, der auf seiner Facebook-Seite häufig gegen alle Religionen gehetzt hat, stellt sich direkt nach der Tat.

Was für ein Start in den Tag. Meine Stimmung wandert sofort gen Keller, Trauer staut sich in mir, nach und nach kommen Wut und Zorn hinzu. Wo zum Teufel bleibt die Berichterstattung? WRAL als einziges Medium welches zu der Zeit berichtet hat, ist eine TV-Station mit Sitz in North Carolina, also im selben Ort des Geschehens. Nur zaghaft ziehen anderen Blätter nach. YT, independent.uk und BBC. Diese sprechen von Hass und Islamophobie als ‘vermutete Motive/Hintergründe’.

Wenn schon im Land des Geschehens die Berichterstattung sehr mangelhaft ist- vielleicht aus Imagegründen denke ich naiv- dann ist sie bei uns hoffentlich besser. Fehlanzeige. Mittlerweile waren mehrere Stunden vergangen. Für gewöhnlich würde ich mich nach solchen Vorfällen genauer damit auseinandersetzen. Wer war der Täter, wer die Opfer, gibt es eine Vorgeschichte etc.? Doch zu diesem Zeitpunkt interessierte mich nur die Ignoranz westlicher Medien gegenüber muslimischen Opfern. Bis etwa 13 Uhr hatte kein einziges Medium im deutschsprachigem Raum berichtet.Man erkennt schon an meiner Wortwahl und der durchgehenden Wertung, wie “zaghaft”, “mangelnd” etc. dass diesen Überlegungen ein Vergleich vorangegangen sein muss, eine Art Referenzwert. So ist es auch. Codename: Charlie.

Erinnern Sie sich an das Attentat auf das Satiremagazin Charlie Hebdo? Die Welt stand Kopf. Medien aus aller Welt berichteteten im Live-Ticker. Sowohl unsere Boulevardzeitungen als auch die Qualitätsblätter lieferten fast im minutentakt Updates. Schon wenige Minuten nach der Tat waren die ersten Schlagzeilen zu lesen mit dem Verweis, es handle sich vermutlich um ein Attentat mit “islamistischem Hintergrund”. Einige Blätter verzichteten auf einen explizten Verweis auf vermeintlich religiöse Motive.

Und jetzt? Das erste deutsche Medium das berichtete war die Schweizer “20minuten.ch”. Die deutsche “Zeit” zog gegen Nachmittag ebenfalls nach und lieferte ein Manifest medialer deutscher Ignoranz. Was folgt ist der GESAMTE Bericht der “Zeit”:

Drei Mitglieder einer Familie in den USA erschossen:“Washington (AFP) Im US-Bundesstaat North Carolina hat ein Mann drei Mitglieder einer Familie erschossen und sich anschließend selbst bei der Polizei gestellt. Der Vorfall habe sich in der Stadt Chapel Hill ereignet, hieß es am Mittwoch übereinstimmend in mehreren Medienberichten. Das Motiv des 46-jährigen Täters sei völlig unklar.”

Lesen Sie hier irgendwo etwas über Konfessionen, Hass, Terrorismus, Exekution, Kopfschüsse, Gewalt, Hintergründe?Plötzlich sind all diese Details uninteressant. Es wäre schön, wenn alle Medienberichte so gestaltet wären, so nicht-suggestiv, objektiv, nicht wertend, wo nur die Todesopfer im Vordergrund stehen. Aber dann bitte für alle. Wir können uns nur ausmalen, wie es um die Berichterstattung stünde, wäre der “mentally ill shooter”, wohlgemerkt kein Terrorist, kein Fundamentalist, sondern lediglich ein irrer Einzeltäter, ein Muslim gewesen. Videos würden kursieren, Hashtags würden erstellt werden a la #jesuis…., Staatsoberhäupter hätten sich zu Wort gemeldet… wir kennen das alles schon.

Wäre das Hebdo-Erlebnis nicht erst so frisch, hätten wir wahrscheinlich keinen so deutlichen Vergleich den wir alle miterlebt haben. Dann würde man wahrscheinlich hören, dass Muslime überempfindlich seien und sich gern in der Opferrolle sehen.Doch haben wir alle miterlebt, gelesen und vor allem gespürt, welche Wellen durch das Attentat auf Charlie Hebdo losgetreten wurden und wir sehen alle, dass diese Wellen nun fehlen. Scheinbar geht es also nicht nur um Menschenleben, wie es immer heißt. Es geht vor allem um die Vermarktung. Nur bei einer bestimmten Sorte von Tätern wird es interessant.

Und jetzt lasst uns bitte weitere Deradikalisierungshotlines gründen und Geld für Demokratieworkshops an Schulen, die den westlichen “Wertekanton” beinhalten sollen,  in die Luft werfen. Lasst uns weiterhin das Symptom und nicht die Ursache bekämpfen, um Gottes Willen.Es bräuchte endlich einen ehrlichen Dialog. Denn nur wenn muslimische Jugendliche sich nicht verachtet und als minderwertigere BürgerInnen (im nationalen und internationalen Kontext) fühlen, nur wenn sie das Gefühl haben, tatsächlich gleichwertige Bürger zu sein und deren Leid ebenso viel Aufmerksamkeit verdient wie das von Nicht-Muslimen, DANN erst hat man das Recht innerislamische Debatten um religiöse Inhalte zu verlangen (die es so nebenbei unter islamischen Gelehrten durchgehend gibt) und dann erst wird der Zulauf zu fundamentalistischen Gruppierungen gestoppt werden.Bis dahin bleibt der Westen, samt Medien, Politik und Gesellschaft, der größte Verbündete fundamentalistischer Gruppierungen.

Scheinheiligkeit kills und bleibt nicht ohne Konsequenzen! Und wie der Vorfall gestern gezeigt hat, ist Scheinheiligkeit kein rein “westliches” Problem. Es ist eine Volkskrankheit und sie ist ansteckend, sehr sogar. Denn sie hat in diesem Zusammenhang auch beispielsweise die deutschen islamischen Dachverbände und  religöse Authoritäten infiziert. Sprangen diese nach dem Charlie-Attentat alle auf, um sich zu distanzieren und das Verbrechen zu verurteilen, schweigen sie nun zum Großteil. Das beweist, wie flexibel (freundlich ausgedrückt) das Rückgrat jener Verbände und Personen ist.

Heißer Tipp am Ende: Sich dem Rechtfertigungsdruck zu beugen und mit Aufforderung von Attentäten zu distanzieren, ist nicht “ehrenvoller”, geschweige denn mutiger, als dies, unaufgeffordert zu tun… im Gegenteil.Aber vielleicht haben wir ja Angst davor. Ist ja auch ziemlich verwerflich sich für 3 katlblütig ermordete Leute einzusetzen, die sozial engagiert waren und ein herrliches Beispiel islamischer Werte lieferten.

Mögen sie in Frieden Ruhen und möge der Brechreiz mir bald vergehen.

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