Nationalismus eine psychologische Krücke für das Selbstwertgefühl.

Es ist etwas ins Rutschen geraten in unserer Gesellschaft

Das vergangene Jahrhundert war das Jahrhundert der Kriege.

In den Weltkriegen starben weit über 100 Millionen Menschen.

Im Ersten Weltkrieg wurde eine ganze Generation dem Stahlgewitter und Gas geopfert. Im Zweiten Weltkrieg wurden Menschen aufgrund ihrer Herkunft, Abstammung, politischer Ansichten, Behinderung oder sexuellen Orientierung systematisch ermordet, zu Zwangsarbeit gezwungen, gefoltert und zu unaussprechlichen medizinischen Experimenten missbraucht. Gestern vor 78 Jahren wurde Auschwitz befreit.

Die meisten starben jedoch mit dem Gesicht in einer Schlammpfütze in den Ardennen, erfroren an der Wolga oder sanken auf den Grund des Atlantiks. Auch jene, die vorher „Hurra“ geschrien haben.

Der Auslöser dahinter war immer der Gleiche: Nationalismus.

Dabei ist Nationalismus nur eine psychologische Krücke für das Selbstwertgefühl.

Der Mensch muss sich definieren.

Er tut das unbeholfen-dümmlich gerne durch die Gruppe, der er sich selber zugehörig fühlt. Es ist das Primitivste, Rudimentärste und Anspruchsloseste, das über die Staatsangehörigkeit oder Abstammung zu tun. Einem zufälligen Umstand, zu dem kein Mensch willentlich beigetragen hat.

Und es ist das Einfachste, das als selbstwertdienliche Begründung zu instrumentalisieren, sich über andere zu erheben. Und erhaben zu fühlen.

Man sollte denken, dass das selbst ausgelöste Leid zumindest in Deutschland ausgereicht hat, den Nationalismus für lange Zeit zu unterbinden.

Doch inzwischen stellt eine Minderheit erneut die eigene, individuelle Freiheit über die Freiheit der Gesellschaft. Das Recht über die Pflicht. Das eigene Wohlergehen über die Verantwortung. Sich selbst über alle anderen.

Es wäre 1989 unvorstellbar gewesen, dass noch einmal eine Partei im Reichstag sitzt, die offen „Unser Land zuerst“ verkündet. Und damit genau jene einfängt, die außer der Nation wenig haben, um stolz darauf sein zu können. Unvorstellbar, dass kleine Gruppen oder Einzelpersonen versuchen die demokratische Republik zu stürzen, Politiker ermorden oder eine studentische Aushilfe an einer Tankstelle wegen Nichtigkeiten ins Gesicht schießen. Oder ein Mob versucht den Reichstag zu stürmen.

Es ist wieder vorstellbar geworden

Und eine Realität, von der wir nicht merken, wie unfassbar sie ist.

Man möchte weinen, wenn man sieht, mit welcher Selbstverständlichkeit die Populisten und Hetzer wieder auftreten. Mit welcher Unverhohlenheit Kommentatoren auf Social Media sich wieder trauen „Ich zuerst“ zu schreien.

Erneut kommen sie aus den untersten Schichten der Gesellschaft ans Licht der Aufmerksamkeit gekrochen, sich Wichtigkeit und Individualismus einredend; sich als Patrioten bezeichnend. Angefeuert von gewissenlosen, narzisstischen Protagonisten, die sie instrumentalisieren. Nicht verstehend, dass sie selber erneut die größten Leidtragenden dessen sein würden, was sie selber fordern.

Doch diesmal gehen sie noch weiter. Nun bezeichnen sie, Diktaturen beklatschend, andere als „Kriegstreiber“ und „Nazis“. Und reden sich ein, in Notwehr zu handeln. Obwohl sie in einem der sichersten, friedlichsten, reichsten und freiesten Länder der Welt leben.

In unserer Gesellschaft ist etwas ins Rutschen geraten.

Und wir dürfen nie müde werden, dagegen zu streiten.

Niemals.

„Sie reißen den Mund auf und rufen »Im Namen Deutschlands.«

Sie rufen »Wir lieben Deutschland. Nur wir lieben es.«

Es ist nicht wahr. Wir sind auch noch da.“

- Kurt Tucholsky, 1929 -

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